Kultur als Erinnerung

Die Ausarbeitung eines genuin kulturwissenschaftlichen Modells der Erinnerung haben besonders Jan und Aleida Assmann geleistet.[6] Während der Ägyptologe Jan Assmann die Theorie des kulturellen Gedächtnisses in der Auseinandersetzung mit der Entstehung
der frühen [3/ S. 76:] Hochkulturen in Ägypten, Israel und Griechenland (sowie der Keilschriftkulturen) und deren historisch neuartigem Vergangenheitsbezug
entwickelt und ausgeformt hat, spürt die Anglistin Aleida Assmann den verschiedenen Erscheinungsformen dieses kulturellen
Gedächtnisses vor allem auf dem Gebiet der Literatur, aber auch im zeitgeschichtlichen und politischen Kontext nach. Beide
verstehen Begriff und Konzept der Erinnerung wesentlich auch als zentrales neues kulturwissenschaftliches Paradigma. Grundlegend
ist dabei die Einsicht, daß das Phänomen des Gedächtnisses nicht allein auf individualpsychologischer Ebene, sondern nur unter
Einbeziehung seiner gesellschaftlichen Basis verstanden werden kann. Bereits für den französischen Soziologen Maurice Halbwachs
stellte die »mémoire collective« weit mehr als eine bloße Metapher dar.[7] Sein zentrales Anliegen war der Nachweis, daß und in welcher Weise das Gedächtnis des Einzelnen vom Kollektiv geprägt wird
und dadurch umgekehrt auch dessen Identität begründet. Es geht dabei jedoch keineswegs um die spekulative Annahme einer übergeordneten
Substanz oder einer Art kollektiver Seele (wie etwa in C. G. Jungs Modell des »kollektiven Unbewußten«), aber auch nicht bloß
um die gemeinsame Schnittmenge vieler individueller Gedächtnisse, sondern vielmehr um die Frage, wie sich in sozialer Interdependenz
Bewußtsein und Gedächtnis der Mitglieder eines Kollektivs ausformen. Paradox läßt sich dieses Phänomen so formulieren: »Zwar
›haben‹ Kollektive kein Gedächtnis, aber sie bestimmen das Gedächtnis ihrer Glieder.«[8]
Das kollektive Gedächtnis wird nun, über Halbwachs hinausgehend, weiter differenziert: Es setzt sich aus zwei Bereichen zusammen,
nämlich dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis, deren Verhältnis in verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedlich
ist.[9] Das kulturelle Gedächtnis stellt also einen Teilbereich des kollektiven Gedächtnisses dar. Über die von Halbwachs betonte
soziale Bedingtheit hinaus soll das individuelle Gedächtnis damit auch als wesentlich kulturell geprägt aufgewiesen werden.
Die Frage, welche Inhalte das Einzelbewußtsein in sein Gedächtnis aufnimmt, muß damit (unabhängig von dessen neuronalen Grundlagen)
vor allem im Blick auf kulturelle Bedingungen beantwortet werden. Die kulturwissenschaftliche Perspektive hat ihr Augenmerk
darauf zu richten, wie Kollektive mit Hilfe von Speichermedien ihr Gedächtnis organisieren und wie diese spezifischen kulturellen
Formen die Struktur des Gedächtnisses prägen.
Den Begriff der Tradition im Sinn ungebrochener Überlieferung erweiternd soll damit das Gedächtnis als Phänomen eigenen Rechts
konstituiert werden, das Gesellschaft und Kultur überhaupt erst ermöglicht. Gegenüber dem Kontinuität implizierenden Begriff
der Tradition [3/ S. 77:] hat derjenige der kulturellen Erinnerung die grundlegende Erfahrung von Unterbrechung und Tod zur Voraussetzung. Die Erinnerung
an die Toten erscheint dabei als der grundlegende Akt der Kultur. Erinnerung wird somit als ein Prozeß bewußt, der sich immer
über Brüche hinweg und von je verschiedenen Blickwinkeln aus vollzieht, womit zugleich dem Aspekt der Rezeption konstitutive
Bedeutung zukommt. Insofern beansprucht der Begriff des kulturellen Gedächtnisses auf methodologischer Ebene, eine verdrängte
Perspektivenvielfalt sowie immanente Differenzen aufzudecken: Erst das Bewußtsein von Diskontinuität vermag die Dauer der
Zeit sichtbar zu machen und erlaubt, die Formen kultureller Kontinuierung herauszuarbeiten. Das originär kulturelle Element
liegt in den Formen des Andenkens seitens der Nachwelt. In dieser Ausrichtung auf die kommunikative und kulturelle Vergegenwärtigung
von Vergangenheit ist das kollektive Gedächtnis konzeptionell primär auf die Geschichte bezogen.
Das kommunikative Gedächtnis ist auf der Ebene des zwischenmenschlichen Umgangs und der alltäglichen Kommunikation angesiedelt.
Es bildet sich auf dieser und vergeht auch mit ihr. Für sein Funktionieren ist daher das Vergessen genauso wichtig wie das
Erinnern. Man kann das kommunikative Gedächtnis, das jeweils etwa drei bis vier Generationen umfaßt und verbindet, somit auch
als das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft beschreiben. Die in ihm enthaltenen Erinnerungen zeichnen sich nicht durch Genauigkeit
oder längere Haltbarkeit aus. Sie beziehen sich prinzipiell auf Ereignisse der jüngeren Vergangenheit und gehen zumindest
mittelbar auf authentische Erlebnisse zurück, die immer in einen spezifischen zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet und
ohne dessen Kenntnis nicht zu verstehen sind. Da dieser Typus von Erinnerung zudem nur sehr eingeschränkt sprachlich mitteilbar
ist, wird die Heftigkeit der Auseinandersetzungen und Mißverständnisse verständlich, die die Einordnung und Bewertung vergangener
Geschehnisse hier mitunter begleitet. Ein wichtiger Zeitpunkt innerhalb des kommunikativen Erinnerns scheint dabei besonders
vierzig Jahre nach einschneidenden Erlebnissen und Erfahrungen erreicht, wenn deren Zeugen in ein Alter kommen, in dem zum
einen verstärkt der Wunsch nach Erinnerung und Weitergabe der Geschichte aufkommt, zum anderen der Übergang zur nur noch medial
vermittelten Erinnerung vollzogen werden muß. So läßt sich beispielsweise plausibel erklären, weshalb die seither immer wieder
neu aufflammenden heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um die Geschichte des Dritten Reiches ihren Anfang gerade in
der Mitte der 80er Jahre nahmen.
[3/ S. 78:] Das kulturelle Gedächtnis dagegen wird ausschließlich durch die vom Menschen geschaffenen Artefakte konstituiert und entfaltet
seine Wirksamkeit nur auf dem Weg medialer Vermittlung. Im Unterschied zum verhältnismäßig diffusen kommunikativen Gedächtnis
stellt es eine Form institutionalisierten Erinnerns dar, die durch Rituale, Feste und Mythen oder durch Denkmäler, Bilder
und Texte vollzogen wird. Während am kommunikativen Gedächtnis naturgemäß jedes Mitglied der Gruppe partizipieren kann, ist
die Teilnahme am kulturellen Gedächtnis immer verschiedensten sozialen Differenzierungen und Einschränkungen unterworfen.
Es ist auf eine Schicht von Spezialisten angewiesen, die seine Inhalte pflegen und an die nachfolgenden Generationen weitergeben.
Das kulturelle Gedächtnis ist damit gleichsam das generationenübergreifende Langzeitgedächtnis der Gesellschaft. Diese Gedächtnisform
mit der größten Reichweite ist aber in ihrer im Lauf der Zeit zunehmenden Vielfalt unausweichlich auch von Widersprüchen und
subversiven Momenten geprägt.
Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses soll dazu dienen, die Frage zu beantworten, wie sich Gesellschaften erinnern und
wie sie in dieser Erinnerung ein Bild von sich gewinnen. Ausgehend von der Feststellung, daß Kollektive ein Bewußtsein ihrer
Eigenart meist auf bestimmte Ereignisse der Vergangenheit gründen, erweist sich die Herstellung kollektiver Identität als
eine der wesentlichen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses. Dieses stellt den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft her,
indem es die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet. An dieser identitätsbildenden Kraft des kulturellen Gedächtnisses,
das wesentlich auch normativer Natur ist, wird zugleich deutlich, daß Vergangenheit nicht zweckfrei um ihrer selbst willen
erinnert wird. Jeder Vergangenheitsbezug setzt zwar voraus, daß es Zeugnisse einer von der Gegenwart deutlich unterscheidbaren
Vergangenheit gibt, dennoch stellt Vergangenheit immer auch schon das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion dar und wird
nur unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart erinnert. Kultur entsteht somit erst im Bezug auf Vergangenheit,
erzeugt aber diese Vergangenheit zugleich selbst. Dieser konstruktivistische Grundzug kulturellen Erinnerns, der schon in
Halbwachs’ These einer sozialen Konstruktion der Vergangenheit angelegt war, stimmt mit konstruktivistischen Gedächtnistheorien
überein, die Gedächtnis nicht mehr als Speicher, sondern als je gegenwärtig und in aktuellem Bezugsrahmen sich vollziehende
Erzeugung von Vergangenheit begreifen.
Diese Differenzierungen des Begriffs der kollektiven Erinnerung führen zwangsläufig zur Frage nach den Ursachen und Mechanismen
kulturellen Wandels und damit zugleich auch nach der Dynamik von [3/ S. 79:] Erinnerungsprozessen. So muß als wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung kultureller Dynamik die Entstehung der Schrift
angesehen werden.[10] Im Unterschied zu der in rituellen Kontexten vollzogenen Erinnerung und Sinnbewahrung fördert die Schrift Abweichung und
führt so zu einem kulturinhärenten Innovationsdruck.[11] Wiederholung wird uninteressant und problematisch, da sie für den Prozeß der Überlieferung nicht mehr strukturell notwendig
ist. Die Unterscheidung zwischen Altem und Neuem wird damit zu einem wesentlichen Kriterium. Ohnehin bedeutet Schriftlichkeit
nicht notwendig Kontinuität und zuverlässige Sinnspeicherung, sondern bringt auch spezifische Formen des Vergessens mit sich.
Im Lauf der Zeit entstehen so innerhalb des kulturellen Gedächtnisses Bereiche des Abgelegenen und in den Hintergrund Versunkenen.
Mit der Schriftlichkeit bildet sich zudem auch ein anderes Verhältnis des Individuums zur Überlieferung, das von einem höheren
Maß an Distanz geprägt ist: Tradition kann bzw. muß nun auch als etwas Äußeres und Fremdes erfahren werden, dem gegenüber
sich der Einzelne als isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen erfährt.
In Schriftkulturen besteht das kulturelle Gedächtnis vor allem im Umgang mit grundlegenden Texten, die abgeschlossen und nicht
mehr fortschreibbar sind. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Prozeß der Kanonbildung, die Jan Assmann in etymologischer,
historischer und wirkungsgeschichtlicher Perspektive eingehend untersucht. An den kanonischen Text schließen sich Kommentare
und Interpretationen an. Zugleich sind im Kanon die entscheidenden Werte einer Gemeinschaft enthalten, die befolgt und verwirklicht
werden sollen. Er stellt somit einerseits die Grundlage der kollektiven Identitätsbildung dar, begründet aber gleichzeitig
- in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Text, Hörer und Interpreten - auch die soziale Differenzierung. Zugleich
gewinnt nun die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit neuartiges Gewicht, da vor der Existenz ›klassischer‹
Texte nur zwischen mythischer Urzeit und Gegenwart unterschieden wird.
Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses meint damit hier sowohl etwas Spezifisches als auch etwas sehr Weitreichendes. Wird
Erinnerung so weitgehend mit Kultur gleichgesetzt, dann ist der Begriff der Erinnerung auch mit den charakteristischen Ambivalenzen
des Kulturbegriffs behaftet. Kultur wird hier einerseits primär über die Artefakte, nämlich symbolische Formen aller Art wie
Tänze, Lieder, Sprichwörter oder Mythen sowie andererseits über Kunstwerke und hier in besonderem Maß über Texte definiert.
Damit verbindet sich der Anspruch, eine wissenssoziologische mit einer mediengeschichtlichen [3/ S. 80:] Erklärungsweise zu vereinen. Erst der Text (nicht schon die Schrift als solche) ermöglicht den besonders für die spezifisch
griechische Auslegungskultur maßgeblichen Prozeß kultureller Entwicklung als innerliterarische, intertextuelle Auseinandersetzung.
Insofern ist dieses Erinnerungskonzept der stärker philologisch orientierten und textbezogenen Ausrichtung innerhalb der Kulturwissenschaften
zuzurechnen, im Gegensatz zu einem stärker sozialwissenschaftlichen und ethnologischen, zugleich weniger auf die Tradition
bezogenen Zugang. Dem entspricht auch die - für die frühen Kulturen fraglos zutreffende - Betonung des sakralen, zugleich
alltagsenthobenen und elitären Zuges jeder kulturellen Erinnerung. Das Wesen der Erinnerung wird dabei aber nur unscharf definiert.
Es bleibt zum Beispiel offen, ob den kulturellen Artefakten Vergangenheitsbezug per se oder aber durch die von ihnen hergestellte
Erinnerung an ein konkretes mythisches oder historisches Ereignis eigen ist.
Diese Gleichsetzung von Kultur mit Artefakten erweist sich jedoch als ganz unvereinbar mit der Funktion, die dem kulturellen
Gedächtnis hier zugeschrieben wird. Deshalb umgreift der Begriff ein engeres, vornehmlich auf die Kunst bezogenes und zugleich
ein weites, auf alle Bereiche der Gesellschaft bezogenes Verständnis. Das kulturelle Gedächtnis im engeren Sinn und seine
Funktionen fallen ineins. Die Artefakte transportieren ein Wissen, das individuelle und kollektive Identität herstellt. In
Übereinstimmung mit semiotischen Konzepten ist Kultur hier wesentlich auch auf symbolischem Weg hergestellte Gemeinsamkeit,
in der »der in gemeinsamer Sprache, gemeinsamem Wissen und gemeinsamer Erinnerung kodierte und artikulierte kulturelle Sinn,
d. h. der Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen«[12] zirkuliert. Vor diesem Hintergrund verliert aber die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis an
Plausibilität, denn offenbar muß auch das kommunikative Gedächtnis als wesentlicher Bestandteil von Kultur angesehen werden.
Besonders im Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft ist es jedoch zweifelhaft geworden, inwiefern Kultur als ein in bestimmten
Artefakten oder gar in einem kulturellen Kanon verkörperter Bestand von Werten angesehen werden kann. Die Frage, was moderne
Gesellschaften zusammenhält, kann nicht mehr einfach durch den Verweis auf durch Artefakte vermittelte Werte beantwortet werden.
Gesellschaft scheint eher Differenzen zu erzeugen als durch gemeinsame Werte zusammengehalten zu werden. Für Anthony Giddens
ist die »posttraditionale« Gesellschaft gerade durch einen geänderten Stellenwert [3/ S. 81:] der Tradition (die weitgehend mit Halbwachs’ kollektivem Gedächtnis zusammenfällt) geprägt:
In vormodernen Gesellschaften sind Tradition und die Alltagsroutinen eng miteinander verknüpft. In der posttraditionalen Gesellschaft
dagegen wird die Routine leer, solange sie nicht mit Prozessen institutionalisierter Reflexivität verzahnt wird. Es gibt keine
logischen Gründe oder solche einer authentischen Moral, weshalb ich heute das gleiche wie gestern tun sollte; und gerade hierin
besteht die Funktion der Tradition.[13]
Auch der für den Begriff der kulturellen Erinnerung zentrale Aspekt der kollektiven Identitätsbildung muß in bezug auf die
Gegenwart wesentlich differenziert werden. Insofern kulturelle Artefakte noch identitätsbildende Wirkung besitzen, liegt diese
auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen und gerade nicht in einem diesen immanenten Gehalt.[14]
Das Konzept der Erinnerung erweist sich damit hinsichtlich der historischen Erklärung der kulturellen Tradition als weitaus
produktiver denn als Analyse der Gegenwart der Kultur. So gesehen stellt sich vor allem die Frage, welche Auswirkungen die
Vorherrschaft digitaler Gedächtnismedien sowohl für die Metaphorik als auch für das Erinnern selbst haben wird - und insofern
das Konzept der Erinnerung zur bloßen Beschreibung verschiedener Erscheinungsformen des kulturellen Gedächtnisses in ihrer
vom Wandel der Medien bestimmten Gestalt tendiert, scheint es auf der Ebene der Theoriebildung nur eingeschränkt in der Lage,
die Dynamik aktueller kultureller Entwicklungen zu erklären. Der Begriff der Erinnerung muß erheblich weiter gefaßt werden,
wenn er für die Kulturwissenschaften universale Gültigkeit beanspruchen will. Diese Konzeption von Kultur als Gedächtnis ist
jedoch auch von ihrem normativen Anspruch her zu begreifen. Von der Lobpreisung der Erinnerung als Antidot wider das leerlaufende
Vergessen in der Eventkultur ist jedoch kein weiter Weg zur problematischen Forderung nach neuen sinn- und identitätsstiftenden
Mythen und Erzählungen. Unter dem Dach der Kulturwissenschaften scheint sich damit zudem die alte Kluft zwischen Geistes-
und Sozialwissenschaften fortzusetzen.
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