| Grundeintrag 1998
                           
                           [2/ S. 212:] Geschichte und institutionelle Einbindung
                           
                             Das »Institut des Textes et Manuscrits Modernes« (ITEM; vgl. http://www.item.fr/) ist eine ausschließlich vom französischen
                           »Centre National de la recherche scientifique« (CNRS) getragene Forschungsgruppe. Sie ist nicht direkt in das französische
                           Universitätswesen eingebunden, wenngleich zahlreiche Hochschullehrer an den Projekten mitarbeiten. Sie ging 1982 aus der 1969
                           gegründeten »Equipe Heine« hervor, die mit der Erschließung, Interpretation und Edition der 1966 vom französischen Staat erworbenen
                           Heine-Handschriften beauftragt war. Die Arbeit an den Handschriften Heinrich Heines hatte den Kontakt mit anderen Handschriften-Nachlässen
                           und -sammlungen (Louis Aragon, Gustave Flaubert, James Joyce, Marcel Proust, Jean-Paul Sartre, Paul Valéry, Emile Zola) gefördert,
                           so daß sich aus den gemeinsamen theoretischen und praktischen Fragen schließlich ein gemeinsames Forschungsobjekt entwickelt
                           hat, das in der Gründung des ITEM seinen konkreten Niederschlag fand. Geographisch [2/ S. 213:]  angesiedelt ist das ITEM in zwei berühmten Pariser Institutionen: der Bibliothèque nationale de France (61, rue de Richelieu,
                           F-75002 Paris) und der Ecole Normale Supérieure (45, rue d’Ulm, F-75005 Paris). Ein Kooperationsprogramm verbindet das ITEM
                           mit beiden Institutionen. Derzeitiger Leiter des ITEM ist Jean-Louis Lebrave, der sich als Germanist und Linguist über Heine-Handschriften habilitiert
                           hat und an Hypertextprojekten arbeitet; seine Vertreterin ist Claire Bustarret, eine Spezialistin für moderne Kodikologie.
                         Struktur
                           
                             Dem Institut gehören insgesamt 120 Personen an. Zwanzig davon haben feste, vom CNRS bezahlte Stellen. Dazu kommen zehn Doktoranden,
                           sechzig französische und dreißig ausländische Hochschullehrer, deren Forschungsgebiet sich ganz oder teilweise mit dem Forschungsprogramm
                           des ITEM deckt.
                         Die wissenschaftliche Struktur des Instituts besteht aus zehn permanenten Gruppen und drei weiteren, vertraglich gebundenen
                           Projektgruppen. Die permanenten Gruppen wiederum setzen sich aus sechs auf Autoren spezialisierten (Flaubert, Joyce, Proust,
                           Sartre, Valéry, Zola) und vier methodologisch orientierten Gruppen (Technik und Praxis des Schreibens, Linguistik, Autobiographie,
                           Genetische Edition und Hypertext) zusammen. Die Mitarbeit des ITEM an drei vertraglich gebundenen Programmen betrifft das
                           von der Staatsbibliothek zu Berlin koordinierte EU-Projekt MALVINE (Manuscripts and Letters via Integrated Networks in Europe),
                           das CNRS-eigene Forschungsprojekt »Archives de la création« sowie das Kognitionsprojekt »Philectre« (Philologie électronique),
                           das im Rahmen öffentlicher und privater französischer Forschungsinstitutionen durchgeführt wird.
                         Wissenschaftlicher Auftrag
                           
                             Im Unterschied zu anderen Institutionen, die sich mit literarischen Handschriften befassen, besitzt das ITEM im Prinzip kein
                           eigenes Archivmaterial.[1] Die Handschriften, die der Forschung zugrunde liegen, befinden sich in öffentlichen Bibliotheken und Archiven (wobei den
                           Beständen der Bibliothèque nationale de France natürlich der Vorrang zusteht: Flaubert, Proust, Sartre, Valéry, Zola).
                         Ziel der Forschung ist es, die Handschriften nicht als symbolisches Erbe oder stummes Archivmaterial, sondern als wissenschaftliches [2/ S. 214:]  Objekt zu betrachten und aus ihnen die Dynamik der Schreibprozesse zu rekonstruieren. Dies bedeutet konkret, daß das gesamte
                           zu einem literarischen Werk überlieferte Material (Notizhefte, Exzerpte, Wort- und Namenslisten, Entwürfe, Szenarios, Brouillons,
                           Reinschriften, Druckvorlagen, Druckfahnen, vom Autor handschriftlich korrigierte Ausgaben) erschlossen, datiert, transkribiert
                           und zu einem »dossier génétique« gruppiert werden muß. Dieser ist sodann Ausgangspunkt von zwei möglichen Wegen der Forschung:
                           einerseits dem Weg der Interpretation, der anhand aller Schreibspuren und Umarbeitungen (tilgen, erweitern, ersetzen, umstellen)
                           die ›allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben‹, also die Genese der Texte nachvollzieht und kommentiert, und andererseits
                           dem Weg der Edition, über den alles genetische Material zugänglich gemacht wird (via Faksimile und Transkription) und auf
                           dem die ersten elektronischen genetischen Editionen entstehen. Publikationen
                           
                             Ein Teil der Forschungsergebnisse des ITEM erscheint in der Reihe »Textes et Manuscrits« (bisher Bde. 1-11. Paris: CNRS Éditions)
                           und in der 1992 gegründeten Zeitschrift »Genesis« (bisher Bde. 1-14. Paris: Place). Weiterhin informiert ein reich illustrierter
                           Sammelband, »Les Manuscrits des écrivains« (Hg. von Louis Hay. Paris: Hachette, CNRS Éditions 1993), sowie eine von Almuth
                           Grésillon veröffentlichte Einführung, »Eléments de critique génétique. Lire les manuscrits modernes« (Paris: Puf 1994),[2] über die inzwischen unter dem Namen der »critique génétique« bekannt gewordene Forschungsrichtung.
                         Perspektiven
                           
                             Die textgenetische Forschung wird sich in den folgenden Jahren höchstwahrscheinlich in zwei Richtungen weiterentwickeln. Einerseits
                           werden sich die Einsichten in Schreibprozesse generalisieren und womöglich als kognitive Produktionsprozesse interpretieren
                           lassen; diese wiederum müssten sich auf anderen Gebieten künstlerischen und geistigen Schaffens in ähnlicher Weise beschreiben
                           lassen. Es bestehen bereits derartige Ansätze in der Musikwissenschaft, Architekturtheorie, Kunstgeschichte sowie in den Naturwissenschaften.
                           Zum anderen öffnen die neuen Medien Möglichkeiten, Schreibprozesse dynamisch darzustellen, die keine noch so perfekte historisch- [2/ S. 215:] kritische Ausgabe auf Papier je erreichen kann. Damit wird die überlieferte Hierarchie zwischen Text und Apparat endgültig
                           ersetzt durch eine Darbietung aller genetischen Textzeugen, die der Leser in der von ihm bestimmten Folge und Vollständigkeit
                           konsultieren, interpretieren oder edieren kann. Editionen dieser Art sind zur Zeit zu Roland Barthes, Edmond Jabès, James
                           Joyce und Friedrich Nietzsche in Arbeit. Wissenschaftliche Kooperationen
                           
                             Zu den schon erwähnten Projekten treten immer mehr Verbindungen mit dem französischen Universitätswesen. Mitglieder des ITEM
                           übernehmen reguläre Lehrveranstaltungen an der Universität und betreuen Dissertationen, über die der wissenschaftliche Nachwuchs
                           herangezogen wird. Ausländische Kooperationsprogramme bestehen seit vielen Jahren mit Brasilien und Rußland, während der Austausch
                           mit dem deutschsprachigen Ausland oder auch mit Italien sozusagen spontan gepflegt wird, d. h. über Vorträge, gemeinsame Kolloquien
                           und Zeitschriftenaufsätze.
                         Almuth Grésillon
                         Anmerkungen
                           
                           1]
                           Louis Aragon hat im Jahr 1976 seine eigenen Handschriften und die von Elsa Triolet dem CNRS vermacht und unser Institut mit
                           der wissenschaftlichen Erschließung dieser Nachlässe betraut, die zur Zeit noch im ITEM aufbewahrt sind; über deren weiteren
                           Verbleib - eventuell als Depositum in einer Aragon-Triolet-Stiftung - wird noch beraten.
                         2]
                           Deutsche Fassung: Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ›critique génétique‹. Bern: Lang 1999 (=
                           Arbeiten zur Editionswissenschaft 4).
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