Entstehungskontext

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Peter Handke schrieb sein dramatisches Gedicht Über die Dörfer eigenen Angaben zufolge in der Zeit zwischen »Herbst 1980 und Winter 1980/81« in Salzburg, wo er seit August 1979 zusammen mit seiner Tochter Amina im Haus des Jugendfreundes Hans Widrich, dem damaligen Pressesprecher der Salzburger Festspiele, lebte. Über die Dörfer ist nach Die Unvernünftigen sterben aus (1973) seine zehnte Bühnenarbeit. Zwischen den beiden Stücken liegt eine sieben Jahre dauernde Schreibpause fürs Theater, in welcher drei Prosawerke und zwei Filme, einige Gedichte, Essays und kleinere Texte sowie sein erstes Journal entstanden, in der er aber vor allem für sein großes Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« recherchierte. Darin sollte der Held vom hohen Norden Amerikas nach Europa und bis zu seinem Geburtsort zurückkehren. Aus dem Schreibprojekt entwickelte sich der zur Tetralogie zusammengefasste Werkkomplex Langsame Heimkehr, der mit dem dramatischen Gedicht Über die Dörfer schließt.

Inhalt

Im Stück kehrt Gregor für eine Erbschaftsangelegenheit aus »Übersee« (ÜDa 11) zurück in sein Heimatdorf. Seine Zustimmung wird verlangt, Haus und Grund der Eltern mit einer Hypothek zu belegen, um seiner Schwester Sophie, Angestellte eines Dorfladens, die eigene Geschäftsgründung und damit Selbstständigkeit zu ermöglichen. Sein Bruder Hans, Arbeiter auf einer Großbaustelle, unterstützt ihren Wunsch. Gregor ist zunächst gegen die Gefährdung des Hauses und somit gegen die Selbstständigkeit der Schwester. Der Konflikt macht ihm jedoch bewusst, dass Haus und Dorf seiner Erinnerung schon lange verloren sind. Nova (als Personifikation der Kunst) zeigt ihm und den anderen, dass es eine Rettung der Dinge im Erzählen gibt.

Die Heimkehr des Helden in den Geburtsort wurde von Handke bereits in Langsame Heimkehr vorbereitet, die folgende Passage zeigt die enge Verflechtung der beiden Werke. Dort heißt es: »Beim Tod der Eltern […] hatten sich die Geschwister zum ersten Mal überhaupt umarmt und waren hernach für die kommenden Jahre voreinander verstummt: zuerst gleichgültig, und mit der Zeit sogar feindselig. Einer hielt den anderen für verloren. Wenn die Geschwister ihm in den Sinn kamen, geschah es in der ruckhaften Vorstellung einer Traueranzeige (und auch sie, so glaubte er zu wissen, erwarteten von ihrem Bruder nur noch die Todesnachricht). In seinen Träumen traten sie freilich fast immer auf, redeten da zuweilen auch miteinander, wie sie es in Wirklichkeit nie getan hatten; lagen meist aber nur als bösartige, nicht zu entfernende Kadaver im Geburtshaus herum. Weil sie nie ausdrücklich Feinde geworden waren, gab es nicht einmal die Möglichkeit, sich zu versöhnen.« (LH 168)

Schauplatzvorbilder

Das Elternhaus, der eigentliche Konfliktort, wird im Stück nie Schauplatz. Stattdessen werden zwei »Bilder« gesetzt – die Baustelle des Bruders mit der Arbeiterbaracke und die Friedhofsmauer am Rande des Heimatdorfs. An diesen beiden »Schwellenorten« wird über Haus und Dorf gesprochen. Die Handlung des Stücks hat einen autobiografischen Hintergrund. Die Vorbilder des Konfliktorts und der beiden Schauplätze sind Handkes Elternhaus (nicht sein Geburtshaus) in der Kärntner Gemeinde Griffen, die Arbeitsstelle von Handkes Bruder beim Autobahnbau und der Friedhof von Stift Griffen mit dem Familiengrab.

Notizen für »Ins tiefe Österreich«

Den Notizbuchaufzeichnungen nach zu schließen, müsste die Entwicklung von Über die Dörfer in der kurzen Zeitspanne von Sommer 1979 bis Sommer 1980 stattgefunden haben, vorher sind keine von Handke dem Stück zugeschriebenen Notizen zu finden. Kleinere, der Thematik des Stücks zuordenbare Einträge findet man zwar bereits in den ersten von Handke journalartig geführten Notizbüchern von 1976, es handelt sich dabei aber um keine systematischen Projektnotizen zum Theaterstück. Zum Beispiel notierte Handke am 5. März 1976: »Meine Schwester will ein Geschäft aufmachen und will Geld dafür: sie redet schon so viel und so schnell wie ein Betrüger« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 002, S. 1). Im Stück erinnern Gregors Vorwürfe gegenüber seiner Schwester Sophie an diese Notiz (ÜDa 64f.). Am 7. September 1976 erwähnte er nach einer Reise durch die Kärntner Orte seiner Heimat sogar erstmals »"Über die Dörfer"« als »(Titel einer Geschichte)« (ÖLA SPH/LW/W12, S. 61), jedoch ohne dabei an das Theaterstück gedacht zu haben. Der verhältnismäßig kurzen Zeit der erkennbaren Konzeption von Über die Dörfer geht, das machen diese beiden exemplarischen Einträge deutlich, eine längere Phase mit Recherchen für das bereits erwähnte Schreibprojekt Ins tiefe Österreich voraus, aus dem das Stück später abgespalten wurde. Dazu zählen auch seine ab 1976 wiederholt unternommenen Reisen in seinen Geburtsort Griffen und in die Dörfer Kärntens bis nach Slowenien; sie sind durch Notizen, Fotos, kleine Skizzen oder Zeichnungen und annotierte Landkarten dokumentiert. Wann genau die Verteilung der Romanhandlung auf mehrere Werke erfolgte, kann nicht gesagt werden, im März 1978 ist jedenfalls in der Korrespondenz zwischen Peter Handke und seinem Verleger Siegfried Unseld schon von einem Schreibprojekt in drei oder vier Bänden die Rede (Handke / Unseld 2012, S. 342).

Konzeption der Tetralogie-Projekte

Unmittelbar nach der Fertigstellung von Langsame Heimkehr im Frühjahr 1979 begann Handke sofort mit der Vorbereitung der Fortsetzungsprojekte Die Lehre der Sainte-Victoire, Kindergeschichte und Über die Dörfer, die in kurzer Zeit nacheinander erscheinen sollten. Zusätzlich zu den Notizen für diese drei Schreibprojekte "recherchierte" er für die erst 1986 erschienene Erzählung Die Wiederholung, die ursprünglich ebenfalls Teil des Ins tiefe Österreich-Komplexes war, von Handke aber ausgekoppelt wurde. In den Notizbüchern stehen die Notizen zu den genannten Schreibprojekten nebeneinander. Sie überschneiden sich oftmals auch inhaltlich, sodass mancher Eintrag mehreren Projekten zugeordnet werden könnte. Eine Notiz vom 26. Dezember 1979 macht diese Überschneidung deutlich, sie enthält Elemente, die auf alle Texte zutreffen: »die Buntheit der Tropfsteinhöhle; ja ich muß mit der Ste Victoire in der Kindheit anfangen (und das farblose Gemälde in der Kirchenkuppel von St. Griffen; der Pflüger) [/] die Geschwister brauchen "mich" (über die Dörfer)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 024, S. 32). Die Tropfsteinhöhlen und der Kindheitsort finden auch in Die Wiederholung und in Kindergeschichte Erwähnung.

Schreibabfolge der Tetralogie-Projekte

Die Reihung der Projekte stand zum Zeitpunkt der Fertigstellung von Langsame Heimkehr noch nicht fest. Am 7. September 1979 besuchte Siegfried Unseld seinen Autor in Salzburg, um ihm das erste Exemplar von Langsame Heimkehr zu übergeben, und notierte zu diesem Treffen in seinem Reisebericht: Handkes »nächsten beiden Projekte seien die Geschichte eines Kindes, eine Art Erziehungsroman, und dann jener Text, den er eigentlich für die "es NF" [edition suhrkamp Neue Folge] schreiben wollte, "Beschwörung". Ein Gedicht und gleichzeitig ein monologisches Drama, aber er konnte noch nicht beginnen und konnte so gar keinen Termin vereinbaren.« (Handke / Unseld 2012, S. 371) »Beschwörung« lautete somit der erste Projekttitel des Stücks, interessant ist dabei der von Handke geplante Erscheinungort in der edition suhrkamp, der das klassische Stück deutlich in einen modernen Kontext gestellt hätte. Ein Monat später, am 2. Oktober 1979, teilte Handke Unseld eine neue Projektreihenfolge mit, diesmal hatten die Projekte schon Titel. Er wolle »bald die "Montagne Ste. Victoire", dann die "Kindergeschichte", dann das "Dramatische Gedicht", dann (nach Jahren?) "Die Wiederholung" in stille, den Weltkäfig erschütternde Sprache verwandeln« (Handke / Unseld 2012, S. 376). Das Stück nannte er nun nach der Gattungs- bzw. Formbezeichnung selbst »Dramatisches Gedicht«. Diese Projektreihenfolge blieb schließlich bestehen: Handke schrieb im April 1980 Die Lehre der Sainte-Victoire, im Juli 1980 Kindergeschichte und ab Oktober 1980 sein dramatisches Gedicht Über die Dörfer

Stückentwicklung in den Notizbüchern

Die veränderte Reihenfolge der Projekte machte sich auch in den Notizbüchern bemerkbar, in denen sich Handke jeweils verstärkt auf das gerade aktuelle Projekt konzentrierte. Die ersten, noch sehr vagen Notizen zum »Dramatischen Gedicht« findet man im Notizbuch von 9. Juli bis 6. November 1979 (in dieser Zeit wurde die Umordnung der Projekte vorgenommen). Das darauf folgende Notizbuch ist besonders. Es enthält Aufzeichnungen aus der Zeit von 7. bis 30. November 1979, danach brechen die fortlaufenden Notizen ab, der nächste Eintrag ist auf den 26. Jänner 1980 datiert, auf den wiederum Notizen aus der Zeit von 27. Juli bis 30. Oktober 1980 folgen. Nach dem ersten Block mit Notizen bis zum 30. November, welcher keine Einträge zum Stück enthält, begann Handke am 1. Dezember 1979 ein neues Notizbuch, welches zwar von ihm mit dem Projekttitel »Dramatisches Gedicht« versehen wurde, aber nur eine einzige projektrelevante Notiz beinhaltet. Er beschäftigte sich darin hauptsächlich mit Die Lehre der Sainte-Victoire und mit der Übersetzung von Walker Percys The Moviegoer. (Ab 1979 begann Handke mit seiner Tätigkeit als Übersetzer: Es erschienen parallel zu den Fortsetzungswerken von Langsame Heimkehr mehrere Übersetzungen von ihm aus dem Amerikanischen, Slowenischen und Französischen.)

Das nächste Notizbuch von 19. Dezember 1979 bis zum 1. März 1980 enthält wieder vereinzelt Einträge zum »Dramatischen Gedicht«. Obwohl darin das Datum des 26. Jänner 1980 ebenfalls verzeichnet ist, fertigte Handke am selben Tag in das am 30. November abgebrochene Notizbuch umfangreiche Aufzeichnungen zu Über die Dörfer an. Er verwendete dafür auch erstmals diesen nunmehr dritten Stücktitel »Über die Dörfer«. Das Notizbuch vom 2. März bis 27. Juli 1980 (mit einem Nachtrag vom 22. Jänner 1981) dokumentiert vor allem die Schreibzeit von Die Lehre der Sainte-Victoire und von Kindergeschichte. Ende April 1980, sozusagen zwischen diesen beiden Werken, besuchte Peter Handke aber seinen Bruder an dessen Arbeitsplatz am Los 30 der Autobahnbaustelle im Kärntner Maltatal, dem Schauplatzvorbild von Über die Dörfer. Die Notizen sind, obwohl er sie dem Stück nicht explizit zugeordnet hat, relevant für die Entstehung des Stücks.

Ende Juli 1980 erwähnte Handke am Rande der Petrarca-Preis-Verleihung in Florenz abermals seine modifizierten Arbeitspläne, die Siegfried Unseld in seinen Gesprächsnotizen festhielt: »Also sein Plan: sorgfältige Niederschrift der "Kindergeschichte", dann sein Wandern in Jugoslawien und Triest, mögliches Treffen Anfang September in Venedig. Und dann wolle er ein Stück schreiben, ja ein großes Drama. Wir bekämen das im Frühjahr.« (Handke / Unseld 2012, S. 414) Die Reise nach Kärnten, Slowenien und Italien verzeichnet wieder das »zusammengestückelte« Notizbuch. Es ist die Hauptquelle zur Stückentstehung und enthält in dem Notizblock von 27. Juli bis 30. Oktober 1980 Aufzeichnungen zur Konstruktion und zum Aufbau des Stücks, zu den Figuren, ihren Reden oder zu den Schauplätzen. Es begleitet auch die ersten drei Wochen der Entstehung der ersten Textfassung.

Erste Textfassung (Oktober/November 1980)

Die erste Textfassung ist ein eng beschriebenes und noch stark korrigiertes Typoskript, das Handke in der Zeit von 8. Oktober bis 28. November 1980 (in 49 Tagen) geschrieben hat. Diese Fassung unterscheidet sich deutlich von den drei folgenden Überarbeitungen, in denen die Figuren wie auch der Konflikt »allgemeiner« gestaltet und zugleich weiter zugespitzt wurden. Auch die gesangsartig-lyrischen Reden sind in der ersten Fassung noch nicht voll ausgeformt. Nach einem ersten Korrekturgang berichtete Handke Unseld am 2. Dezember 1980 von der Fertigstellung seines neuen Stücks. Unseld fasste das Gespräch in einer Notiz zusammen: »Er hat ein Theaterstück ("Über die Dörfer") vollendet und damit den Bereich der "Langsamen Heimkehr" abgeschlossen; es sei der letzte "Sprung" gewesen. Nun sei er erschöpft und wolle, um zu arbeiten, Übersetzungen vornehmen. […]  Zu meiner Überraschung erzählt mir dann Peter Handke vom Theaterstück. Es sei "reines Theater", sein Titel "Über die Dörfer" (er sei so zu verstehen: man fahre nicht über die Autobahn, sondern über die Dörfer aufs Land).« (Handke / Unseld 2012, S. 419) Nach einer Erklärung des Inhalts und der vorkommenden Figuren meinte Handke: »Von der Form her sei für ihn neu, daß es sich hier natürlich um ein Konversationsstück handelt, es werden nicht eigentlich Dialoge gesprochen, sondern die Figuren reden in langen Passagen. Sie reden zu sich oder erzählen den anderen Figuren, aber mehr in einem Erzählstil. Durch die Sprache ziehe sich ein ganz bestimmter Rhythmus. Er hätte lange gedacht, das ganze in Versen von freien Rhythmen zu schreiben, aber das sah ihm dann zu anspruchsvoll aus. Aber wichtig sei dieser Rhythmus, der sich durch das ganze Stück ziehe. Das Stück liefe auf eine Katastrophe zwischen den Geschwistern hinaus. Es geschieht dann eine äußerste Entzweiung, am Ende aber kommt als deus ex machina ein Mensch, und das Stück endet dann mit einer Liebeserklärung an den Menschen.« (Handke / Unseld 2012, S. 420)

Zweite Textfassung (Dezember 1980/Jänner 1981)

Auf der Basis seiner noch stark korrigierten ersten Textfassung fertigte Handke im Dezember 1980 eine zweite Textfassung an, die er als Durchschlag an Unseld schickte. Unseld musste das Typoskript (Textfassung 2a) zu Weihnachten erhalten haben. Am 29. Dezember 1980 flog er nach Salzburg, da Handke mit ihm sprechen wollte. Unseld vermerkte dazu in seinem langen Reisebericht: »Es ist ein Stück ohne Dialoge, ein Stück ohne sogenanntes Dramatisches, die Figuren sprechen lange erzählerische Passagen, in denen freilich eine innere Dramatik deutlich wird; doch ich meine, daß es, rein formal gesehen, ein solches Stück zumindest in der neueren dramatischen Literatur, nicht gab.« (Handke / Unseld 2012, S. 422) Unseld meinte weiters, nachdem er auch einige Stellen aus der Rede von Beatrice zitierte, die Botschaft des Stückes stehe »quer zu all dem, was zeitgenössische Dramatik in dieser Zeit geschaffen hat, und entsprechend wird die Reaktion darauf sein. Man wird ebenso fasziniert sein wie höhnisch-ablehnend. Wir sprechen über einige Details, die mir kritisch aufgefallen sind, kleinere Formulierungen, Regieanweisungen. Im Ganzen ist da nur in einem Punkt etwas zu ändern: das Stück dauert zu lange für eine Aufführung, und er müßte etwas streichen. [...] Er weiß, was sein Stück anrichten wird. Er wird in drei Wochen die definitive, leicht gekürzte Fassung liefern. Wir setzen das Stück in der Typographie der beiden letzten Bücher von Handke [...]. Wir wollen entweder Umbruch-Exemplare abziehen oder eine kleine Auflage drucken, damit wir an etwa 20-30 Regisseure das Buch schicken können. Danach warten wir ab, wie sie reagieren. Im übrigen: es ist sicher, daß das Stück im Sommer 1982 bei den Salzburger Festspielen herauskommen wird.« (Handke / Unseld 2012, S. 422f.)

Dritte Textfassung (Jänner 1981)

Nach einer weiteren Überarbeitung und Kürzung der zweiten Textfassung wurde im Sekretariat von Hans Widrich eine Abschrift angefertigt (Textfassung 3a). Die Vorlage der Abschrift, Handkes korrigierte zweite Textfassung (Textfassung 2b), ist lediglich fragmentarisch mit zwölf Blatt erhalten. Beatrice heißt in dieser neuen Fassung zwar bereits Nova, ihre Rede am Anfang des Stücks ist in der Abschrift aber noch lange und ungekürzt und auch noch nicht in der Form des lyrischen Gesangs. Am 28. Januar 1981 schickte Handke Unseld eine Kopie der Abschrift von Über die Dörfer (Textfassung 3b) und schrieb dazu: »Lieber Siegfried, mit getrennter Post schicke ich Dir "Über die Dörfer", wie es nun geworden ist. Diesem Brief liegt bei eine anspruchslose Zeichnung von Amina, es soll das Signum auf dem Umschlag sein: die Krone (wie bei der "Linkshändigen Frau" das Rind). Als Farbe des Umschlags stelle ich mir ein Lila vor, zart.« (Handke / Unseld 2012, S. 426) In diese Kopie wurden von Handke und seinem Lektor Raimund Fellinger weitere Korrekturen eingetragen. Der Typoskriptkopie liegt am Deutschen Literaturarchiv Marbach eine Notiz von Unseld an Rolf Staudt, den Leiter der Herstellungsabteilung der Verlage Insel und Suhrkamp, vom 9. Februar 1982 bei, die Umschlaggestaltung betreffend: »Anbei das Manuskript von Peter Handke: ÜBER DIE DÖRFER. Es soll gebracht werden in der Art von Frischs "Triptychon". Als Umschlag stellt sich Handke ein "lila" vor, das sehr zart ist. Kann man hier bitte einen Versuch machen? Die Umschlagszeichnung liegt ebenfalls hier an.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Handke Peter)

Korrekturen zur dritten Textfassung (Februar 1981)

Am 6. Februar 1981 meldete sich Handke erneut bei Unseld: »ich schicke Dir die Korrekturen für "Über die Dörfer". Nun ist das Stück wirklich beendet, und ich hoffe, daß es Einen Luftzug hat. Mein Gefühl, nachdem Du mir beim letzten Mal die Liste der "wichtigen Regisseure" verlesen hattest, war, kurz gesagt, ungut. Ich will, daß meine Arbeit vorderhand an niemanden geschickt wird. Das Stück ist wohl ein Festspiel, aber das ganze Gegenstück zu einem Pomp. Der übliche Aufführungszirkus muß vermieden werden, auch so lang es geht, das übliche Gehechel und Geplapper. Ich habe, so denke ich, etwas geschrieben, was kein Repertoirestück ist, aber doch alle paar Jahre irgendwo in der Welt einmal aufgeführt werden kann oder wird, und das auf Menschenzeit. So möchte ich eigentlich nichts davon hören, daß "die Theater schon lang vorausplanen": wenn einem Theatermenschen an der Story und der Form liegt, wird er das Stück eben aufführen, beizeiten. So bitte ich, erst einmal für den Druck zu sorgen (mir liegt ohnedies zuerst an dem "Buch"). Urbach [gemeint war der Theaterwissenschaftler und damalige Burgtheaterdramaturg Reinhard Urbach] werde ich in zwei, drei Wochen eine Kopie schicken; die andern mögen dann das Buch lesen. Und dann können sie sich ja von sich aus zeigen, oder auch nicht.« (Handke / Unseld 2012, S. 429) Dem Brief lag eine zweiseitige Aufstellung von Handke bei mit der Überschrift »Ergänzungen, Streichungen, Korrekturen für "Über die Dörfer"«. Sie enthält auf der ersten Seite den handschriftlichen Vermerk: »übertragen / gw«, das war die Abkürzung für Unselds Sekretärin Gudrun Weidner.

Konflikt mit Siegfried Unseld (Februar 1981)

Schon kurz darauf kam es jedoch zu einem heftigen Konflikt zwischen Handke und Unseld, in dem der Autor mit seinem Austritt aus dem Verlag drohte. Am 25. Februar 1981 schrieb Handke einen Brief an Unseld, der mit den Worten begann: »Lieber Siegfried (immer noch), die Zeit der Lügen muß ein Ende haben. [...]« (Handke / Unseld 2012, S. 431) Es ging darin um Unselds Nähe zu Marcel Reich-Ranicki, die Arbeitsabwicklungen bei Langsame Heimkehr und Die Lehre der Sainte-Victoire, wobei sich Handke von Unseld nicht unterstützt fühlte und »[j]etzt der Skandal mit meinem Stück, das Du unfertig, gegen meinen Willen, in fremde Hände gegeben hast. Und wie elendig durchschaubar wieder einmal sind die Motive des Verlegers. Vielleicht ist ein Schriftsteller in vielem weltfremd – aber die menschliche Seele, für die ist seine manchmal kindliche Empfindlichkeit das große Auge: nachdem ich den Verlag der Autoren aus guten Gründen (es ist eine Bande) verlassen habe, wolltest Du meine Arbeit zu Deiner persönlichen Rache für die damals, bei Gründung des Verlags der Autoren, erlittene, von Dir jedenfalls so empfundene und nie verwundene Niederlage ausnutzen – Handlung und Motiv sind derart, dass es dafür nicht einmal mehr ein Beiwort gibt. […] Unsere Wege trennen sich hiermit unwiderruflich.« (Handke / Unseld 2012, S. 432) In seiner Antwort vom 2. März 1981 versuchte Siegfried Unseld, vom Schreiben Handkes »tief getroffen«, einzulenken und zumindest das Buch noch im Verlag herauszubringen, um die »Einheit« des »poetischen Unternehmens "Langsame Heimkehr"« zu erhalten (Handke / Unseld 2012, S. 433).

Vierte Textfassung (März/April 1981)

Nach dem Konflikt dürfte die Zusammenarbeit mit dem Verlag kurz ins Stocken geraten sein. Raimund Fellinger war seit den Werken Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) und Das Ende des Flanierens (1980) Handkes neuer Lektor. Am 10. März 1981 schrieb Handke an ihn: »Was das Stück betrifft, so habe ich inzwischen doch ein Bedürfnis, mich mit einem literarischen Menschen darüber zu unterhalten. Aber jetzt ist alles blockiert, und ich stümpere immer noch ein bißchen daran herum. In zwei Wochen werde ich Ihnen dazu schreiben können.« (Handke / Unseld 2012, S. 434) Nach einer weiteren Überarbeitung und vor allem Kürzung fertigte das Sekretariat von Hans Widrich eine zweite Abschrift an, in welcher die Korrekturen der ersten Abschrift enthalten sind. Die Rede der Nova am Beginn des Stücks, aber auch andere Teile des Dialogs (vor allem am Anfang) wurden darüber hinaus deutlich gekürzt. Fellinger besuchte Handke zwischen 23. und 25. April 1981 in Salzburg für ein längeres Lektoratsgespräch, in dem sie wohl an der vierten Textfassung gearbeitet haben. Eine Kopie der vierten Textfassung mit weiteren von Fellinger eingetragenen Textergänzungen dürfte bei dieser Lektoratsbesprechung entstanden sein. Diese Textfassung 4b diente auch als Satzvorlage für den Druck. Die Korrekturen und Texteinfügungen für die Textfassung 4b hatte Handke in seinem Notizbuch von 2. April bis 14. September 1981 entworfen.

Druckfahnen (Mai/Juni 1981)

Die Druckfahnen des ersten Laufs entstanden laut der Angabe des »Einlesedatums« am 8. Mai. Die Angabe stimmt mit den ab da vermehrt vorkommenden Korrekturnotizen zum Stück in Handkes Notizbuch überein. Er nahm noch einige Umarbeitungen, Korrekturen und vor allem Textergänzungen vor. Einige hatte er sich zuvor auf einer Nachrichtenkarte eines Pariser Arztes notiert, vielleicht sogar während seines Aufenthalts in Paris. Die Korrekturen und Ergänzungen vermerkte er in seinem Notizbuch von 2. April bis 14. September 1981. Ein wesentlicher Eingriff ist die von Handke nach vielen Überarbeitungen und Kürzungen schließlich völlig neu geschriebene Anfangsrede der Nova, ein lyrisch-gereimter Gesang, den er als ausgeschnittenen Typoskriptteil in die Druckfahnen einklebte. Entstanden ist diese Rede erst während der Korrekturen am 13. Mai. Die Druckfahnen des zweiten Laufs datieren auf Juni 1981 und enthalten nur mehr wenige Korrekturen. Das Stück dürfte demnach Mitte Juni in Druck gegangen sein.

Erstausgabe (August 1981)

Das Buch erschien am 26. August 1981 in englischer Broschur mit einem zart-lila Umschlag, auf dem eine von Amina Handke gezeichnete Krone abgebildet ist. Unseld schickte Handke am selben Tag das erste Exemplar mit den Worten: »Lieber Peter, heute liefern wir "Über die Dörfer" an den Buchhandel aus. Ich hoffe, Dir gefällt die Form des Buches; der Verlag hat sich Mühe gegeben, den Buchkörper so zu realisieren, wie es Deiner Vorstellung entspricht.« (Handke / Unseld 2012, S. 434) Handke zeigte sich erfreut und antwortete Unseld am 31. August: »Ja, "Über die Dörfer" ist ein sehr schönes Buch geworden. Herr Fellinger hat sich sehr gekümmert und eine großartige Arbeit geleistet. Alles stimmt und ist am Platz.« (Handke / Unseld 2012, S. 435)

Uraufführung (August 1982)

Die Uraufführung von Über die Dörfer fand erst ein Jahr später, am 8. August 1982, auf der Freilichtbühne der Felsenreitschule bei den Salzburger Festspielen statt. Es ist Handkes erstes auf einer großen Theaterbühne uraufgeführtes Stück. Inszeniert wurde es auf seinen Wunsch hin von seinem Freund, dem Filmregisseur Wim Wenders, mit dem er zuvor schon mehrfach zusammengearbeitet hatte. Wenders wurde, da es seine erste Arbeit fürs Theater war, von Johannes Klett als Koregisseur unterstützt. Das Bühnenbild der Uraufführung gestaltete der ebenfalls mit Handke befreundete Künstler Jean-Paul Chambas zusammen mit Philippe Boudin. Die Kostüme entwarf die Textilkünstlerin Domenika Kaesdorf, eine weitere Freundin Handkes; ihren Brief über die Arbeit an einem besonderen Mantel zitierte Handke in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) als Bild für sein Erzählen. Die Musik schrieb Jürgen Knieper, der Filmkomponist von Wim Wenders. In den Hautrollen spielten Handkes ehemalige Ehefrau Libgart Schwarz (Nova), Martin Schwab (Gregor), Rüdiger Vogler (Hans) und Elisabeth Schwarz (Sophie), weiters Karin Baal (Verwalterin), Else Quecke (Alte Frau), Ed Stavjanik (Ignaz), Tom Krinzinger (Albin) und Günter Steinacher (das Kind). Zur Vorbereitung der Proben wurde der Text mit Handke besprochen. Das Ensemble unternahm eine Reise nach Kärnten zu den Vorbildern der Schauplätze – zur Autobahnbaustelle und zum Stift Griffen mit dem Friedhof und dem Grab von Handkes Eltern.

Filmprojekt »Langsame Heimkehr«

Wim Wenders arbeitete zugleich an dem Drehbuch für eine Verfilmung von Handkes gesamter Tetralogie Langsame Heimkehr, die allerdings nicht realisiert werden konnte. Das Drehbuch, das zeitgleich zur Inszenierung entstanden ist, umfasste in der ersten Fassung 300 Seiten und endete »mit Szenen aus "Über die Dörfer"«. Es »wäre ein revolutionärer Film geworden«, meinte Wenders in einem Email-Interview, aber er »habe schon im Vorfeld eines Finanzierungsversuchs nichts als Absagen und Abwinken erhalten« (Pektor / Wenders 2012, S. 157).

Handkes Nachbetrachtung

Trotz des Publikumsjubels am Uraufführungsabend fiel die Mehrzahl der Reaktionen negativ aus: Handkes Stück wurde heftig kritisiert und galt als umstrittenstes Ereignis des Festspielsommers. Novas stockende Rede wurde von der Kritik als religiöse Feier eines natürlichen Guten, Wahren und Schönen interpretiert und angegriffen; Novas Stocken wurde in der Uraufführung als schlechtes Schauspiel gesehen. Die letzte Aufführung bei den Salzburger Festspielen fand am 22. August 1982 statt. Handke war Zuschauer und notierte: »Das Blau des Himmels zieht wieder einmal weg nach Süden (letzte Vorstellung ÜdD, 12h30); nein, das Blau kommt zurück (13h30)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 031, S. 7). In seinen Notizbüchern reflektierte er auch nach der Uraufführung weiter über sein Stück. Kurz nach der letzten Vorstellung vermerkte er während seiner Reise durch Frankreich am 27. August 1982 in Chartres: »Es gibt nichts Gewaltigeres als diese so ekstatische wie beherrschte Musik Joh. Seb. Bachs! und ich dachte dabei an ÜdD: ein mit allen Wassern gewaschenes Stück, im besten Sinn« (ebd., S. 11). Am 31. August 1982 schrieb er in sein Notizbuch: »Das Wort "Kunstgriff" hat etwas leicht Verächtliches angenommen; aber für mich ist die Kunst doch auch immer ein Griff, ein Eingreifen; ein Kunstgriff etwa war es in ÜdD, die Sätze der Überlieferung und der großen Literatur (Tao-te-King u. Nietzsche, usw.) als "Sprichwort", als "Volksmund" aus diesem und jenem "Tal" auftreten zu lassen« (ebd., S. 18). Bis zu seinem nächsten Stück, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land, vergingen weitere acht Jahre, die Handke auch mit der Enttäuschung über die Reaktionen auf Über die Dörfer erklärte. (kp)

Siglenverzeichnis