Entstehungskontext

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Peter Handkes dritter Prosatext Die Angst des Tormanns beim Elfmeter erschien im Februar 1970. Verglichen mit den Romanen Die Hornissen (1966) und Der Hausierer (1967) war das Buch kommerziell überaus erfolgreich: Mit einer Erstauflage von 25.000 Exemplaren erreichte der Tormann im Mai 1970 Platz neun der Spiegel-Bestsellerliste (Handke / Unseld 2012, S. 171-172). Im August 1970 druckte der Suhrkamp Verlag eine weitere Auflage mit 6.000 Stück und bis Jänner 1971 insgesamt weitere 24.000. Die Taschenbuchausgabe setzte den Erfolg ab 1972 weiter fort (Nägele / Voris 1978, S. 45).

In der Geschichte glaubt der Maurer und frühere Tormann Josef Bloch entlassen worden zu sein, begeht einen Mord und fährt daraufhin von der Großstadt in einen »südlichen Grenzort«. Ein direkter Hinweis, dass es sich bei der Großstadt um Wien handelt, ist die Nennung des Schauplatzes »Naschmarkt«. Für den »südlichen Grenzort« diente die Gegend um Jennersdorf im Burgenland (Mixner 1977, S. 125) als Vorlage. Die Schauplätze und Figuren der Erzählung sind nicht direkt auf reale Vorbilder übertragbar und weitgehend verfremdet oder konstruiert. Bei Dietmar Grieser wird jedenfalls die Inhaberin des damals bei Neumarkt an der Raab gelegenen Gasthauses »Zur Stadt London«, Josefa Wellington – auch »London-Pepi« genannt –, als Vorbild für die Gastwirtin Hertha identifiziert (DAT 32 und Grieser 1974, S. 186). Für die Entwicklung der Hauptfigur Bloch spielte Handkes Lektüre von Klaus Conrads Die beginnende Schizophrenie eine Rolle, ein Buch, auf das Handke im Dezember 1968 auch in einem Statement im Kölner Stadtanzeiger hinwies und das er in seiner Erklärung zum Teilvorabdruck in text+kritik 1969 zitierte (Handke 1969, S. 3-4). »Aus einigen Symptomen der Schizophrenie [...] entwickelte Handke "ein Modell für eine Geschichte"« (Mixner 1977, S. 124). Handkes Bestreben war, »das schizophrene Erleben [...] "nicht als krankhaft verharmlost, sondern als lebensüblich"« vorzustellen (Höller 2007, S. 63 zitiert n. Handke 1969, S. 3).

Der Zeitraum von der ersten Konzeption bis zur Bucherscheinung reicht ungefährt von Sommer 1968 bis Februar 1970 und überschneidet sich mit zahlreichen weiteren Arbeiten: mit dem Stück Das Mündel will Vormund sein, den Büchern Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, Der gewöhnliche Schrecken, dem »Reader« Prosa, Gedichte, Theaterstücke, Hörspiel, Aufsätze, dem Lyrikband Deutsche Gedichte, den ersten drei Hörspielen Hörspiel, Hörspiel Nr. 2 und Geräusch eines Geräusches sowie dem Filmdrehbuch zu Chronik der laufenden Ereignisse. Handke wohnte im Entstehungszeitraum zusammen mit seiner Frau Libgart Schwarz und der im April 1969 geborenen gemeinsamen Tochter Amina nacheinander bzw. parallel in Düsseldorf, Berlin und Paris.

Aufenthalt im Südburgenland: Schauplätze und erste Notizen

Zur Entwicklung der Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter hatte Handkes Sommeraufenthalt im Atelierhaus Feri Zotters im südburgenländischen »Künstlerdorf« Neumarkt an der Raab beigetragen. Auf Initiative von Alfred Schmeller waren neben Handke auch H. C. Artmann, Gerhard Rühm und Peter Pongratz eingeladen (Pichler 2002, S. 93). Schmeller war zu dieser Zeit Landeskonservator für das Burgenland und hatte maßgeblichen Anteil an der Erhaltung der als Künstlerateliers genutzten Häuser. Einem Brief an Siegfried Unseld vom 19. September 1968 zufolge plante Handke von 20. bis 30. September im Burgenland zu bleiben. Den Besuch der Frankfurter Buchmesse sagte er zugunsten dieser Reise ab: »ich komme diesmal nicht nach Frankfurt, weil ich schon lange für zwei Wochen ein kleines Haus im Burgenland in Österreich gemietet habe [...] Morgen fahre ich.« (Handke / Unseld 2012, S. 97-98) Der Briefwechsel zwischen Peter Handke und Libgart Schwarz (ÖLA SPH/LW/Briefe) zwischen 20. und 29. September 1968 belegt in weiterer Folge, dass Handke nach dem 30. September zuerst nach Graz und anschließend nach Luxemburg weiterreiste.

Zahlreiche im Text verarbeitete Schauplätze wurden sowohl von Handke als auch von Otto Breicha fotografisch dokumentiert (ÖLA SPH/LW/S103 und ÖLA SPH/LW/S159) und es ist anzunehmen, dass erste Notizen zur Erzählung bereits während dieses Aufenthaltes entstanden. Dietmar Grieser zitiert eine damalige Sparkassenangestellte, mit der Handke bekannt geworden war: »Kaum hatten wir uns niedergesetzt [...] da zog er auch schon seinen Notizblock hervor, so ein ganz kleiner Notizblock war das, und schrieb sich alles genau auf, was ich ihm erzählt hatte.« (Grieser 1974, S. 186)

Im Gästebuch des Atelierhauses findet sich ein Eintrag des Autors vom 2. Oktober 1968, in dem er seinem ortskundigen Begleiter Eduard Sauerzopf – eine Figur seines Namens ist ebenfalls in der Erzählung verewigt – dankte: »Für den sehr nützlichen Aufenthalt hier möchte ich mich bedanken. Vor allem bei Herrn Fachlehrer Sauerzopf ohne den ich vielleicht kaum ein Zehntel von dem gesehen hätte, was ich gesehen habe.« (Grieser 1974, S. 186) Neben dem Eintrag zeichnete sich Handke selbst – auf dem Fahrrad fahrend.

Erste Textfassung

Am 23. Februar 1969, etwa zwei Monate nach der Übersiedlung von Düsseldorf nach Berlin, deutete Handke den bevorstehenden Schreibbeginn in einem Brief an Siegfried Unseld erstmals an: »Außerdem möchte ich mich gerade jetzt nicht zu sehr ablenken lassen, weil ich schon seit einem halben Jahr eine Prosaarbeit mehr oder weniger intensiv vorbereite und wenigstens, bis Libgart das Kind kriegt, das Material zusammenhaben möchte. Das sind blöde Antriebsschwierigkeiten.« (Handke / Unseld 2012, S. 108) An Alfred Kolleritsch schrieb er am 5. März 1969: »Ich brüte an einem langen Prosatext, einem klassischen [...]« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 25)

Wenig später dürfte er Die Angst des Tormanns in Angriff genommen haben. Er schrieb die erste Fassung Ende März und Anfang April des Jahres 1969 in nur 24 Tagen in Berlin nieder (Pichler 2002, S. 93 und Breicha 1971), was auch ein Brief vom 29. März an Unseld unterstreicht: »[...] seit einer Woche hämmere ich ziemlich heftig auf der Maschine herum. Ich arbeite an einem kurzen Roman oder an einer langen Erzählung, für den oder die ich schon seit einem Jahr Vorarbeiten machte, "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter".« (Handke / Unseld 2012, S. 111) Am 17. April war der Text fertig: »[...] gestern habe ich die Geschichte von dem Tormann fertiggeschrieben, es ist eine Erzählung von etwa 110 bis 130 Druckseiten. Ich habe ziemlich hart gearbeitet, ohne einen Tag Pause.« (Handke / Unseld 2012, S. 116) Rückblickend gab Handke im Interview mit Herbert Gamper sein Schreibtempo am Tormann mit »hundertzwanzig Zeilen pro Tag« an (Handke / Gamper 1987, S. 59). 

Am 7. Mai 1969 berichtete er Alfred Kolleritsch über seine Arbeit an der Erzählung und kündigte an, ihm einen Text daraus zu senden: »Inzwischen habe ich auch eine recht lange Geschichte geschrieben, von der Angst des Tormanns beim Elfmeter, es ist eine ganz konventionelle Story, es geht ja sonst nichts mehr. Für die nächsten manuskripte kann ich dir gern was schicken.« Siegfried Unseld hielt eine Woche später in seinem Reisebericht Berlin 15.-18. Mai 1969 fest: »Er hat seine Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" fertig. Wir werden sie in 2, 3 Wochen erhalten. Ich habe etwa 10 Seiten davon gelesen. [...]« (Handke / Unseld 2012, S. 124)

Zweite Textfassung und Übergabe an den Verlag

Dass zwischen der Fertigstellung der ersten Fassung am 17. April und Unselds Besuch am 15. Mai die zweite Textfassung bereits vollständig geschrieben war, ist unwahrscheinlich. Da am 20. April 1969 Handkes Tochter Amina geboren wurde, liegt nahe, dass Handke die Überarbeitung nur mit Unterbrechungen durchführen konnte und sich die Arbeit an der zweiten Fassung von April bis September 1969 hinzog.

Am 3. Juni sandte er an Kolleritsch »nur ganz schnell ein paar Blätter für die manuskripte«, die im September 1969 in den manuskripten Nr. 26 erschienen (Handke / Kolleritsch 2008, S. 26-27). Es handelte sich vermutlich um die ersten Seiten der noch unvollständigen zweiten Textfassung. Die Fortsetzung des Teilabdrucks für manuskripte Nr. 27 erhielt Kolleritsch erst viel später, am 2. November. Im Unterschied zum ersten Teilabdruck waren nun die Korrekturen, die Handkes Lektor Thomas Beckermann im Oktober ergänzt hatte, bereits berücksichtigt.

Die ursprünglich für Juni 1969 angestrebte Übergabe des fertigen Typoskripts an den Verlag hatte nicht stattgefunden, wie ein Brief Handkes an Unseld vom 14. August nahelegt: »Das endgültige Manuskript der Tormann-Geschichte kann ich Dir erst Mitte September schicken, dann aber sicher. Es wird ja noch nicht zu spät sein.« Und noch am 31. August versicherte er: »Das Manuskript der Geschichte folgt bald.« (Handke / Unseld 2012, S. 132 und S. 134) Dass die Zeit für Unseld bereits drängte, äußerte dieser nur sehr verhalten, so z.B. am 2. September: »Ich warte auf den "Tormann" und freue mich sehr auf ihn.« sowie am 5. September: »Auf den "Tormann" bin ich sehr gespannt.« (Handke / Unseld 2012, S. 135-136) Am 11. September schließlich schickte Handke die zweite Textfassung an Unseld, die er eigenen Angaben zufolge »in den letzten zwei Wochen fertiggeschrieben« hatte. Im selben Brief äußerte er sich bereits genau über seine Vorstellungen zur Umschlaggestaltung und legte aus Zeitschriften ausgeschnittene Hochzeitsfotos zur Illustration des Textes bei, die dann aber nicht verwendet wurden (Handke / Unseld 2012, S. 137).

Letzte Textfassung

Lektor Thomas Beckermann, der die Herstellung von Die Angst des Tormanns beim Elfmeter betreute, kann den Briefaussagen zufolge die zweite Fassung erst nach dem 11. September 1969 gelesen haben. Am 21. Oktober sandte Beckermann das von ihm mit Anmerkungen versehene Typoskript an Handke und verwies auf ein vorangehendes Telefonat (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Handke Peter). Am 23. Oktober dankte dieser für die »Änderungsvorschläge, denen ich, wie ich glaube, zu etwa 80% gefolgt bin« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Handke Peter). Am 24. Oktober reichte Handke eine Entwurfskizze mit der in Die Angst des Tormanns verwendeten Bilderschrift (DAT 117) nach und am 27. Oktober schrieb er Siegfried Unseld, dass er »[d]as endgültige Manuskript für den "Tormann" [...] an Herrn Beckermann geschickt [habe], der noch einige ganz plausible Änderungsvorschläge machte«. Auch die vereinbarte Umschlagsgestaltung (weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund) bestätigte Handke, worauf Unseld am 29. Oktober den fertigen Autorenvertrag für die Produktion übermittelte, den Handke nach einigen Klärungen von Verkaufspreis und Satzgestaltung am 11. November unterschrieb. (Handke / Unseld 2012, S. 145-149)

Umbruchkorrekturen und Veröffentlichung

Wann Handke den fertigen Umbruch der Erzählung erhielt, ist nicht exakt ermittelbar. Jedenfalls verständigte er sich bereits um den 10. November herum direkt mit der Herstellung über die Satzgestaltung und einigte sich nach anfänglichen Missverständnissen auf einen Kompromiss beim Schriftbild. Es ist anzunehmen, dass der Umbruch Mitte November fertiggestellt war. Am 1. Dezember schrieb Handke an Unseld: »Den Umbruch zu "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" habe ich aufmerksam durchgeschaut. Ich habe wenig geändert, so daß im Satz wohl kaum Schwierigkeiten entstehen.« Den geplanten Verkaufspreis von 12 Mark versuchte er bei Unseld mit einem Verweis auf die Erstauflage von 25.000 Exemplaren und das jüngere Zielpublikum noch herabzusetzen: »[...] man sollte es aber doch erwägen.« (Handke / Unseld 2012, S. 152) Den Erhalt seines Leseexemplars kommentierte Handke am 9. Jänner 1970 zufrieden mit: »[...] es sieht ganz angenehm aus.« Am 20. Februar sandte Siegfried Unseld das erste fertige Exemplar von Die Angst des Tormanns beim Elfmeter an Peter Handke, laut Verlagsangaben war das offizielle Erscheinungsdatum der 23. Februar 1970 (Handke / Unseld 2012, S. 158 und S. 165).

Verfilmung 1972

Zwei Jahre nach der überaus erfolgreichen Bucherscheinung und zahlreichen Neuauflagen wurde Die Angst des Tormanns beim Elfmeter beim WDR als Fernsehfilm produziert. Regie führte Wim Wenders, gedreht wurde vom August bis zum Oktober 1971 in Wien und im Burgenland (Pichler 2002, S. 95), die Hauptrollen spielten Arthur Brauss, Erika Pluhar, Rüdiger Vogler und Libgart Schwarz. Die Uraufführung fand am 19. Februar 1972 statt. (ck)

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