Paris Auteuil, 77 Boulevard Montmorency (1973–1976)

Druckversion

Von Dezember 1973 bis Juni 1976 lebte Peter Handke zusammen mit seiner Tochter Amina im Quartier Auteuil des 16. Pariser Arrondissements Passy, am Boulevard Montmorency 77. Sowohl die Entscheidung, das in Kronberg/Taunus gekaufte Haus aufzugeben als auch die darauffolgende Ankunft in Paris sind in der autobiografischen Erzählung Kindergeschichte verarbeitet: »Daß der Mann mit dem fast fünfjährigen Kind [...] wieder in die geliebte ausländische Stadt zog [...] geschah aber ohne viel Abwägens, als etwas Selbstverständliches [...]. Außerdem war die Rückkehr nur wie die zwanglose Fortsetzung des zuvor dort unterbrochenen regulären Lebens [...]. Dezembertag der Ankunft in der düsteren Mietswohnung, aufgehellt von dem blinkenden, mit Bachgeräuschen dahinfließenden Wasser draußen im Rinnstein [...]. Die vielen fremden Sachen in der Wohnung werden durch die paar persönlichen Mitbringsel [...] schnell vertraut« (Kg 74-76).

Wohnungssuche

In einem Brief an seinen Freund Alfred Kolleritsch vom 28. Mai 1973 kündigte Handke an, »am 15.7. nach Paris« zu fahren. Ob diese Reise bereits in Zusammenhang mit der geplanten Übersiedlung stand, ist nicht näher ausgeführt (Handke / Kolleritsch 2008, S. 61). Am 22. Oktober ließ er Hermann Lenz wissen: »Übermorgen möchte ich nach Paris fahren, um dort für das nächste Jahr eine Wohnung zu finden.« (Handke / Lenz 2006, S. 28) An Kolleritsch berichtete er über die beschwerliche Wohnungssuche am 1. November: »Letzte Woche war ich in Paris und habe eine Wohnung gemietet, das war mir schon widerlich genug, mit verkommenen Menschen zu tun zu haben, und heute erfahre ich, daß die Eigentümerin die Wohnung doch für sich selber braucht. Jetzt muß ich noch einmal suchen fahren.« Spätestens am 19. November war die offene Wohnungsfrage endlich geklärt: »In 3 Wochen gehe ich nach Paris.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 63-64) Die Übersiedlung fand am 20. Dezember 1973 statt. Sein Verleger Siegfried Unseld erhielt am 23. Dezember die Mitteilung: »Es geht mir gut hier, schon den dritten Tag, und das alte Schreibbewußtsein ist auch nicht verschwunden.« (Handke / Unseld 2012, S. 238) Und im ersten Brief an Kolleritsch am 27. Dezember meldete Handke: »Es geht uns gut, und es ist richtig hier.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 64)

Neubeginn in Paris

An Hermann Lenz schrieb Handke einen letzten Brief aus Kronberg am 16. Dezember, in dem er die baldige Abreise und seine neue Adresse mitteilte, der nächste Brief vom 30. Dezember kam bereits aus Paris: »Mir geht es hier in Paris sehr gut. Nur treffe ich doch schon zu viele, vor allem mir fremde Leute. [...] Wir wohnen ebenerdig, in 6 Räumen, und haben noch einen kleinen stillen Hof für uns [...]. Vor dem Fenster fährt manchmal ein kleiner, meist leerer Stadtzug vorbei, das ist schön.« (Handke / Lenz 2006, S. 35-36)

Die »große« und »verzweigte« Wohnung, das Haus und die nähere Umgebung werden als Schauplatz auf den ersten Seiten von Die Stunde der wahren Empfindung beschrieben: »Er bewohnte mit seiner Frau und der vierjährigen Tochter Agnes ein dunkles Appartement im sechzehnten Arrondissement. Das Haus, ein französisches Bürgerhaus aus der Jahrhundertwende, mit einem steinernen Balkon an der zweiten und einem gußeisernen an der fünften Etage, stand neben ähnlichen Gebäuden an einem ruhigen Boulevard, der ein wenig abschüssig zur Porte d'Auteuil hinunter verlief [...]« (DSE 7). Anlässlich eines Besuches beschreibt Wolfgang Kraus die Wohnung in seinem Tagebuch am 28. Februar 1974: »Nachmittag bei Handke, eine riesige, düstere, winkelige Wohnung im Parterre [...]« (Wolfgang Kraus, Tagebuch 1973-94, ÖNB ÖLA 63/97). Die vor dem Wohnhaus verlaufende (heute ehemaligen) Bahnlinie Petite Ceinture wird in Die Stunde der wahren Empfindung ebenfalls erwähnt: »Nur alle fünf Minuten etwa klirrten untertags die Gläser und Teller im Eßzimmerschrank, wenn in der Senke neben dem Boulevard der Zug vorbeifuhr, der Reisende von der Peripherie zur Gare St. Lazare in der Mitte der Stadt brachte [...]« (DSE 7).

Am 9. Jänner 1974 wurde im Espace Cardin, dem kleinen Privattheater des Modeschöpfers Pierre Cardin, Der Ritt über den Bodensee aufgeführt (u.a. mit Delphine Seyrig, Jeanne Moreau und Gérard Depardieu). Regie führte Claude Régy (Handke / Lenz 2006, S. 300). Eine aus dieser Begegnung hervorgegangene Affäre mit der Schauspielerin Jeanne Moreau sorgte für Aufsehen in der damaligen Boulevardpresse (Pichler 2002, S. 117).

Dass er seine Pariser Wohnung anfangs »mit einem österreichischen Maler und dessen Frau« teilte, schrieb er Lenz am 25. Jänner. Dabei handelte es sich um den befreundeten Peter Pongratz und dessen Frau Inge, die sich für Handke gelegentlich um Sekretariatsarbeiten und um die Kinderbetreuung kümmerte, wobei nicht genau belegt ist, wie lange diese Wohngemeinschaft aufrecht blieb (Handke / Lenz 2006, S. 36-37; S. 299-300). Am 2. März notierte Wolfgang Kraus, der Handke in Paris besuchte, jedenfalls noch: »Handke lebt mit Ehepaar Pongratz.« (Wolfgang Kraus, Tagebuch 1973-94, ÖNB ÖLA 63/97) Seine Tochter Amina ging ab Anfang Februar 1974 in einen nahe gelegenen jüdischen Kindergarten, »den eine alte russische Jüdin nach den Grundsätzen von Maria Montessori führt[e]« (Handke / Lenz 2006, S. 38). Mitte Februar schien Handke in Paris bereits eingelebt zu sein: »Ja, ich atme in Paris richtig auf und habe im Moment ein Grausen vor Deutschland.« (Handke / Lenz 2006, S. 40). Zu dieser Zeit lernte er den österreichischen Kulturattaché Walter Greinert kennen, mit dem Handke seither befreundet ist und auf den die Figur des Gregor Keuschnig in Die Stunde der wahren Empfindung anspielt. Auch die Freundschaft und ein reger Briefwechsel mit dem Autor Nicolas Born fällt in die Pariser Jahre ab 1974 (Handke / Born 2005).

Neben der Arbeit an seinen Werkprojekten war Handkes Pariser Alltag geprägt von der Erziehung seiner Tochter – diese Erfahrungen sind später in der Kindergeschichte verarbeitet – sowie gemeinsamen Urlauben oder Reisen durch Frankreich und Österreich, in die USA oder zu Besuchen bei Hermann Lenz in Stuttgart. Seinen »Alltag« brachte er auch in Briefen, so zum Beispiel an Hermann Lenz am 30. April 1975, zum Ausdruck: »[...] die Betten sind gemacht, die Papier- und Abfallkörbe ausgeleert, das Geschirr vom Frühstück abgewaschen, die Waschmaschine gefüllt und in Gang gesetzt, die Blumen im Garten, wo ich jetzt sitze, begossen, und nun will ich die Viertelstunde, die mir bleibt, bis ich Amina von der Schule abholen gehe, benutzen, Ihnen wenigstens einen kurzen Brief zu schreiben.« (Handke / Lenz 2006, S. 73)

Umzug in die Vorstadt

Seinem Freund Alfred Kolleritsch teilte er am 3. März 1976 mit, dass er »schon Ende Juni hier wegziehe« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 98). Am 23. Mai 1976, bevor er eine längere »Streunerei durch Ö.[sterreich]« unternahm, äußerte sich Handke auch Lenz gegenüber zum erneuten Wohnungswechsel: »Bis Ende Juni werde ich noch hier sein und dann im September in eine neue Wohnung ziehen, von der ich noch nichts weiß.« (Handke / Lenz 2006, S. 100-101) Kurz darauf, Ende März 1976, zwangen ihn gesundheitliche Probleme für eine Woche zu einem Krankenhausaufenthalt. Am 30. September stand der Umzug unmittelbar bevor – Handke lebte zwischenzeitlich in einem Hotel in Meudon: »Morgen werden wir also in das Haus umziehen, das ich gemietet habe, im Nachbarort Clamart, einer stillen Vorstadt, und das Haus ist ein Steinhaus von ca. 1900 [...].« (Handke / Lenz 2006, S. 102)

Pariser Werke

Kurz nach seiner Ankunft in Paris verfasste Handke im Jänner 1974 sein Gedicht Die Sinnlosigkeit und das Glück, das er zusammen mit weiteren Gedichten und Aufsätzen für den Sammelband Als das Wünschen noch geholfen hat vorsah, dessen Entstehung großteils noch in die Kronberger Zeit fällt (Leben ohne Poesie, Blaues Gedicht). Eindrücke aus Paris verarbeitete er mit der Fotoserie Die Reise nach la défense 22.2.1974. Das Buch erschien im Juli 1974. Während er laut eigener Aussage noch im Mai »recht wenig« schrieb und »in den Tag hinein leb[t]e«, sowie »nicht viel mehr [tat] als lesen, Sockenwaschen, Kinderbücher vorlesen«, diente der neue Wohnort Paris spätestens ab Juni 1974 als Hintergrund für die Schauplätze der Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung, die Handke, wie er Lenz am 11. Juli mitteilte, »mit Herumfahren im Bus, Gehen, Sitzen und vor allem Schauen« vorbereitete und an der er bis zum Jänner 1975 arbeitete (Handke / Lenz 2006, S. 49-50). Neben der Arbeit an seinen Werkprojekten entstanden Aufsätze, unter anderem zu Hermann Lenz oder dem verstorbenen Franz Nabl sowie Gedichte (Die Laternen auf der Place Vendôme), die in Zeitungen oder Zeitschriften erstveröffentlicht und später in den Sammelband Das Ende des Flanierens aufgenommen wurden. Anfang 1975 gab Handke im Salzburger Residenz Verlag zusätzlich ein Buch mit frühen Erzählungen Nabls heraus und sammelte ab Mitte Juni Notizen für das geplante Stück Schulfrei oder Der Staat und der Tod, die in den manuskripten erschienen. Das Stück selbst wurde nie realisiert. Das von Wim Wenders im Herbst 1974 verfilmte Drehbuch Falsche Bewegung veröffentlichte der Suhrkamp Verlag am 25. Juni 1975 als Buch. Ab Ende des Jahres arbeitete Handke an seinem als Drehbuch verfassten und im August 1976 als Erzählung veröffentlichten Projekt Die linkshändige Frau, seinem Verleger schrieb er dazu am 30. September 1975: »Gern würde ich in diesem Jahr noch ein Filmdrehbuch schreiben können, damit ich etwas anderes gemacht hätte als nur Aufsätze und Artikel.« (Handke / Unseld 2012, S. 293) Neben den erwähnten »Aufsätzen und Artikel[n]« fallen in das Jahr 1975 auch Handkes erste Journalaufzeichnungen, die er für sein Buch Das Gewicht der Welt sammelte. Den geplanten Titel teilte er Unseld am 30. April mit, und erste Auszüge erschienen 1976 als Vorabdrucke in der Zeitschrift manuskripte. (ck)

Siglenverzeichnis Editorische Zeichen