Publikumsbeschimpfung (1966)

Druckversion

Die direkte Beschimpfung des Publikums durch die vier Sprecher macht in dem Stück Publikumsbeschimpfung nur einen sehr ge­ringen Teil des textlichen Gesamtumfanges aus. Die ganze Dramaturgie des Stückes aber läuft auf diesen bis heute so stark wahrgenommenen letzten Teil hinaus. In den langen Passagen davor liefert Peter Handkes erstes Theaterstück in nicht immer rein deklamatorischen Sätzen eine angewandte Theorie eines neuen und anderen Theaters. Weniger dem jeweils anwesenden Publikum gilt die provokative Geste des Stückes, sondern dem bürgerlichen Theater an sich. Mit der Publikumsbeschimpfung sollte gleichsam die Institution des Theaters gesprengt und der Blick des Publikums auf Dinge gelenkt werden, die außerhalb oder jenseits der in Konventionen verbürgten Bühnenwirklich­keit liegen.

Die Uraufführung am 8. Juni 1966 erlebte Publikumsbeschimp­fung am Rande des etablierten Theaterbetriebes. Das Stück war im Rahmen der Experimenta 1 angesetzt, eine Veranstaltungsreihe, die das Frankfurter Theater am Turm für seine jungen Ta­lente und deren eher experimentelle Arbeiten ins Leben gerufen hatte. Nicht nur Peter Handke, sondern auch der Regisseur Claus Peymann wurde mit dem Stück im deutschsprachigen Raum schlagartig bekannt. Publikumsbeschimpfung wurde auf zahlreichen Bühnen nachgespielt. Mit einer einmaligen Provokation war es in diesem Fall nicht getan. Das Stück markiert so eine wesentliche Station nicht allein in der Erprobung, sondern vor allem auch in der Etablierung neuer Theaterformen.

Als ein »verbales Rockkonzert« bezeichnete Handke sein Stück Publikumsbeschimpfung in einem Interview aus dem Jahr 1970. Zu jener Zeit war der Autor bereits Kult. Die Medien nann­ten ihn den »fünften Beatle« und zeigten ihn in betont coolen Posen: beim Flippern oder unter weiblichen Fans bei Konzerten, ja selbst in Comics tauchte das ikonografische Bild des Autors mit dunkler Brille damals auf. Mit zum Image von Peter Handke als dem ersten Popstar der deutschsprachigen Literatur gehörte, dass er gerne Schallplatten unter dem Arm trug und bei Le­sungen mit Beat-Bands auftrat. Die E-Gitarre war das Leitinstru­ment der Zeit. Der Spiegel besuchte den Autor in seiner dama­ligen Wohnung in Paris und widmete ihm eine lange Geschichte. Diese festigte das mediale Bild: ein hochsensibler Autor, der da und dort zur Provokation neigt und politisch schwer einzuord­nen ist. Linke Studenten in Berlin formierten einen Arbeitskreis, um seine Erfolge ideologisch zu erklären. Handkes Literatur und sein Auftreten wurden als eine notwendige Befreiung vom mo­ralischen Mief der Nachkriegszeit gesehen. (kk)

Werkgenese Siglenverzeichnis Editorische Zeichen