Entstehungskontext

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Die Entstehungsgeschichte von Peter Handkes Theaterstück Kaspar lässt sich vor allem aus der Korrespondenz und aus Selbstaussagen des Autors in Interviews erschließen. Die erhaltenen Werkmaterialien alleine lassen eine Rekonstruktion der Textgenese nicht zu. Konzipiert und geschrieben wurde Kaspar in der Zeit von Herbst 1966 bis Juli 1967. Eine erste schriftliche Erwähnung des Stücks (allerdings noch ohne Titel) findet sich in einem Brief von Peter Handke an seinen Verleger Siegfried Unseld vom 30. Oktober 1966. Darin berichtet er unter anderem von seinen Schreibplänen nach Abschluss der Überarbeitung seines Romans Der Hausierer: »Sonst: Gedanken über ein neues Stück, danach über einen Roman, aber das hat jetzt wohl Zeit, man muß sich inzwischen wieder über einiges klar werden, im Augenblick bin ich recht leer.« (Handke / Unseld 2012, S. 47)

Zu Kaspar inspiriert habe ihn Anselm von Feuerbachs Geschichte von Kaspar Hauser, die ihm damals in Düsseldorf bei einer privaten Schauspielergesellschaft in die Hände gefallen sei, erinnert sich Handke im Frühjahr 2012 (also fünfundvierzig Jahre später) in einem Gespräch mit Thomas Oberender (Oberender 2012, S. 14). Handke war im Sommer 1966 (Juli oder August) mit seiner Frau, der Schauspielerin Libgart Schwarz, nach Düsseldorf übersiedelt – diese »Gesellschaft« musste demnach bereits in den ersten Monaten in Düsseldorf, in der Zeit zwischen August und Oktober 1966, stattgefunden haben. Seine Affinität zum Kaspar-Hauser-Stoff erklärt sich Handke im Nachhinein damit, dass ihm Kaspar als »mythische Figur, nicht nur interessant schlechthin, sondern als ein Modell von Menschen [erschien], die nicht zurechtkommen mit sich selber und der Umwelt, die sich isoliert fühlen. Er hat mich sehr fasziniert von Anfang an.« (Josef 1969, S. 35) Bereits Anfang Februar 1967 berichtete Handke seinem »Mentor«, dem Grazer Rundfunkredakteur Alfred Holzinger, von Vorarbeiten zu einem neuen Stück (Pichler 2002, S. 85). Noch während dieser Vorarbeiten las er in Wien, anstatt aus seinem Kaspar vorzutragen, Teile der Dokumentation über Kaspar Hauser von Anselm Feuerbach aus dem Quellenbuch von Hermann Pies. Hilde Spiel zeigte sich in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. März 1967 mit dem Titel Publikumsdüpierung über das Plagiat verärgert.

Am 30. Juni 1967 – knappe drei Monate nach der Lesung – schickte er Alfred Holzinger die Nachricht: »Seit gestern bin ich mit dem "Kaspar" fertig.« (Pichler 2002, S. 85) Am selben Tag kündigte er auch Unseld in einem Schreiben an: »Das Stück ist jetzt wohl im großen und ganzen fertig, ich werde es aber dem geschätzten Suhrkamp Verlag erst nach dem Urlaub des Herrn Braun schicken.« (Handke / Unseld 2012, S. 76) Die Verlagskorrespondenz zeigt, dass Handke im Juli noch immer mit seinem Roman Der Hausierer (mit der Fahnenkorrektur, dem Klappentext und der Buchumschlaggestaltung) beschäftigt war und zudem nebenbei ein kleines Sprechstück für Oberhausen mit dem Titel Hilferufe schrieb. An Kaspar dürfte er ebenfalls weitergearbeitet haben, denn am 18. Juli 1967 teilte Handke schließlich auch seinem Freund Alfred Kolleritsch mit, er habe »ein stück fertig, lang, aber nicht sehr lang, wie ein film. hoffentlich wirds ein reißer, der roman, der im herbst kommt, wenigstens broschiert, wirds ja sicher nicht«. (Handke / Kolleritsch 2008, S. 17) Noch bevor Handke das Stück an den Verlag geschickt hatte, berichtete der Theaterkritiker Ernst Wendt unter dem Titel Der Behringer der Beat-Generation in der August-Ausgabe von Theater heute 1967 »[ü]ber Peter Handke und sein neues Stück«. Dazu erschien auch der Stückanfang mit Kaspars Auftritt und seinem ersten Satz unter dem Titel ich möcht einmal ein solcher werden, wie einmal ein andrer gewesen ist. Der Titel erklärt sich damit, dass Handke zu diesem Zeitpunkt, wie Wendt angibt, noch keinen festen Titel gefunden hatte; er nannte das Stück noch provisorisch »sprechen« (Wendt 1967, S. 8).

Erst am 4. September 1967 sandte Handke die letzte Textfassung, die nun auch den Titel Kaspar trug, an Karlheinz Braun und bemerkte dazu in einem Begleitbrief: »Ich habe gerade sogar noch eine kurze Vorbemerkung geschrieben. Der Druck wird vielleicht schwierig werden. Aber wenn man es so ähnlich wie ein Filmdrehbuch macht – vielleicht wäre ein Textbuch im Längsformat auch besser. Laß mich auf jeden Fall wissen, was Du damit machen willst, halt den Text möglichst geheim. Einen Durchschlag einer unkorrigierten Ausgabe (!) habe ich im August Ernst Wendt gegeben. Er und Büch [der Regisseur des Theaters Oberhausen Günther Büch] sind die einzigen, die das Manuskript gelesen haben. […] |Das Stück kann in der normalen Orthographie gesetzt werden. |« (Handke / Unseld 2012, S. 76, Anm. 1) Am 20. September 1967 schickte Handke Braun dann »[…] noch einen Einschub für das Stück. Es gehört an die Stelle, wo dem Kaspar das Sprechen ausgetrieben wird, am Anfang, und er schließt an die Sequenz an, wo sich ihm die Wörter verballhornen, wo er statt möchte gewöchten sagt, statt ich ösch oder so ähnlich. Im bisherigen Text ist ihm am Ende dieser Verballhornung seines ursprünglichen Satzes das Sprechen vorderhand ausgebläut. Nun wird aber noch der beiliegende Buchstabensprechversuch Kaspars eingeschoben, von den länger sprechbaren Buchstaben bis zu den Buchstaben, die nur ein zehntelsekundenlanges Sprechen ermöglichen. Bitte, laß es auf jeden Fall einfügen, auch wenn du Einlegeblätter machen mußt. […]« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag) Am 27. September 1967 hatte Braun das Stück fertig gelesen, gratulierte Handke und fragte, ob er zur Messe komme, denn es gäbe »noch eine ganze Menge mehr technischer Probleme, die wir besprechen müßten: Vorstellungen, die, was die Realisierung eines solchen Stückes angeht, wohl vom Theater kaum zu erfüllen sind. Auch gibt es noch eine Menge typografischer Probleme.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag) Gleich am nächsten Tag, am 28. September, verkündete er ihm: »Lieber Peter, Du bist Favorit bei der diesjährigen Verleihung des Gerhart-Hauptmann-Preises […], nur möchte die Jury noch gern den "Kaspar" lesen, und zwar sollte dieses bis zum 5. Oktober geschehen. Sollen wir eine Fotokopie des Manuskripts machen (die natürlich nicht die roten und schwarzen Farben wiedergibt) oder sollen wir sagen, daß eine vorherige Einsicht in das Manuskript noch nicht möglich ist. Was meinst Du?« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag) Den Gerhart-Hauptmann-Preis der Freien Volksbühne Berlin erhielt Handke am 3. Dezember 1967. Seine Preisrede Bemerkungen zu einem Gerichtsurteil über den Freispruch des wegen fahrlässiger Tötung am Studenten Benno Ohnesorg angeklagten Polizeibeamten Kurras erschien am 8. Dezember 1967 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (wiederabgedruckt in: IBE, S. 161-162). Sie sorgte erneut für Aufregung und brachte Handke im Vorfeld der Kaspar-Aufführung, die von Studentenprotesten begleitet war, große Aufmerksamkeit.

Die Erstausgabe von Kaspar erschien am 1. April 1968 in broschierter Form mit einer Collage von Wim Wenders am Buchumschlag. Die Uraufführung des Stücks fand am 11. Mai 1968 in zwei Theaterhäusern gleichzeitig statt: im Theater am Turm (Regie: Claus Peymann) und im Theater Oberhausen (Regie: Günther Büch). Für die Aufführung verfasste Handke den Text »Kaspars sechzehn Phasen«, der im Programmheft (Oberhausen) und auf der Schallplatte mit Pausentexten (TAT) abgedruckt wurde (wiederabgedruckt in: S1, 207ff.). (kp)

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