Über die Dörfer (1981)

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Im dramatischen Gedicht Über die Dörfer, dem letzten Teil der Tetralogie Lang­same Heimkehr, kehrt Gregor für eine Erbschaftsangelegenheit zurück in sein Heimatdorf. Seine Zustimmung wird verlangt, Haus und Grund der Eltern mit einer Hypothek zu belegen, um seiner Schwester Sophie, Angestellte eines Dorfladens, die eigene Geschäftsgründung zu ermöglichen. Sein Bruder Hans, Arbeiter auf einer Großbaustelle, unterstützt ihren Wunsch. Gregor ist zunächst gegen die Gefährdung des Hauses und somit gegen die Pläne der Schwester. Der Konflikt macht ihm jedoch bewusst, dass Haus und Dorf seiner Erinnerung schon lange verloren sind. Nova (als Personifikation der Kunst) zeigt ihm und den anderen, dass es eine Rettung der Dinge im Erzählen gibt.

Das Elternhaus, der eigentliche Konfliktort, ist nie Schauplatz. Stattdessen werden zwei »Bilder« gesetzt – die Baustelle des Bruders mit der Arbeiterbara­cke (als Ort der Entfernung) und die Friedhofsmauer am Rande des Heimat­dorfs (als Ort der Erinnerung). An diesen beiden »Schwellenorten« wird über Haus und Dorf gesprochen. Die Geschichte hat einen autobiografischen Hintergrund. Die Vorbilder der Schauplätze sind Handkes Elternhaus in der Kärntner Gemeinde Griffen, der Friedhof von Stift Griffen mit dem Familiengrab und die Arbeitsstelle von Handkes Bruder beim Autobahnbau. Zu Recherchezwecken unternahm Handke ab 1976 viele Reisen in die Dörfer seiner Heimatgegend, welche in Notizbü­chern, Zeichnungen, Polaroids und Landkarten dokumentiert sind. Im April 1980 besuchte er seinen Bruder auf der Autobahnbaustelle in Oberkärnten. Die schriftlichen und fotografischen Notizen davon zeigen Motive, auf die sich Handke im Theaterstück ohne konkrete Ortsnennungen bezieht.

Das Stück entstand in Salzburg, wo Handke ab Sommer 1979 mit seiner Tochter lebte. Die erste Textfassung ist ein eng beschriebenes und noch stark korrigiertes Typoskript, das er im Oktober/November 1980 (in 49 Tagen) ge­schrieben hat. Diese Fassung unterscheidet sich deutlich von den folgenden fünf Überarbeitungen, in denen die Figuren wie auch der Konflikt »allgemei­ner« gestaltet und zugleich weiter zugespitzt wurden. Auch die gesangsartig-lyrischen Reden sind in der ersten Fassung noch nicht voll ausgeformt. In der ersten Textfassung hieß Nova noch Beatrice – Handke betonte damit die Verbindung zu Dantes gottähnlicher Beatrice, einer Personifikati­on der Kunst, aus der Göttlichen Komödie und Vita nova.

In Über die Dörfer findet man Anspielungen auf sehr unterschiedliche Traditionen des Theaters, auch der Literatur oder der Philosophie, vor allem aber Anleihen bei der antiken Tragödie. Die Lösung des Konflikts wird nicht wie im modernen Drama in handlungstreibenden Dialogen erreicht, sondern nach antikem Vorbild im nachfragenden, weit ausholenden, oft sogar lyrischen Sprechen. Handkes Verleger Siegfried Unseld notierte nach seiner Lektüre des Typoskripts im Dezember 1980: »das Stück ist in der Form vollkommen neuartig; ich kenne keinen Vergleich.« (Handke / Unseld 2012, S. 422) Er ahnte aber auch schon, wie die Reaktionen darauf ausfallen würden. Im Vorfeld der Publikation kam es zwischen ihm und Handke zu einem heftigen Kon­flikt, da er den noch unfertigen Text gegen die ausdrückliche Bitte, ihn niemandem zu zei­gen, ans Theater weitergegeben hatte. Handke drohte mit Austritt aus dem Verlag. Nach einer längeren Kommunikationspause zwischen Autor und Verleger erschien die Buchausgabe des Stücks im August 1981 schließlich doch wieder bei Suhrkamp.

Die Uraufführung von Über die Dörfer fand erst ein Jahr später, am 8. Au­gust 1982, auf der Freilichtbühne der Felsenreitschule bei den Salzburger Fest­spielen statt. Inszeniert wurde es auf Handkes Wunsch vom Filmregisseur Wim Wenders, mit dem er zuvor schon mehrfach zusammengearbeitet hatte. Zur Vorbereitung der Proben wurde der Text mit Handke besprochen. Das Ensemble unternahm eine Reise nach Kärnten zu den Vorbildern der Schau­plätze – zur Autobahnbaustelle und zum Stift Griffen mit dem Friedhof und dem Grab von Handkes Eltern. Das Bühnenbild stammte von dem Künstler Jean-Paul Chambas, den Handke aus Frankreich kannte (er war verantwortlich für das Bühnenbild einer französischen Inszenierung von Die Unvernünftigen sterben aus), und von Philippe Boudin. Die Kostüme entwarf die ebenfalls mit Handke befreundete Textilkünstlerin Domenika Kaesdorf; ihren Brief über die Arbeit an einem besonderen Mantel zitierte Handke in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) als Bild für sein Erzählen. (kp)

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