Kronberg, Schirnbornweg 6 (1971-1973)
Nach einem Jahr im neunten Arrondissement von Paris kehrte Peter Handke mit seiner Frau Libgart Schwarz und seiner Tochter Amina Anfang 1971 in die Düsseldorfer Wohnung in der Gartenstraße zurück, die er als Zweitwohnsitz behalten hatte. Den Grund für die Rückkehr nach Deutschland kann man seiner autobiografischen Erzählung Kindergeschichte von 1981 entnehmen. Dort beschreibt er, wie aus der kinderunfreundlichen Wohnsituation in der Großstadt die Idee entstanden war, »daß das Kind außerhalb des Stadtbetriebs, und nicht in einer Wohnung, sondern in einem Haus, an der Luft, aufwachsen sollte« (Kg 31). Schon kurz nach der Rückkehr nach Düsseldorf wurde ihm, wie er seinem Verleger Siegfried Unseld im Februar 1971 mitteilte, die Wohnung gekündigt, weshalb er einen neuen Wohnort suchte, der vor allem einen »sehr guten Kindergarten« haben sollte (Handke / Unseld 2012, S. 189).
Haussuche
Im März 1971, während Handke in Köln seinen Fernsehfilm Chronik der laufenden Ereignisse schnitt, kümmerte sich Libgart Schwarz um die Haussuche (vgl. Kg 31). Ausgestattet mit einer Vollmacht ihres Mannes wohnte sie einige Tage bei Siegfried Unseld und dessen Frau, um ein geeignetes Grundstück in der Nähe von Frankfurt zu suchen. Unter dem 21. März notierte Unseld in seiner Chronik: »Sie hatte in Kronberg am Roten Hang ein Haus gefunden, und wir schauten uns das an. DM 262.000,–, ein Bungalow-Reihenhaus, ganz am Waldrand gelegen, freilich innerhalb einer Siedlung. Frau Handke entschied sich für den Kauf.« (Handke / Unseld 2012, S. 193) Unseld unterstützte Handke, wie man späteren Briefen entnehmen kann, bei der Finanzierung des Hauses durch ein Darlehen (Handke / Unseld 2012, S. 209 und 211).
Übergangszeit und Umzug nach Kronberg
Es dauerte allerdings noch acht Monate, bis der Rohbau bezugsfertig war. In dieser Zeit lebte die Familie an unterschiedlichen Orten. Im April und Mai tourte Handke zusammen mit seiner Frau und Alfred Kolleritsch einen Monat lang auf einer Lesereise quer durch Amerika – die Tochter war unterdessen bei Handkes Mutter in Kärnten (Handke / Unseld 2012, S. 197; Pichler 2002, S. 98). Von Juni bis August 1971 hielten sie sich bei Handkes Eltern in Griffen auf. Von Mitte August bis Ende Oktober wohnten sie bei dem befreundeten Ehepaar Bernd und Ute Bohmeier in Köln (vgl. Kg 33). Die ersten Novemberwochen bis zum Umzug verbrachten sie, da sich die Fertigstellung des Hauses verzögerte und sie die Gastfreundschaft der Freunde schon über Gebühr beansprucht hatten, bei Siegfried Unseld in Frankfurt (Handke / Unseld 2012, S. 217). Mitte November 1971 konnte Handke schließlich mit seiner Familie in das neue Haus am Schirnbornweg 6 in Kronberg im Taunus einziehen.
Eigentumshaus mit Terrasse und Garten
Vom Haus und der Siedlung findet man in den öffentlichen Archiven nur wenig Bildmaterial. Die Fotos aus dem ehemaligen Privatbesitz der Familie zeigen vor allem die Tochter im Haus oder auf der Terrasse. Bekannt geworden ist ein Bild, das die Frankfurter Fotografin Barbara Klemm anlässlich der Büchner-Preis-Verleihung an Handke im Oktober 1973 angefertigt hat. Das Foto wurde damals im Spiegel abgedruckt. Es zeigt den dreißigjährigen Autor mit langen Haaren auf einem Cordfauteuil im Wohnraum des Kronberger Hauses. Das Zimmer ist nur spärlich eingerichtet, mit einem Spannteppich, einem Esstisch vor der Durchreiche in die Küche, einem kleinen Fernseher, zwei an die Wand gerückten Fauteuils und einem Plattenspieler am Boden. An der Wand hängt das »Schutzengelbild« von Peter Pongratz.
Beschreibungen des Hauses findet man in Handkes Erzählungen Die linkshändige Frau (1976) – dort war es Vorbild für den Schauplatz – und Kindergeschichte (1981). Auch wenn es heute anders aussieht – es wurde renoviert und die Terrasse mit einer üppigen Vegetation versehen –, kann man es mithilfe der vorhandenen Fotos und der Beschreibungen Handkes leicht wiedererkennen. Es liegt in einer »terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang des Taunus, gerade über dem Dunst von Frankfurt« (ÖLA SPH/LW/W10/1, Bl. 1, DF 7, vgl. Kg 31). Die »übereinandergebauten, schachtelförmigen Bungalows« (DF 11) erscheinen durch die Hanglage als niedrige »Flachdachkuben« (Kg 37). Das Haus ist in den Hang hineingebaut, zweistöckig (mit zwei ebenerdigen Eingängen), mit einer Terrasse im oberen Stock und einem kleinen Garten im unteren Teil. Die Längsseite des oberen Wohnraums ist »eine einzige Glasfront vor einer grasbewachsenen Terrasse […] und der fensterlosen Mauer des Nachbarhauses.« (DF 7) »Hinter der Siedlung [beginnt] ein Mischwald, hauptsächlich aus Eichen, Buchen und Fichten, der von da an zu einem Mittelgebirgsgipfel flach [ansteigt]« (DF 11), dem Altkönig. Am unteren Ende der Siedlung sind »mehrere Reihen von Einzelgaragen, ähnlich rechteckig und mit den gleichen Flachdächern wie die Bungalows« (DF 9).
»Unglückshaus«
Handke nannte das Haus später in Briefen an Unseld das »Unglückshaus« (Handke / Unseld 2012, S. 394). Gröbere Baumängel führten wiederholt zum Eintreten von Wasser (vgl. Kg 42). Der Prozess gegen die Baufirma zog sich bis in die 1980er-Jahre (Handke / Unseld 2012, S. 442). »Unglückshaus« ist es aber auch insofern, als in den Jahren in Kronberg unglückliche Ereignisse stattfanden: Gleich nach dem Bezug des Hauses kam die Nachricht, dass Handkes Mutter in der Nacht von 19./20. November 1971 Suizid begangen hatte. Eine Notiz auf der Rückseite eines Fotos von Amina dokumentiert die Nachricht von ihrem Tod: »20.11.71 in Kronberg Amina ist heute 2 Jahre, 7 Monate, und in der Nacht vorher hat meine Mutter Selbstmord begangen« (ÖLA SPH/LW/W5/1). Ein Jahr später kam es zu der Trennung von Libgart Schwarz, die ihrem Beruf wieder nachgehen wollte und deshalb die Familie verließ. Handke war von da an die meiste Zeit mit dem Kind alleine. Er gründete zusammen mit Nachbarn im Erdgeschoß seines Hauses einen Kindergarten, in dem es im November 1972 zu einem tragischen Unfall kam, bei dem die vierjährige Tochter der Kindergärtnerin starb (Pichler 2002, S. 93).
Die schwierige Anfangszeit als alleinerziehender Vater schildern die Erzählungen Die linkshändige Frau und Kindergeschichte (vgl. Kg 37ff.) oder auch das Gedicht Leben ohne Poesie. Handke äußerte sich darüber auch in Interviews. Im Gespräch mit André Müller erzählte er: »Die zwei Jahre in Kronberg bei Frankfurt war ich praktisch eingesperrt mit dem Kind und hab' dauernd getrunken, ohne richtig betrunken zu werden«. Trotzdem bezeichnete er diese Zeit, da er sich zu einer täglichen Routine und Disziplin zwingen musste, nachträglich als »Idealzustand« für das Schreiben (Müller / Handke 1993, S. 98f.). Nach zwei Jahren in Kronberg übersiedelte Handke Anfang Dezember 1973 mit seiner mittlerweile viereinhalbjährigen Tochter wieder in seine »Weltstadt« (Kg 57) Paris, in eine Wohnung am Boulevard Montmorency im Stadteil Auteuil. Das Haus, wie die Briefe an Unseld zeigen, behielt er wohl noch bis in die 1980er-Jahre (Handke / Unseld 2012, S. 442).
In Kronberg entstandene Werke
In der Kronberger Zeit entstanden einige Werke Handkes. Schon kurz nach dem Umzug, im Frühjahr 1972, erschien der in Köln geschriebene Roman Der kurze Brief zum langen Abschied. Noch im selben Jahr veröffentlichte der Residenz Verlag Wunschloses Unglück, Handkes erzählte Erinnerung an seine Mutter. Im April 1972 brachte Suhrkamp den Sammelband Stücke I heraus und im August 1972 Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Im Winter 1972/73 veröffentlichte Handke in verschiedenen Zeitschriften Gedichte und Essays wie Leben ohne Poesie, Blaues Gedicht, »Was soll ich dazu sagen?« oder Die offenen Geheimnisse der Technokratie. Er sammelte Notizen zu seinem Stück Die Unvernünftigen sterben aus, das er zwischen Februar und April 1973 niederschrieb. Zwischen Juli und August 1973 entstand in Venedig die Filmerzählung Falsche Bewegung. Am 21. Oktober 1973 erhielt er (als bisher jüngster Preisträger) den Georg-Büchner-Preis, für den er im September/Oktober die Dankrede Die Geborgenheit unter der Schädeldecke verfasste (abgedruckt zusammen mit den anderen kleinen Texten in dem Sammelband Als das Wünschen noch geholfen hat). (kp)