Entstehungskontext

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Vorgeschichte

Nachdem Peter Handke im Rahmen von Langsame Heimkehr eine schwierige Schreibkrise durchgemacht hatte, wandte er sich dem Übersetzen zu. Die erste fremdsprachliche Bearbeitung begann er im März 1979 mit Walker Percys The Moviegoer (Der Kinogeher). Im Sommer desselben Jahres übersiedelte er gemeinsam mit seiner Tochter Amina nach Salzburg, wo er in ein Haus aum Mönchsberg zog. Dieses Haus gehörte seinem Freund Hans Widrich, den er seit Jugendjahren kannte – sie hatten sich im bischöflichen Knabenseminar Marianum Tanzenberg kennengelernt. Im Frühherbst 1979 erzählte Peter Handke Widrich in einem Gespräch, dass er gerne wieder Slowenisch lernen würde – ihm war die Sprache aus seiner Kindheit vertraut, da seine Kärntner Großeltern mütterlicherseits zuhause Slowenisch gesprochen hatten. Widrich, der ebenfalls aus Kärnten stammt und die Sprache mit seiner Familie gesprochen hatte, nahm daraufhin Kontakt zu seinem kärntnerslowenischen katholischen Netzwerk auf und bat um Vermittlung einer Person, die Handke in Salzburg in Slowenisch unterrichten könnte. Daraufhin stellte sich Helga Mračnikar bei Peter Handke vor.

Mračnikar hatte in Salzburg studiert und arbeitete dort zu diesem Zeitpunkt als Lehrerin einer »bunten Klasse«, in der Kinder mit verschiedenen Muttersprachen gemeinsam lernten. Es war ihre Idee, Handke nicht nach Lehrbuch zu unterrichten, sondern stattdessen gemeinsam mit ihm Zmote dijaka Tjaža von Florjan Lipuš zu lesen und ihm die Sprache entlang dieses Romans beizubringen. Handke war sofort einverstanden und wandte sich bereits bald darauf an Wolfgang Schaffler, den damaligen Leiter des Residenz Verlages, dem er die Publikation des Ergebnisses dieser Arbeit vorschlug. Schaffler stimmte zu – er war zu dieser Zeit bemüht, im Verlagsprogramm eine gewisse Öffnung zu erreichen.

Vorlage

Der Zögling Tjaž erzählt die Geschichte eines kleinwüchsigen Internatsschülers, der mit seinem katholischen Umfeld zu kämpfen hat und schlussendlich an ihm scheitert. Florjan Lipuš, der Autor des Romans, ist Kärntner Slowene besuchte wie Peter Handke und Hans Widrich das Gymnasium in Tanzenberg. Lipuš ist allerdings fünf Jahre älter als Handke, sie kannten einander daher nur flüchtig und standen zur Zeit, als Handke die Übersetzung begann, nicht in Kontakt. Zmote dijaka Tjaža erschien im slowenischen Original erstmals 1972 in Maribor im Verlag Obzorja (die Erstausgabe war auch Handkes Übersetzungsvorlage) und 1976 in Ljubljana bei Mladinska knjiga. In Slowenien verhalf der Roman Lipuš zum Durchbruch, er erhielt in den 1970er Jahren dort mehrere Preise. In Österreich hingegen war er noch Ende der 1970er Jahre kaum bekannt.

Übersetzung des ersten Kapitels

Handke und Mračnikar begannen im Herbst 1979 mit dem Unterricht und der Übersetzungsarbeit. Wie genau sich die Zusammenarbeit gestaltete, ist nicht eindeutig rekonstruierbar, da die Forschung bislang zum Großteil der textgenetischen Materialien keinen Zugang hat. Es steht jedoch fest, dass ein von Handke geschriebenes Manuskript die erste Textfassung der Übersetzung bildet; es ist daher möglich, dass er im Zuge der Unterrichtseinheiten gemeinsam mit Mračnikar eine Rohübersetzung erarbeitete, die er dann allein ausformulierte. Das suggeriert auch eine Anmerkung, die Lipuš Handke gegenüber in einem Brief machte: »Glaube, daß es eine gute Übersetzung ist, wobei mir klar ist, daß Handke auch sich selbst hineinübersetzt.« (4.7.1980, ÖLA SPH/LW/S204) In jedem Fall legte Handke entlang des Texts von Zmote dijaka Tjaža Vokabelhefte an, wobei er die Daten der ersten Lernstunden noch nicht festhielt. Der Unterricht begann vermutlich im September oder Oktober 1979, denn am 8. November erhielt Handke einen Brief von einem Mitarbeiter des slovenskega informacijskega centra/Slowenischen Informationszentrums in Kärnten, der schrieb: »Von Helga hörte ich, wie gut Sie schon Slowenisch sprechen« (ÖLA SPH/LW/S201). Ab 19. November 1979 datierte Handke die Vokabelhefteinträge. Die Slowenischstunden fanden diesen Daten nach über den gesamten Zeitraum der Zusammenarbeit durchschnittlich alle drei bis vier Tage statt, wobei es fallweise Unterbrechungen gab, etwa weil Handke verreiste.

Am 26. November 1979 setzte eine längere Pause ein, während der Handke für einige Tage nach Frankreich fuhr, wo er unter anderem Notizen für Die Lehre des Sainte-Victoire machte. Er arbeitete aller Wahrscheinlichkeit nach während dieser Unterbrechung auch am Typoskript von Der Kinogeher, dass er im Jänner 1980 an den Suhrkamp Verlag übermittelte. Erst am 10. Jänner wurde die Arbeit mit Mračnikar fortgesetzt. Deshalb dauerte die Übersetzung des ersten Kapitels von Der Zögling Tjaž relativ lange; erst Ende Februar 1980 konnte das zweite Kapitel begonnen werden. Nachdem das erste Kapitel abgeschlossen war, schrieb es Handke auf der Schreibmaschine ins Reine und übermittelte es an seinen Freund Alfred Kolleritsch, der es in seiner Zeitschrift manuskripte (Heft 68/1980) veröffentlichte, während Handke an der Übersetzung für die Buchpublikation weiterarbeitete.

Fortsetzung der Übersetzung und parallele Projekte

Vermutlich im März 1980 schrieb Handke erstmals an Lipuš und berichtete ihm von seiner Übersetzungsarbeit, worauf Lipuš sehr erfreut reagierte. Er zeigte sich dankbar dafür, dass sein Roman ins Deutsche verbracht werden sollte, »insbesondere aber fühle ich mich dadurch geehrt, daß du selbst dir diese Arbeit aufgebürdet hast« (ÖLA SPH/LW/S204). Ab dem zweiten Kapitel, an dem Handke gut zwei Monate arbeitete und das Anfang April 1980 fertig übersetzt war, ging die Arbeit zunehmend zügiger voran. Handke verfolgte parallel zum Übersetzen auch selbstständige Projekte: Ab März schrieb er an der Lehre der Sainte-Victoire und ab Juni an der Kindergeschichte. Zusätzlich dazu bereitete er in diesem Frühjahr die Herausgabe seines Sammelbandes Das Ende des Flanierens vor. Im Mai waren die finalen Korrekturen und die »Anmerkung« zum Kinogeher abgeschlossen; im selben Monat stellte Handke das dritte Kapitel von Der Zögling Tjaž fertig. In der Folge erarbeitete er monatlich ein Kapitel, dieser Durchschnitt konnte auch im Sommer gehalten werden, obwohl es mehrere reisebedingte Unterbrechungen gab, zum Beispiel weil Handke längere Zeit in Kärnten und im slowenischen Karst verbrachte (12. August bis 9. September 1980, vgl. ÖLA SPH/LW/W93). Ende Oktober gingen Handke und Mračnikar mit dem Residenz Verlag einen formalen Vertrag über die Abgabe des Manuskripts Mitte November ein (ÖLA SPH/LW/S205). Im Lauf dieses Monats waren das achte, neunte und zehnte Kapitel übersetzt worden. Handke konnte die Arbeit mit dem letzten Vokabelhefteintrag am 3. November 1980 abschließen. Das Übersetzen von Der Zögling Tjaž dauerte somit in etwa ein Jahr.

Werkkontext

Peter Handke arbeitete parallel zur Übersetzung nicht nur an der Niederschrift zahlreicher eigener Projekte, sondern auch an Vorbereitungungen zu weiteren Schreibvorhaben, die er erst viel später realisierte. Der wichtigste Bezug besteht zweifellos zur Wiederholung, die Handke um den Jahreswechsel 1985/86 niederschrieb – erste Notizen für dieses Werk lassen sich aber bereits in Notizbüchern aus dem Frühjahr 1979 nachweisen. Seine zu dieser Zeit verstärkt einsetzende Beschäftigung mit Slowenien und seiner kärntnerslowenischen Herkunft, die er in der Wiederholung dann verhandelte, war wohl mit Auslöser seines Wunsches, die »Haus- und Kirchensprache der Großeltern« (FL/DZT 246) neu zu lernen. Auch in Über die Dörfer, dem »dramatischen Gedicht« von einer Kärntner Familiengeschichte, die seiner eigenen eng verwandt ist, setzte Handke die slowenische Sprache ein – die Niederschrift der ersten Textfassung dieser Theaterarbeit fällt in den Zeitraum des Abschlusses der Arbeit an Der Zögling Tjaž. Die Beschäftigung mit seiner Herkunft und spätestens ab dieser Übersetzungsarbeit auch seiner Herkunftssprache ist eine Grundkonstante in Handkes Schreiben, die sich in den 1990er Jahren immer mehr mit dem Thema Jugoslawien (Abschied des Träumers vom Neunten Land, 1991) verbindet und auch in jüngeren Arbeiten den Gegenstand seiner Arbeiten bildet (Immer noch Sturm, 2010).

Publikation und Präsentation

Ende Dezember dankte Florjan Lipuš in einem Brief Helga Mračnikar und Peter Handke, »ki veliko stori za uveljavitev naše skromne literature na svetu« (ÖLA SPH/HW/S204), zu Deutsch: »der viel für die Durchsetzung unserer bescheidenen Literatur in der Welt tut«. Im März 1981 erschien mit Der Zögling Tjaž im Residenz Verlag zum ersten Mal überhaupt Literatur in Übersetzung. Das Buch wurde öffentlichkeitswirksam präsentiert: Am 31. März 1981 fand im Museum des 20. Jahrhunderts in Wien eine von Handke und Lipuš gemeinsam vorgetragene Lesung in beiden Sprachen statt, bei der der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky anwesend war. Die politische Bedeutung der Teilnahme eines hohen Staatsrepräsentanten an der Vorstellung einer Arbeit eines Angehörigen der slowenischen Volksgruppe war im Österreich der 1980er Jahre immens. Weitere Buchpräsentationen mit Autor und Übersetzer erfolgten in Klagenfurt, Stuttgart und München. Den Erfolg der deutschen Übersetzung von Zmote dijaka Tjaža aufgreifend erschien das Buch noch im selben Jahr 1981 erstmals in einem österreichischen Verlag (Drava) auf Slowenisch.

Handke setzte sich auch auf internationaler Ebene stark dafür ein, im Rahmen der Romanveröffentlichung Lipuš, aber auch der österreichischen slowenischsprachigen Volksgruppe insgesamt öffentliche Wahrnehmung zu verschaffen. Er initiierte etwa den Abdruck eines Kurztexts von Lipuš (Anleitung zum Schreien/Le cri) in Le Monde vom 18. Jänner 1981. Handke hatte den Text parallel zur Arbeit am Roman auf deutsch übersetzt (Veröffentlichung am 13. Oktober 1980 im österreichischen Magazin Profil​), Jaques Le Rider verbrachte ihn auf dieser Basis für die Zeitungsveröffentlichung ins Französische. Franz Kattnig, Mitarbeiter der kärntnerslowenischen Zeitung naš tednik, druckte daraufhin einen Artikel über diese französische Publikation eines Kärntnerslowenischen Autors und bedankte sich in einem Brief bei Handke für seinen Einsatz für die Volksgruppe: »Wir alleine haben doch wirklich überhaupt keine wie auch immer geartete Chance, soweit [sic] in die Welt vorzudringen.« (ÖLA SPH/LW/S203) Auch einen Vorabdruck des Romans in der Neuen Zürcher Zeitung leitete Handke in die Wege: Dort erschienen am 6. März 1981 neben einem Auszug »Aus dem Kapitel vom "Geh hinter mir her"« auch sechs von Handke ins Deutsche übersetzte Gedichte des ebenfalls kärntnerslowenischen Dichters Gustav Januš. (Vanessa Hannesschläger)

Siglenverzeichnis