Entstehungskontext

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Mit seinem Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land begründete Peter Handke seine persönliche literarische und politische Auseinandersetzung mit dem zerfallenden Jugoslawien und den daraus folgenden Kriegskonflikten ab 1991. Der Titel verweist dabei auf das fünf Jahre zuvor veröffentlichte Erzählprojekt Die Wiederholung, insbesondere auf das darin enthaltene letzte Kapitel »Die Savanne der Freiheit und das neunte Land«. Die aus dem »slowenischen Märchenwortschatz« (Šlibar 1998, S. 376-377) stammende Bezeichnung »Das Neunte Land« verwendete Handke als Arbeitstitel bereits in zahlreichen Notizbüchern des Jahres 1985. Handke lebte im Sommer 1991 seit einem Jahr in seinem Haus in Chaville bei Paris, zusammen mit seiner Frau Sophie Semin. Am 24. August wurde ihre gemeinsame Tochter Léocadie geboren, es ist daher anzunehmen, dass Handke den Essay in Chaville verfasste.

Angesprochen auf den möglichen Einfluss der »Wende im Osten« auf »das Denken eines Schriftstellers«, stellte Handke seinen Text in eine Reihe mit seinen seltenen, unmittelbaren Reaktionen auf politische Ereignisse: »Ich war nie fähig, die Aktualitäten wirklich zu denken, außer ich war unmittelbar betroffen. Im Grunde war es ein-, zweimal, dreimal in meinem Leben, wo ich mich unmittelbar gemeldet habe, das war, als die Russen in die Tschechoslowakei einmarschiert sind, achtundsechzig, und Waldheim, in Österreich, da habe ich geschrieben. [...] Und dann über Slowenien, das dritte Mal.« (Handke / Horvat 1993, S. 93) Abgesehen vom unmittelbaren Schreibanlass der slowenischen Unabhängigkeitserklärung, bestätigt Fabjan Hafner Handke eine frühe Zeugenschaft an der »Umorientierung [Sloweniens] von Südosten nach Nordwesten« im Rahmen der von ihm in den Jahren davor besuchten »Vilenica-Treffen« (Hafner 2008, S. 277), wo er 1987 für seinen »Slowenientext« Die Wiederholung mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden war.

Abschied des Träumers und einige weitere in den Jahren danach verfasste Texte können zum Werkkomplex der sogenannten »Jugoslawientexte« zusammengefasst werden. Dazu zählen Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (1996), Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise (1996), Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (1999), Unter Tränen fragend (2000), Rund um das Große Tribunal (2003), Die Tablas von Daimiel (2006), Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und zuletzt Die Geschichte des Dragoljub Milanović (2011).

Textfassungen

Die exakte Rekonstruktion der Textgenese gestaltet sich aufgrund fehlender Materialien an öffentlich zugänglichen Archiven als schwierig. Der konkrete Schreibanlass für Handke scheint – obwohl dieser nicht außerliterarisch belegt werden kann – die slowenische Unabhängigkeitserklärung vom 25. Juni 1991 gewesen zu sein, sowie der darauffolgende Zehn-Tage-Krieg zwischen Slowenien und Jugoslawien, der bis zum 7. Juli dauerte. Einer Interviewaussage zufolge hatte sich Handke zu dieser Zeit an der slowenischen Grenze aufgehalten: »Ich bin am Tag nach dem sogenannten "Krieg", auf den Slowenien ganz stolz ist, in der Steiermark, in Kärnten die Grenze entlang gefahren, habe gelesen, gehört – und war, auch im Vergleich zu meinen Freunden, der einzige, der das anders sah.« (Der Standard, 11.10.1991)

Es ist anzunehmen, dass Abschied des Träumers zwischen dem Datum der slowenischen Unabhängigkeit am 25. Juni und dem 24. Juli 1991 verfasst wurde; danach arbeitete Handke bis zum 6. August bereits an seiner ersten Fassung des Stücks Die Stunde da wir nichts voneinander wußten. In unmittelbarer zeitlicher Nähe veröffentlichte der Suhrkamp Verlag Handkes Übersetzung von Shakespeares Das Wintermärchen sowie am 5. August den Versuch über den geglückten Tag, der bereits von 12. November bis 8. Dezember 1990 geschrieben worden war.

Veröffentlichung und erste Reaktionen

Eine gekürzte Fassung des Essays erschien am 27./28. Juli in der Süddeutschen Zeitung, worauf als Reaktion am 10./11. August drei Leserbriefe gedruckt wurden, unter anderem von Josef Hollerith, einem Mitglied des Deutschen Bundestags (CSU), in denen Handkes Haltung kritisiert wurde. Siegfried Unseld übermittelte Handke diese über den Lektor Raimund Fellinger am 16. August 1991 (Handke / Unseld 2012, S. 589). Einem Bericht Fellingers an Unseld zufolge wurde der Text auch »in Österreich, Italien [Il Manifesto, Anm.] und Spanien [El País, Anm.]« sowie »in der französischen Tageszeitung Libération« abgedruckt. Bei der sechsten Internationalen Schriftstellertagung im slowenischen Vilenica wurde Handke – in Abwesenheit – unter anderem für seine »verräterische Haltung« gerügt (Kleine Zeitung, 7.9.1991). In seiner Chronik erwähnt Unseld am 15. September nach einem Gespräch mit Handke in Paris eine Meinungsverschiedenheit zu Abschied des Träumers, dessen Publikation im Suhrkamp Verlag zu diesem Zeitpunkt offenbar schon verhandelt wurde: »Als ich erwähnte, daß er mit seinem Slowenien-Text sehr allein dastehen würde, wurde er zornig und hielt mir eine lange Rede über Slowenien, Kroatien und die Serben.« (Handke / Unseld 2012, S. 590)

Illustrationen und Buchausgabe

Drei Monate nach dem Erstdruck erschien der Text auch als Buch. Diese Ausgabe enthält vierzehn ein- bzw. doppelseitige Faksimile-Abbildungen aus Notizbüchern, die Handke in den Jahren 1978 und 1980 jeweils im August während zweier Reisen durch den slowenischen Karst anfertigte. Die Zeichnungen sind chronologisch angeordnet, wobei die ersten zehn aus der Zeit um den 13. bis 17. August 1978, die letzten vier vom 20. bis 25. August 1980 datieren. Einen Umschlagentwurf für die Buchveröffentlichung übermittelte Unseld vermutlich am 26. September 1991: »Da es sich um einen Text mit politischer Implikation handelt, scheint mir das Deutliche des Umschlags wichtig.« (Handke / Unseld 2012, S. 592) Das Buch erschien, Verlagsangaben zufolge, am 28. Oktober 1991, findet allerdings im weiteren Briefwechsel zwischen Handke und Unseld keine Erwähnung mehr. Eine Neuauflage erschien bei Suhrkamp 1998 in Form eines Sammelbands, gemeinsam mit den »Reiseberichten« Eine winterliche Reise und Sommerlicher Nachtrag.

Nachbetrachtung

In einem Gespräch mit Jože Horvat im Jahr 1993 blickt Handke auf die Entstehung seines Essays als eine andere Variante der Wiederholung zurück und verweist dabei vor allem auf die bewusst subjektive Haltung im Text: »Ich höre da höchstens über dritte, daß ich eben nichts verstehe von der Realität, obwohl ich mir eher schlau vorgekommen bin in meinem Artikel, daß ich an manchen Stellen mich sozusagen ganz auf mich bezogen habe, mir sozusagen eine Blöße gegeben habe. Ich habe gewußt, das ist kritisierbar an manchen Stellen, weil das nur meine Subjektivität ist. Ich habe das aber stehengelassen vor dem Publizieren, weil ich gedacht habe, ich möchte mich einfach bloßstellen, damit die anderen Stellen, die vielleicht doch umso präziser und wahrhafter, allgemein wahrhaftig sind, sozusagen besser angenommen werden können.« (Handke / Horvat 1993, S. 99-100) (ck)

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