Entstehungskontext

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Peter Handkes Theaterstück Quodlibet wurde am 24. Jänner 1970 in der Komödie Baseler Theater in der Regie von Hans Hollmann uraufgeführt. Es ist das erste Stück Handkes, dessen Aufführungsrechte nicht von Suhrkamp, sondern vom Verlag der Autoren vertreten wurden – einem auf genossenschaftlicher Basis organisierten Theaterverlag, der nach dem sogenannten Lektorenaufstand im Suhrkamp und Insel Verlag Ende 1968/Anfang 1969 von einem Autorenkollektiv (darunter auch Peter Handke) am 1. April 1969 in Frankfurt gegründet worden war (Urban 1989, S. 19ff. und S. 159). Mit der Geschäftsführung betraut wurden der ehemalige Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, Karlheinz Braun, und der Regisseur Wolfgang Wiens. Zum Stück sind (vielleicht infolge der neuen Verlagssituation) kaum Werkmaterialien erhalten, sodass sich die Textgenese nur indirekt, über Briefe und Selbstaussagen erschließen lässt. Quodlibet entstand jedenfalls, wie man der Korrespondenz von Handke mit Karlheinz Braun bzw. Wolfgang Wiens und Siegfried Unseld entnehmen kann, zwischen 1969 und 1970 in Berlin, Basel und Paris.

Erste Hinweise

Im Jänner 1969 zog Handke wegen eines einjährigen Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Berlin. Er lebte dort mit seiner Frau Libgart Schwarz, die an einer Berliner Bühne ein Engagement hatte, in der Meinekestraße 6 (Pichler 2002, S. 89). In diesem Berliner Jahr wurde ihre gemeinsame Tochter Amina geboren. Die Verlagskorrespondenz zeigt 1969 als ein intensives Arbeitsjahr des Autors, in dem er mehrere Schreibprojekte entwickelte und realisierte. Im Jänner wurde sein stummes Stück Das Mündel will Vormund sein in Frankfurt uraufgeführt. Anfang März erschien sein Gedichtband Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt und Ende April der sogenannte Handke-Reader Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze – beide Bücher hatte Handke noch mit dem Ende 1968 aus dem Suhrkamp Verlag ausgetretenen Lektor Urs Widmer fertiggestellt. Von März bis Mai schrieb er an seiner Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, zu der er bereits im Sommer 1968 Studien gemacht hatte und an der er später mit seinem neuen Lektor Thomas Beckermann arbeitete. Mitte Mai besuchte ihn Unseld in Berlin und notierte in seinem Reisebericht, dass Handke nach der Fertigstellung des Tormanns eine kurze Pause machen werde und dann ein »Stück« und ein »Fernsehspiel« schreiben möchte (Handke / Unseld 2012, S. 124). Es ist unklar, ob Handke mit dem »Stück« tatsächlich Quodlibet meinte, oder ob er bereits an das große Stück Der Ritt über den Bodensee dachte. Später, in seinen Bemerkungen zum Ritt, bezeichnete Handke Quodlibet und Das Mündel will Vormund sein als Etüden, Vorarbeiten (siehe Kastberger / Pektor 2012, S. 111).

Erste Textfassung

Die erste Textfassung von Quodlibet entstand demnach vermutlich in der Zeit zwischen Juni und September 1969. Das Typoskript sandte Handke jedenfalls am 25. September 1969 an Karlheinz Braun und Wolfgang Wiens nach Frankfurt mit dem Kommentar: es »ist halt leider recht kurz, auch gespielt wirds wohl nicht länger als 20/25 min. haben, aber vielleicht ist es erst einmal ein allgemeiner kleiner Anreiz. Macht Kopien bitte nur für die, die sich wirklich dafür interessieren, und schickt niemandem was unverlangt zu. Vielleicht kann man es mit andern kurzen Stücken des "Verlags der A." aufführen? […] Die Ankündigung von dem Stückchen wird naturgemäß klein sein müssen, das ist nur recht so; am besten Ihr sagt, es sei neben der Arbeit an dem geplanten großen Stück "Der Ritt über den Bodensee" entstanden, das besänftigt.« (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz) Wolfgang Wiens bestätigte den Erhalt am 30. September und sandte mit dem Antwortschreiben bereits einen Stückvertrag und das Bühnenmanuskript an Handke, der das allerdings in Anbetracht des geringen Textumfangs des Stücks am 3. Oktober »grotesk« fand (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz).

Am 17. Oktober 1969 informierte Handke nun auch Unseld über sein neues »sehr kurzes Stück, "Quodlibet"«, das er »dem "Verlag der Autoren" gegeben« hatte (Handke / Unseld 2012, S. 143). Unseld wiederholte deshalb am 22. Oktober schriftlich die bei der Gründung des Verlags der Autoren getroffene Abmachung: »Wir sind doch so verblieben, daß die Theaterrechte (einschließlich Rundfunk, Fernsehen und Film) an den Verlag der Autoren gehen. Alle anderen Publikationsrechte (auch Abdruckrechte jeder Art, Vorabdrucksrechte usw.) verbleiben beim Suhrkamp Verlag. Ich glaube, das ist eine klare Linie, wo wir nicht in Kollision geraten. Ich möchte Dich bitten, mir das zu bestätigen, und bitte schicke mir auch eine Kopie von "Quodlibet" zu.« In einem Nachtrag fragte er Handke noch: »Sollen wir "Quodlibet" ins "Spectaculum" nehmen?« (Handke / Unseld 2012, S. 145) Handke übermittelte Unseld das Stück umgehend, zeigte sich aber aufgrund der Kürze des Stücks skeptisch über den Abdruck im Spectaculum (Handke / Unseld 2012, S. 145). Wie umfangreich diese erste Textfassung war, kann nicht gesagt werden, vermutlich entspricht sie der Fassung, die Handke Otto Breicha für den Abdruck in der Literaturzeitschrift protokolle zukommen ließ. Es handelte sich dabei um ein vierseitiges Typoskript. Der Text wurde im ersten Heft von 1970 abgedruckt und dort dezidiert als »1. Fassung« bezeichnet (Handke 1970a, S. 114). Genau genommen dürfte es sich bei dieser ersten Textfassung aber um die zweite, ins Reine geschriebene Fassung handeln, denn seinem üblichen Arbeitsverfahren gemäß sammelte Handke für ein Schreibprojekt zuerst Notizen, fertigte eine erste, einzeilig getippte und datierte Fassung an, die er dann zu einer eineinhalb- oder zweizeiligen Typoskriptfassung oder Reinschrift überarbeitete. Erst diese Reinschrift schickte er an den Verlag. Der in den protokollen abgedruckte Stücktext dokumentiert demnach die erste überlieferte Fassung des Textes.

Konzeption des Stücks

Das Stück ist sehr offen konzipiert. Es besteht in erster Linie aus Regieanweisungen, enthält keine fertigen Dialoge, sondern gibt durch Stichwörter nur Dialogmöglichkeiten vor. Den Schauspielern steht frei was sie reden wollen, sie sollen es jedoch so sprechen, dass die Zuschauer nur einzelne Wörter oder Satzteile verstehen (S2 42). »Es handelt sich dabei um Wörter und Sätze, die im Theater als Signale wirken: Ausdrücke der Politik; der Sexualität; der Analsphäre; der Gewalt. Freilich handelt es sich nur um ähnliche Ausdrücke, nicht die richtigen«. So soll etwa statt vom »vergasen« vom »Vergaser« oder statt von »Auschwitz« vom »Aus-Schwitzen« gesprochen werden (S2 43). Handke arbeitete an dem Text, an den Regieanweisungen und Stichwörtern bis zur Uraufführung weiter, sodass aus einem ursprünglich kurzen Stück sukzessive ein langes, wenn auch nicht abendfüllendes wurde.

Zweite Textfassung

Nach der Beendigung der ersten Textfassung von Quodlibet begann Handke im Oktober 1969 mit der Arbeit an seinem Fernsehspiel Die Chronik der laufenden Ereignisse. Zugleich befand sich Die Angst des Tormanns beim Elfmeter in der Fahnenkorrektur. Weiters schrieb er bis Ende November das kurze Hörspiel Geräusch eines Geräusches (Handke / Unseld 2012, S. 153) und erweiterte die erste Fassung von Quodlibet. Am 25. November 1969 gab Handke dem Verlag der Autoren bekannt, er habe »das Quodlibet noch einmal durchgearbeitet, es [sei] noch einmal so lang geworden, wenn auch wohl nicht der Aufführungsdauer nach, [er] habe es nur ein bißchen strenger gemacht«. Diese zweite Textfassung musste demnach einen Umfang von ungefähr acht Blatt gehabt haben, sie ist in keinem öffentlichen Archiv erhalten. Aus der Antwort von Wolfgang Wiens vom 27. November geht hervor, dass sich in der Zwischenzeit Hans Hollmann die Uraufführung am Theater Basel gesichert hatte (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz). Am 1. Dezember 1969 bot Handke Unseld diese zweite, erweiterte Fassung von Quodlibet für den Abdruck im Spectaculum an (Handke / Unseld 2012, S. 152ff., 156).

Dritte Textfassung

Nach Ende des Stipendiums übersiedelte Handke Anfang Jänner 1970 in das 9. Arrondissement von Paris, 1-Cité-Chaptal; Frau und Tochter kamen im März nach. Am 9. Jänner, einen Tag vor seiner Abreise, dankte er Unseld für den Erhalt des Leseexemplars vom Tormann und kündigte ihm die Zusendung des fertigen Nachworts zur Neuausgabe von Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald an (Handke / Unseld 2012, S. 158). Das Buch erschien 1970 in der Bibliothek Suhrkamp, das Nachwort wurde unter dem Titel Totenstille beim Heurigen auch im Sammelband Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (IBE 217-225) abgedruckt. In dem Brief teilte er Unseld auch mit, dass er über Basel nach Paris fahren werde, um sich dort die Proben zu Quodlibet anzusehen, »das inzwischen wieder 2 Seiten zugenommen hat« (Handke / Unseld 2012, S. 159). Es handelt sich somit um eine dritte Textfassung, die nun geschätzte zehn Typoskriptseiten umfassen musste.

Vierte Textfassung und Vorbemerkung zum Stück

Die offene Konzeption des Stücks verlangt vom Regisseur und von den Schauspielern ein großes Maß an Inprovisation, was bei der Inszenierung Schwierigkeiten verursacht haben dürfte. Handke präzisierte das Stück bzw. seine Vorschläge für ein Stück wohl deshalb noch während der Proben in Basel. Ob er auch noch nach seiner Ankunft in Paris am 13. Jänner 1970 weiter am Text gearbeitet hat, bleibt ungewiss. Am 3. Februar 1970, also zehn Tage nach der Uraufführung, fragte ihn Karlheinz Braun jedenfalls neben Organisatorischem: »Was macht das QUODLIBET? Wir warten mit der Vervielfältigung auf den letzten Text.« (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz) Um welche Modifikationen es sich in der vierten Textfassung handelt, geht aus den Briefen nicht hervor. Handke antwortete Braun am 8. Februar: »Am "Quodlibet" kann ich nichts mehr ändern, finde im Grund auch nichts zum Ändern. Wenn jemand es spielen will, werde ich eine Vorbemerkung schreiben, wie es ausschauen soll, obwohl ja eigentlich wirklich alles klar sein müßte, wenn man es liest.« (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz) Drei Tage später, am 11. Februar 1970, bestätigte Braun nun die Herstellung der Textbücher mit der Bitte um Zusendung der Vorbemerkung, die er auch im Textbuch abdrucken wollte (Frankfurter Universitätsarchiv, Bestand: Verlag der Autoren, Verlagskorrespondenz). Aus einem Brief an Unseld vom 6. März 1970 geht hervor, dass es sich bei dieser vierten und letzten Fassung um ein Typoskript mit 13 Blatt Umfang und um eine zweiseitige Nachbemerkung handelte (Handke / Unseld 2012, S. 167).

Veröffentlichungen

Gedruckt erschien Quodlibet schließlich in dieser letzten Fassung zuerst im Programmheft der Uraufführung an der Komödie Basler Theater, dann im Märzheft von Theater heute 3/1970 (Handke 1970b) – die Nachbemerkung zu "Quodlibet" kam ein Monat später im Aprilheft Theater heute 4/1970 heraus (Handke / Unseld 2012, S. 164). Beides wurde 1970 auch im Spectaculum 13, der Theaterreihe des Suhrkamp Verlags, veröffentlicht (Handke 1970c, 1970d). Später wurde Quodlibet mit den Bemerkungen zur Aufführung auch im Sammelband Stücke 2, S. 39-54, abgedruckt. (kp)

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