| Immer wenn ein Forscher den Kanon einer Epoche verläßt und sich mit einem durch keine Agenturen der historischen Selektion
                           gefilterten Textkorpus beschäftigt, wird sichtbar, wie sehr die literarische Produktion jedes Zeitraums von ihren jeweiligen
                           politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Koordinaten geprägt ist. Wer die Ausdauer und Zähigkeit aufbringt, sich durch
                           die Einförmigkeit der »Kriegsdichtung«, die der Gegenstand von Eberhard Sauermanns Studie ist, nicht abschrecken zu lassen,
                           kann aufschlußreiche Einsichten gewinnen: Ein überwältigendes Sprachgeröll hat sich – aus dem Abstand eines knappen Jahrhunderts
                           betrachtet – zu einer kompakten ideologischen Masse sedimentiert. Besonders die Lyrik hat sich, nicht zum ersten Mal, als
                           Träger pompöser Banalitäten erwiesen. Man schätzt, daß in den Augusttagen 1914 allein in Deutschland täglich 50.000 Kriegsgedichte
                           entstanden sind (S. 340).
                         Sauermann kommt das Verdienst zu, erstmals extensiv der österreichischen Kriegsliteratur in zeitgenössischen Almanachen, besonders
                           in den Jahrbüchern und Zeitschriften von Kriegsarchiv, Kriegshilfsbüro und anderen Kriegsfürsorgeorganisationen nachgegangen
                           zu sein. Anhand zahlreicher, oft abstoßender Beispiele zeichnet der Autor das ideologische und propagandistische Profil (von
                           einem literarischen zu sprechen, wäre unangebracht) dieser Publikationen nach. Deprimierend ist es zu sehen, wie wenig souverän
                           und wie wirkungsorientiert diese Literatur auftrat. Auch prominente Schriftsteller wie Marie Ebner von Eschenbach, Albert
                           Ehrenstein, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Peter Rosegger, Felix
                           Salten, Anton Wildgans und Stefan Zweig fügen sich wenigstens mit einem Teil ihres Werkes nahtlos in den kriegspropagandistischen
                           Kontext ein, auch wenn einige damit »ihre eigenen literatur- und kulturpolitischen Interessen geltend machten« (S. 359). Es
                           sei hier, als Ergänzung zu dem reichhaltigen, von Sauermann vorgestellten Material, etwa auch auf die »Kriegsabende« von Egon
                           Friedell im Wiener Konzerthaus hingewiesen, in denen er mit Hilfe primitiver Völkerstereotypien unter anderem die Italiener
                           als notorische Verräter und die Franzosen als »Westbarbaren« verunglimpfte. Friedell gehört wie Thomas Mann zu jenen, die
                           später ihre prononciert nationalistischen Schriften weitgehend verschwiegen haben.
                         Angesichts der Qualität der untersuchten Werke ist es durchaus legitim, auf ihre ästhetische Analyse zu verzichten. Zuweilen
                           scheinen selbst die knappen Kommentare, mit denen der Autor die zitierten Texte versieht, überflüssig. Die Ergebnisse der
                           Klassifizierung von rund 300 Almanachbeiträgen nach thematischen Gruppen sind wenig überraschend: In den Publikationen der
                           Kriegshilfsorganisationen dominiert das Thema »Kampf« (rund 42%) vor den Themen »Wesen und Kriegsziele der Eigenen, Verbündeten
                           und Gegner« (23,5%), in anderen während des Ersten Weltkriegs erschienenen Almanachen ist die Reihenfolge umgekehrt (22,5%
                           vs. 28,5%). Weitere beliebte Themen sind »Aufruf zum Kampf«, »Nach dem Kampf«, »Gott« und »Heldentod« (S. 348).
                         Erklärungsbedürftig ist weniger die Bestenliste der Themen, sondern wie es dazu kommen konnte, daß der weitaus größte Teil
                           der deutschsprachigen Schriftsteller im allgemeinen und der österreichischen im besonderen unabhängig von ihrer literarischen
                           Potenz einer solchen thematischen und ideologischen Uniformität verfallen konnte. Sauermann gelingt es einsichtig zu machen,
                           wie Kriegsarchiv und Kriegsfürsorge Schriftstellern die Möglichkeit boten, dem Einsatz an der Front zu entgehen und zugleich
                           eigene Geltungsansprüche durchzusetzen. Dabei wäre der Wunsch, dem Kriegsdienst zu entkommen, keineswegs moralisch verwerflich,
                           wenn er nicht mit der Glorifizierung von Kampf, Heldentod und Aufopferung für das Vaterland verbunden gewesen wäre.
                         Die Stärke der vorliegenden Studie liegt darin, daß die literaturgeschichtliche Bestandsaufnahme von einer präzisen Institutionengeschichte
                           flankiert wird. Eindringlich zeigt sie, daß Institutionen wie die Österreichische Gesellschaft vom Roten Kreuz, das Kriegshilfsbüro
                           im Ministerium des Innern, das Kriegsfürsorgeamt im Kriegsministerium, die Kriegshilfsorganisation »Schwarz-Gelbes Kreuz«
                           oder das Komitee für den Witwen- und Waisenhilfsfond nur wenig zur Linderung der unvorstellbaren Not der Kriegsinvaliden,
                           -witwen und -waisen, umso mehr aber zur Kriegspropaganda beitrugen. Eklatant ist dabei, daß invalide Offiziere bzw. deren
                           Witwen und Waisen im Vergleich zu invaliden Soldaten bzw. deren Angehörigen um ein Vielfaches mehr Unterstützung erhielten
                           (S. 298). Im übrigen wird deutlich, wie sehr diese angeblich karitativen Organisationen Prestige- und Profilierungsbedürfnissen
                           ihrer Betreiber dienten. Politischer Zweck der Kriegsfürsorge war es demnach weniger, für die Opfer des Krieges, als für seine
                           Fortführung bis zum Sieg zu sorgen.
                         Sauermanns Kronzeuge für seine Kritik der Kriegsliteratur ist Karl Kraus. Seine Satiren wie sein Drama »Die letzten Tage der
                           Menschheit« liefern dem Literaturhistoriker die schärfste Munition gegen die affirmative Kriegsdichtung. Mit feinem Gespür
                           für das Verräterische des Sprachgebrauchs deckte Kraus die Verquickung von kapitalistischem Gewinnstreben und Kriegshetze
                           auf. Wie sehr gerade die neuen Medien der Massenpresse, der Fotografie und des Films vom Kriegsgeschehen profitierten und
                           wie sehr eine sensationslüsterne Kriegspropaganda der Logik und Ästhetik der Massenmedien entgegenkam, hat Kraus mit unnachahmlichem
                           Scharfsinn vorgeführt. Trotzdem weist Sauermann zurecht darauf hin, daß politische und mediale Manipulation die in allen Gesellschaftsschichten
                           virulente Kriegsbegeisterung nicht zureichend erklärt. Sie ist auch als Reaktion auf die Angst und Orientierungslosigkeit,
                           auf Identitätsverlust und gesellschaftliche Desintegration in der Vorkriegszeit zu verstehen. Mit dem Krieg verband sich demnach
                           die Hoffnung auf eine neue Einheit und Sinnkonstitution, auf eine neue Intensität des Lebens. Entgegen den ideologischen und
                           teleologischen Versprechen der Kriegspropaganda verschärfte der Krieg jedoch als weiterer Modernitätsschub die Zersplitterung
                           des Wissens, die gesellschaftliche Anomie und die Dissoziation des Subjekts: Dies hat Robert Musil schon früh scharfsinnig
                           erkannt – seine Essays wären eine gewichtige Ergänzung zu Harold D. Lasswells »Propaganda Technique in the World War« (1927),
                           auf den sich Sauermann hauptsächlich beruft (S. 341f.).
                         Besonders spannend wird die Studie dann, wenn sie sich mit Texten auseinandersetzt, die zwar in den Kontext der Kriegspropaganda
                           gebracht wurden, einer solchen Instrumentalisierung aber widerstrebten. Exemplarisch ist Hofmannsthals Versuch, Trakl in den
                           Dienst der Kriegsverherrlichung zu nehmen: In dem von ihm herausgegebenen »Österreichischen Almanach auf das Jahr 1916« gibt
                           Hofmannsthal wider besseres Wissen eine Verwundung (statt Selbstmord) als Ursache für Trakls Tod an, positioniert sein Gedicht
                           »Nacht« vor Felix Brauns »Grabschrift auf einen Tiroler Kaiserjäger« und bezeichnet es fälschlich als sein letztes. Trakls
                           tatsächlich letzten Gedichte wie »Klage« (II) oder »Grodek« hätten sich in ihren Bildern der Zerstörung und Ausweglosigkeit
                           kaum zur Mythisierung des Heldentodes geeignet (S. 60–62).
                         Gerade anhand solcher Beispiele bewußten Mißverstehens zeigt sich die Dominanz eines ›Textmilieus‹, das sich auch Widersetzliches
                           zu assimilieren trachtet. Dem Gros der in den Anthologien publizierten Texte mußte bedauerlicherweise keine Gewalt angetan
                           werden. Die abgenutzten Metaphern, schematischen Bilder, Floskeln und Sprachkonventionen, mit denen Kampf, Krieg, Opfer, Heldentod
                           dargestellt wurden, konnten jeder Erfahrung entbehren. Wie innig im Ersten Weltkrieg politische und ökonomische Kräfte mit
                           einer appellativen Literatur verschmelzen, macht dieses Buch auf erschreckende Weise evident. Es führt exemplarisch vor, wie
                           mühelos die von den Schriftstellern beanspruchte geistige Führungsrolle zum Handlangerdienst für eine mörderische Kriegspolitik
                           pervertieren kann. Als literaturgeschichtliches Referenzwerk ist es ebenso unentbehrlich wie als Informationsquelle für einen
                           kritischen Literaturunterricht.
                         Roland Innerhofer |  |