Salzburg (Der Chinese des Schmerzes)

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»Die Salzburger Landschaft, vor allem die Moosgegend zum Untersberg hin, mit dem Alm-Kanal, den kleinen Dörfern und dem Flughafen ist mir in den letzten drei Monaten ans Herz gewachsen« (Handke / Lenz 2006, S. 181), berichtete Peter Handke seinem Freund und Kollegen Hermann Lenz in einem Brief vom 20. Dezember 1982. Kurz zuvor hatte er die im Oktober begonnene erste Fassung seiner Erzählung Der Chinese des Schmerzes beendet. Handke lebte damals bereits das zweite Jahr in Salzburg, in einem burgähnlichen, auf den Fels gebauten Haus am Mönchsberg, von wo er am Schreibtisch vor dem »Felsfenster« sitzend die gesamte im Brief genannte Salzburger Ebene überblicken konnte – das Terrain seiner täglichen Wanderungen, das er sich im Chinesen auch zum Wohn- und Weggebiet von Andreas Loser (der Hauptfigur seiner Erzählung) fantasierte (Abb. 1-2). Die Stadt Salzburg und die Orte der Peripherie sind dabei nicht nur Schauplatz oder Handlungsort, sondern selbst zentrales Ereignis; in den Journalnotizen nannte Handke die Erzählung wohl deshalb zuerst »Salzburg-Geschichte«. Die zahlreichen Notizbucheinträge seit seinem Umzug nach Salzburg – Aufzeichnungen zur Stadt sowie zur Landschaft und ihrer geologischen Beschaffenheit – belegen die Bedeutung dieser Orte für sein Arbeiten. Die Leichtigkeit beim Schreiben seines Chinesen erklärte sich Handke nicht zuletzt damit, dass er die Räume vor sich gehabt hatte und täglich nachprüfen konnte (Handke / Gamper 1987, S. 75).

Eichensiedlung / Birkensiedlung

Der Chinese des Schmerzes erzählt die Geschichte von Andreas Loser, einem Lehrer für alte Sprachen und Gelegenheitsarchäologen. Er lebt von seiner Familie getrennt und vorübergehend freigestellt vom Schuldienst in einer kleinen Siedlung »an der südlichen Peripherie« von Salzburg, an der »Endstation der Obuslinie« Nr. 5 (DCS 7). Den Namen der Siedlung hat Handke in der Erzählung leicht verfremdet – er nennt sie »Eichensiedlung«. Tatsächlich trägt die Siedlung im Gebiet Eichet, mit angrenzendem Eichetwald, den Namen »Birkensiedlung«. Die Straßen der Siedlung haben aber, so wie es Handke im Chinesen beschreibt, »ihre Namen von Bäumen« (DCS 8; Abb. 3-4). Von dort aus unternimmt Loser seine Wege in die Schule im Salzburger Stadtteil Lehen, nach Loig (zur römischen Ausgrabungsstätte), nach Gois (zu seiner Frau und den beiden Kindern), nach Wals (zu seiner Mutter, die dort im Altersheim lebt) und auf den Mönchsberg zur monatlichen Tarockrunde oder später auch zum Flughafen. Das von Handke beschriebene Wohnhaus Losers mit einem Supermarkt im Erdgeschoß ist erfunden oder wurde von ihm aus einem anderen Ort in diese Siedlung versetzt.

Almkanal und Kammweg

Der Weg von der »Eichensiedlung« in die Innenstadt führt entlang des »aus dem Hochmittelalter stammende[n] Kanal[s], der von der Königsee-Ache und einem Bach des Untersbergs gespeist wird: der Almkanal, oder "die Alm"«, die auch zwischen »der Obuskehre und der Siedlung« (DCS 8) fließt. Eine kleine Brücke über den Kanal mit einer Telefonzelle bildet den Eingang oder die »Schwelle zur Siedlung« (DCS 9; Abb. 5-6). Die Gestalt der »Alm« und des ihn begleitenden Weges – zuerst »ein Geh- und Radfahrweg«, dann »eine Siedlungsstraße« und später »ein Teerpfad oben auf dem Damm« (DCS 64) – ändert sich im Verlauf immer wieder. Auf seinen regelmäßigen Spaziergängen entlang des Kanals hält Loser auf den Brücken inne und betrachtet das Wasser und die Umgebung: die Bäume in der Moosebene mit den »vielen schwarzen Mistelballen in den Kronen« (DCS 251), die Weiden am Ufer des Wassers, die »kleinen Holzvorsprünge hinaus auf den Kanal, ehemalige Plätze zum Wäschewaschen« (DCS 69), die dicht an das Wasser grenzenden Ufergärten und Siedlungshäuser sowie die sich verändernde Fließgeschwindigkeit des Wassers. Auf der Höhe der Siedlung verläuft die Alm »für eine kleine Strecke abschüssig und brauste wie ein Fluß über eine Schnelle« (DCS 163). Weiter stadteinwärts ist die Oberfläche des Wassers »so glatt, daß es zu stehen scheint, wie in einer Wanne oder einem Trog, während der dunkle Blätterwirbel gleich darunter den Eindruck einer reißenden Strömung macht« (DCS 245; siehe Abb. 7-14).

Kanalstube

Auf halber Wegstrecke zwischen Siedlung und Innenstadt, ungefähr auf der Höhe des Kommunalfriedhofs, steht zwischen Kanalweg und Santnergass, »ein wohnhaus-ähnliches Gebäude, die "Kanalstube"« (DCS 51), in die Loser regelmäßig einkehrt. Anfang der 90er Jahre gab es dort tatsächlich die Gastwirtschaft »Café Almstube«. Heute ist dort ein Elektro- und Wärmetechnikgeschäft; der hintere Eingang vom Kanalweg zum Gastgarten und zur Gaststube ist von einer hohen Thujenhecke versperrt. Nichts deutet mehr auf die einstige Existenz eines Wirtshauses hin (Abb. 15-16). Die damalige Almstuben-Wirtin konnte sich aber noch an die Besuche von Peter Handke erinnern: Er habe sich immer an den gleichen Platz gesetzt, einen Ecktisch, von wo er alles im Blick hatte. In der Erzählung setzt sich Loser auch in seine »übliche Ecke, mit Blick auf die zwei kleinen Gruppen im Lokal, aber auch, durch den Vorhangspalt, hinaus ins Freie. Dort schimmerte hoch im Nordhimmel die graue Gefängnismauer der Festung, auf die in leichten Mäandern der Kanal zuführt, im Vordergrund gequert von einer seiner vielen Brücken.« (DCS 54) Die von Loser beschriebene Wirtshausstube findet man auf einer Postkarte des Almcafés abgebildet: »Die wenigen Tische sind übergroß, wie in einem Landgasthof, "zum Dazusetzen", und auch die doppelten Tischdecken bilden ein gasthaus-übliches Muster: ein schräges weißes Karo jeweils auf einer dunkelfarbenen dickeren Unterlage; darauf der Bierdeckelstapel und der Flechtkorb mit den Gewürzfläschchen und den hölzernen Zahnstochern (wenn auch nicht mehr, wie einst, aus dem "biegsamen Berberitzenholz").« (DCS 53; Abb. 17)

Die Stadtberge

Einmal im Monat geht Loser zu seiner Tarockrunde, die an jeweils unterschiedlichen Orten stattfindet. »Zum Spielplatz war für diesen Tag ein Haus auf dem Mönchsberg bestimmt, das dort sozusagen oben in der Paßsohle steht, über welche der Weg, nach seinem Anstieg aus der Moosebene, hinunter in den Hof des Festspielhauses und weiter in die Innenstadt führt.« (DCS 81) In dem Haus ist unschwer das Kuppelwieserschlösschen von Hans Widrich zu erkennen, wo auch Peter Handke wohnte. Vom Almkanalweg ist Loser die Innenstadt »nur als ein großer Lichtschein am Himmel sichtbar, die sogenannten "Stadtberge", der Festungsberg, der Mönchsberg und der Rainberg, bedeckten sie; auf den Gipfelpunkten rubinblinkend die Warnleuchten für die Flugzeuge.« (DCS 14ff.) Die geschwungene Form des Mönchsbergs erklärt Loser mit der Entstehung und Beschaffenheit aus einem Salzachschotter-Konglomeratstein, während der Festungsberg sich aus Dolomit und Kalkgestein gebildet habe (DCS 85-87).

Umrundung des Mönchsbergs

Vor dem Kartenabend umrundet Loser auf seinem Spaziergang den Mönchsberg, biegt »vor dem Spielhaus ab und [steigt] hinauf zum Höhenweg, der, mit einigem Auf und Ab, die Kuppe des langgestreckten Bergrückens nachzieht« (DCS 85), geht bis »zum Bergende, wo eine Treppe […] zum Stadtteil Mülln und zur Salzach hinunterführt«. Er kehrt »vor der Treppe um und [nimmt] einen Nebenweg zum Berganfang zurück« (DCS 87-88), der zur Kammstraße führt. Der Weg ist exakt beschrieben. Am Beginn des Nebenwegs steht ein »kleines Gebäude […] gemauert und doch budenhaft. Es ist tatsächlich eine Schießbude, und zugleich das Vereinslokal der Schützen« (DCS 89). Von der Treppe aus sind aber »vom Schußfeld nur die Zielscheiben sichtbar« (DCS 90). Er geht von dort weiter aufwärts, sieht links am hinteren Mönchsbergrücken auf einer Wiese einen markanten Holunderbaum (DCS 92), bemerkt mit »mit dem Höhersteigen unten am Bergfuß das Areal des Landeskrankenhauses«, mit »einem ausgeleuchteten Betonrund« für Hubschrauber (DCS 93), kommt nach einer Wegbiegung zu einem »Schüsselboden«»windgeschützt, die Wand durchzogen von Nischen und Halbhöhlen, die als Unterschlüpfe für Obdachlose dienen« (DCS 94), und von dort führt der Weg wieder zurück auf die stadtzugewandte Seite des Berges: von wo er »die Gassen der Innenstadt tief unten« »an den schmalen rötlichen Lichtbahnen zwischen den finsteren, kaum bewohnten Häuserblöcken« (DCS 98) erkennt, die in der Ferne »rotgelben Lampenweichen auf der Gleisebene des Bahnhofs« (DCS 99), die »Nachttrafik« sowie die »im Bahnhof haltenden Züge« (DCS 116).

Ermordung des Hakenkreuzsprayers

Bevor Loser auf den Kammweg Richtung Kartenhaus abbiegt, erblickt er ein frisch auf einen Buchenstamm gespraytes Hakenkreuz (DCS 97). Er verfolgt den Hakenkreuzsprayer, bis er ihn auf der »berghöchsten Stelle« entdeckt; dort »zieht sich die Straße zwischen zwei langgestreckten Felsmauern durch und bildet so einen Hohlweg« (DCS 100). Er tötet seinen »Feind« mit einem Steinwurf, rollt den Toten danach den Berghang hinunter und setzt sich, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, nach seiner Tat auf »eine Baumwurzel, die aus der anderen Wegmauer steht, gerade in Klappstuhlhöhe; dem Tatort gegenüber. Der Weg vollführt an dieser Stelle einen zweifachen Knick« (DCS 107). Von dort geht er zum Kartenspielerhaus, das nicht mehr weit vom Tatort entfernt ist.

Festspielhaus und Festspielstiege Salzburg

Nach dem Kartenspiel geht Loser vom Mönchsberg in die Stadt, um mit dem Nachtbus in seine Siedlung am Stadtrand nach Hause zu fahren. Er nimmt »eine Gasse, so schmal, daß niemand da hätte neben [ihm] gehen können. Diese Gasse beschreibt eine Schleife und mündet nach einem Steilstück wieder in den Hauptweg zur Innenstadt.« (DCS 138) Von da führt die Festspielstiege hinunter in das Stadtzentrum. Er trifft dort den Maler, ein weiteres Mitglied der Kartenrunde, der beim Abstieg, auf der letzten Stufe der Stiege stehend, zu einer mehrere Buchseiten umfassenden und von Komik bestimmten Beschimpfung ausholt: des Festspielhauses, dessen Fassade der Felswand »angepaßt worden ist« (DCS 142) und der Festspielstiege, die keine »Freitreppe« sei, »sondern eine Gosse, und die aus Stein gehauene Zauberflöten-Schlange, unterwegs auf der Brüstung, ist keine Verzierung, sondern ein Gerümpel, wie auch der Hof, auf den die Gosse unten mündet, angefüllt mit Gerümpel ist, dem Festspielgerümpel und anderem« (DCS 145-147; Abb. 18-21).

Leopoldskroner Moos

Nach seiner Mordtat verfällt Loser in eine Art Depression und Bewegungslosigkeit, deren Ende durch die in allen Stadtteilen erklingenden Osterglocken angekündigt wird: »Nach und nach setzte im ganzen Stadtgebiet das Geläute ein. Ich unterschied die Glocken von Elsbethen, von Aigen, von Parsch, von Gnigl, von St. Andrä, von Maria Plain, von Bergheim, von Freilassing (jenseits der Grenze), von Bayrischgmein, von Großgmain (wieder diesseits), von Liefering, von Wals, von Gois, von Taxham, von Grödig, von Anif, von Morzg, von Gneis; die Glocken der Auenkirche, der Altersheimkirche, der Internatskirche, der Asylkirche, der Mooskirche.« (DCS 193) Er zieht sich schön an und macht sich auf den Weg zum Flughafen, um am nächsten Tag nach Italien zum Geburtsort Vergils und auch seiner eigenen Kinder zu fliegen. Zwischen Birkensiedlung und Flughafen erstreckt sich das Leopoldskroner Moos: eine große »Ebene am Fuß des Untersbergmassivs, die einmal ein natürlicher Stausee war, später zur Moorfläche verlandete – es gibt immer noch Sumpf- und Teichstellen« (DCS 7). Losers Weg führt ihn über einen Torfpfad zur »Mooskirche« (DCS 199; Abb. 22). »Der Flughafenturm erschien von weitem als armloser Roboter, der höchste Bau der ganzen Ebene.« (DCS 199f.; Abb. 25-26) Er nähert sich dem Flughafen »auf einem Eisenbahngleis, das von der Verladestelle einer Bierbrauerei kam. Die Remise war ein gelbes Langhaus, dessen eine Stirnseite nur blinde Fenster hatte.« (DCS 200; Abb. 23) Von der Stieglbrauerei geht er bis zur Innsbrucker Bundesstraße, wo die Straße durch einen Tunnel das Flugfeld unterquert (Abb. 24), und weiter zum Flughafengebäude. Das Flughafenhotel, in dem Loser mit einer unbekannten Frau die Nacht verbringt – sie gibt ihm auch den Namen »Chinese des Schmerzes« (DCS 218) –, ist von Handke erfunden; es gibt lediglich ein vom Flughafenkomplex abseits liegendes Airport Hotel. Nach seiner Rückkehr aus Italien meldet sich Loser wieder zum Schuldienst und besucht seine Kinder im gemeinsamen Haus der Familie in Gois, einem »Bauerndorf« der »näheren Salzburger Umgebung (eine gute Fußstunde entfernt)« (DCS 34), und erzählt seinem Sohn seine Geschichte.

Handke beschreibt Losers Wege entlang des Kanals, durch die Ebene oder um den Mönchsberg herum so genau, dass man ihm sogar unterstellte, mit der Landkarte in einer Hand geschrieben zu haben. »Mein Ausgangspunkt ist ja nie eine Geschichte oder ein Ereignis, ein Vorfall, sondern immer ein Ort«, erklärte Handke im Gespräch mit Herbert Gamper seine Arbeit. »Ich möchte nicht den Ort beschreiben, sondern erzählen.« (Handke / Gamper 1987, S. 19) In den unveröffentlichten Notizbüchern findet man etliche Einträge zu den Schauplätzen im Chinesen, die Handke als »Szenerien« oder »Orte ohne Handlung« beschreibt (Pektor 2009, S. 112). Auf dieses Ideal, das betrachtende Erzählen eines Ortes, steuert die gesamte Erzählung Der Chinese des Schmerzes zu. Losers Geschichte entwickelt und realisiert parallel zu den Stationen seines klassisch verlaufenden Heldenwegs mit Krise, Bewährung und Erlösung eine Poetik – eine neue Form des mythischen Erzählens, das schließlich im Epilog seinen Höhepunkt findet: eine epische Betrachtung des Almkanals. (kp)

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