Entstehungskontext

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Ein Jahr aus der Nacht gesprochen ist das sechste Journal Peter Handkes, aber das erste und einzige, in dem ausschließlich Sätze zu finden sind, die der Autor geträumt hat. In einem Gespräch mit Ulrich Greiner im November 2010 erzählte er: »Irgendwie habe ich innerlich aufgehorcht, ich wurde wach, manchmal mitten in der Nacht, manchmal am frühen Morgen. Ich habe mir die Sätze, die Bilder durch den Kopf gehen lassen und sie dann aufgeschrieben.« 1977 veröffentlichte Peter Handke mit Das Gewicht der Welt erstmals einen Text, den er aus Einträgen seiner Notizbücher zusammengestellt hatte, und untertitelte ihn dementsprechend als Journal. Es folgten Die Geschichte des Bleistifts (1982) und Phantasien der Wiederholung (1983). Nach einer längeren Pause erschienen 1998 mit Am Felsfenster morgens die in seiner Zeit in Salzburg entstandenen Notate und 2005 das Journal Gestern unterwegs, das Notizen aus der Zeit von Handkes Weltreise von November 1987 bis Juli 1990 versammelt.

Werkkontext und Entstehungszeit

Die »Traumsprache [...], eine Form vor der Literatur« (Greiner 2010), hat nachhaltigen Einfluss auf die Poetik Peter Handkes genommen. Sie steht in Zusammenhang mit der Umgangssprache, die in Werken aus dem zeitlichen Umfeld des Traumjournals immer mehr an Gewicht gewinnt. Die Traumsätze, die Handke in diesem Buch versammelt hat, stammen aus der Zeit von Anfang April 2008 bis Ende April 2010 (vgl. Textfassung 1a/1b). Zuvor war im Januar 2008 die Erzählung Die morawische Nacht erschienen, in der traumhafte Sequenzen bereits eine Rolle spielen, ebenso wie in Der Große Fall (2011), an dem Handke im Juli 2010 zu arbeiten begann. Der Monolog Bis daß der Tag euch scheidet oder eine Frage des Lichts entstand in der französischen Erstschrift 2007, während des Entstehungszeitraums der Notate im Jahr aus der Nacht erarbeitete Handke die deutsche Übersetzung. Die Übersetzung von Euripides' Helena (erschienen 2010) im Sommer 2009 wiederum könnte der Grund dafür sein, dass sich in manchen Notaten der ersten Textfassung, die später nicht in den veröffentlichten Text aufgenommen wurden, vom Autor in altgriechischer Sprache und Schrift geträumte und notierte Sätze finden. Viele Notate arbeitete Handke, oft wortgleich, in sein Familien- und Geschichtsdrama Immer noch Sturm (2010) ein, an dem der Autor, wie er in einem Interview sagte, »fünfzehn Jahre herumgeträumt« (Handke / Patterer / Winkler 2012, S. 30) hatte, bevor er es um den Jahreswechsel 2008/09 niederschrieb; zum Beispiel »Die Menschen verschwinden, und die T-Shirts bleichen aus« (EJN 44, IS 159) oder »"Und wie geht's mit uns beiden weiter, Liebe?" – "Gar nicht. Wie von Anfang an, Lieber"« (EJN 93, vgl. IS 86). 

Erste Textfassung und Titel

Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Handke die Traumnotate zuerst in seinen Notizbüchern festgehalten, die der Öffentlichkeit allerdings noch nicht zugänglich sind. Der lange Zeitraum, in dem die Schlafsätze entstanden sind, deutet darauf hin, dass er das Projekt des Traumjournals bereits langfristig geplant hatte; möglicherweise gab die Lektüre von Patrick Modianos L'Horizon (2010) dann mit den Anstoß dafür, die Notate Ende April/Anfang Mai 2010 in einem Bleistiftmanuskript (Textfassung 1a) erstmals zusammenzufassen. Ursprünglich hatte Handke einen Satz aus diesem Roman, den er im Manuskript selbst ins Deutsche übersetzt hat, als Motto für sein Traumbuch vorgesehen: »Jemand hatte ihm im Schlaf einen Satz zugeflüstert: Fernes Auteuil, zauberhaftes Viertel meiner großen Traurigkeiten, und er notierte ihn in sein Heft, im Wissen, daß bestimmte Worte, die man im Traum hört und die einen erstaunen, und die man unbedingt behalten will, beim Erwachen verschwunden sind, oder aber keinerlei Sinn haben« (Textfassung 1a, Bl. I*).

Bei einem Treffen mit dem Verleger Jochen Jung in Paris im Mai 2010 wurde das geplante Buch auf Grundlage einer Kopie des Bleistiftmanuskripts (Textfassung 1b) besprochen. Dabei stand auch der Titel zur Diskussion: Dem Entstehungszeitraum der Notizen entsprechend erwog Handke, sein Buch »ZWEI JAHRE AUS DER NACHT GESPROCHEN« (Textfassung 1b, Bl. I) zu nennen, dies wurde aber zugunsten des griffigeren Titels Ein Jahr aus der Nacht gesprochen verworfen. Vermutlich ist der schließlich gewählte Titel auch der Grund dafür, dass die fallweisen Datierungen der Notate, die sich im Bleistiftmanuskript finden, im veröffentlichten Text nicht enthalten sind. Es ist anzunehmen, dass beim erwähnten Treffen mit Jung auch schon über die grafische Gestaltung gesprochen wurde, da Handke bereits auf dem Titelblatt der Textfassung 1b seine diesbezüglichen Vorstellungen notiert hatte: »1-2-Zeiler: 3 auf 1 Seite [/] 3-4-Zeiler: 2 auf 1 Seite [/] Ab 5-Zeiler: 1 auf 1 Seite« (Textfassung 1b, Bl. I).

Zweite Textfassung

An Jochen Jung schickte Handke im Mai 2010 einen Brief mit drei handschriftlich ergänzten Blättern aus der Kopie, die er vermutlich zur Nachbearbeitung noch bei sich behalten hatte. Im Verlag wurde dann auf Basis der Kopie und der Zusatzblätter von der Mitarbeiterin Regina Rumpold-Kunz eine Computerabschrift erstellt, die ausgedruckt und Handke zugesandt wurde. Er korrigierte den Ausdruck wiederum von Hand (Textfassung 2) und sandte ihn an den Verlag zurück. Aus Handkes Korrekturen wird ersichtlich, dass es ihm wichtig war, den Charakter der Traumsätze nicht zu verändern, denn er hat den Wortlaut der einzelnen Notate nicht nachbearbeitet, sondern Einträge im Ganzen gestrichen und/oder hinzugefügt. Auch die Anführungszeichen, unter die er sämtliche Notate schon in der ersten Textfassung gesetzt hatte, zeigen an, dass Handke sie nicht als von ihm erdichtet verstanden wissen möchte, sondern als Zitate von Sätzen sieht, die er im Traum gehört hat. Dementsprechend beharrte er in einem Fax an Jochen Jung auch darauf, die Gänsefüßchen beizubehalten, die in der Abschrift nicht übernommen worden waren: »Die Anführungszeichen sollen doch bleiben!« (Textfassung 2, Beilage) Die zusätzlichen Einträge, die Handke bei diesem Korrekturgang ergänzte, hat er zuvor in einer Liste (vom 2. Juni 2010) gesammelt. Am 4. Juni schickte er den korrigierten Computerausdruck zurück an den Verlag, wo auf dessen Basis die Druckfahnen erstellt wurden.

Druckfahnen und Veröffentlichung

Handke arbeitete beim Korrigieren der Druckfahnen nicht anders als schon beim Verbessern der zweiten Textfassung, er strich und ersetzte oder ergänzte Notate im Ganzen, überarbeitete aber die Formulierungen nicht. Der Zeitpunkt dieser Korrektur kann dank eines den Fahnen beiliegenden Briefs an Jochen Jung vom 19. Juli 2010 auf Anfang bis Mitte Juli eingegrenzt werden, während Handke »beim Balustradestreichen, dem sommerlichen« war, wie er in dem Brief schreibt. Möglicherweise hat Handke diese letzte Überarbeitung erst abgeschlossen, nachdem er die erste Niederschrift von Der Große Fall (am 12. Juli) bereits begonnen hatte. Mit den Fahnen schickte er außerdem ein Blatt mit weiteren Notaten an den Verleger, die an den Stellen in den Text eingefügt werden sollten, wo das oben beschriebene Satzschema noch nicht erfüllt war. Diese Einträge wurden vom Verlag großteils in den Drucktext eingearbeitet (vgl. Revision der Druckfahnen). Am 18. August 2010 erschien Ein Jahr aus der Nacht gesprochen im Jung und Jung Verlag. (Vanessa Hannesschläger)

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