Annäherungen an die Ferne
Geografische Kostbarkeiten aus der Österreichischen Nationalbibliothek
Afrika, Asien und Amerika waren Kontinente, die den Bewohnern der Alten Welt um die Mitte des 17. Jahrhunderts so fern waren wie fremde Galaxien. Entsprechendes Aufsehen erregten die von zeitgenössischen Reisenden und Gelehrten überlieferten fantastischen Darstellungen fremder Erdteile in Reiseberichten und kartografischen Werken. Aufbewahrungsorte dieser zwischen wissenschaftlicher Forschung und Fiktion angesiedelten Berichte und Abbildungen waren die großen Universalbibliotheken. In einer beeindruckenden Ausstellung im Prunksaal gibt die Österreichische Nationalbibliothek nun einen Einblick in ihre in dieser Tradition über Jahrhunderte hinweg gesammelten kostbaren Schätze aus den Gebieten Geografie, Ethnografie, Botanik und Zoologie. Sie vermittelt beispielhaft anhand des Bestandes der ehemaligen Kaiserlichen Hofbibliothek – der heutigen Österreichischen Nationalbibliothek – welches Wissen über ferne Weltgegenden im 17. Jahrhundert in Europa dokumentiert war. Anhand verschiedener Medien wird gezeigt, wie das Wissen über die Geografie und Topografie der Kontinente Afrika, Asien und Amerika, über die dort lebenden Menschen, ihre Kultur und ihre sozialen Organisationsformen sowie über die verschiedenen exotisch anmutenden Erscheinungsformen der Natur gesammelt und wiedergegeben wurde.
Die zahlreichen Ausstellungsobjekte – Karten, Atlanten, Handschriften und alte Drucke – lassen erkennen, dass Europas historisches Wissen um die Ferne ein bunt zusammen gewürfeltes Konglomerat aus fundierter Information und hypothetischen sowie fantastischen Darstellungen war.
Kartenwerke als Inszenierung der Fremde
Die dekorativ und farbenprächtig, oft sogar künstlerisch anspruchsvoll gestalteten Landkarten in den großen Atlanten des 17. Jahrhunderts entsprechen dem Stil und Geschmack des beginnenden Barockzeitalters. Ihre aufwändig geschmückten Titelkartuschen mit allegorischen Menschen-, Tier- und Pflanzendarstellungen sowie technischen Gerätschaften verweisen auf das kartografisch wiedergegebene Gebiet. Oftmals enthält das Kartenbild nicht nur abstrahierte topografische Daten, sondern auch bildliche Darstellungen, die aus gängigen, zeitgenössischen Veröffentlichungen zur Natur- und Völkerkunde übernommen wurden. Die Kartenzeichner erzeugten mit diesen Details eine gezielte Inszenierung von Themen und Szenen. Die bildhafte Repräsentation der Fremde entsprach insbesondere auf den Karten exotischer Regionen zwar durchaus der Erwartungshaltung des Publikums, jedoch nicht immer der Realität: Auf den barocken Atlaskarten sind neben der Darstellung von Personen, Gebrauchsgegenständen, Siedlungen, Schiffen, exotischen Tieren und Pflanzen sowie Jagd-, Fischfang- und Schlachtenszenen auch Fantasiegestalten, Fabelwesen und Meeresungeheuer zu entdecken.
Das Wissen aus der Ferne
Inhaltlich basierten die Atlanten auf unterschiedlichen Quellen. Im Vordergrund standen Land- und Seekarten sowie Pläne und topografische Ansichten. Dabei konnte es sich um handgezeichnete Vorlagen handeln, die auf Vermessungen bzw. Augenschein beruhten; aber auch um bereits veröffentlichte, als Kupferstiche gedruckte Karten, deren Daten von den Verlagen zur Zusammenstellung der eigenen Karten herangezogen wurden.
Neben dem kartografischen Material bildeten Schriften geografischen Inhalts – Kosmografien, Reise- und Expeditionsberichte sowie Landesbeschreibungen und Navigationsanweisungen – wichtige Informationsquellen für die Zusammenstellung der Atlanten.
Das in den Karten, Büchern und bildlichen Darstellungen dieser Zeit gesammelte Wissen um die Ferne wies noch umfangreiche Lücken auf. Es fehlten detaillierte Nachrichten über den fünften Erdteil – Australien – über die Inselwelt des Pazifischen Ozeans, die Arktis oder die Antarktis.
Diese – aus europäischer Sicht – „weißen Flecken“ wurden im Verlauf des so genannten zweiten Entdeckungszeitalters im 18. Jahrhundert nach und nach gefüllt. Allein zur Vervollständigung der Konturen der Kontinente und Inseln waren noch zahlreiche Unternehmungen notwendig – die beispielhaft mit den Namen Vitus Bering, James Cook, George Vancouver, Matthew Flinders, Fabian Gottlieb von Bellinghausen und James Clark Ross verbunden sind. Um das Innere der Kontinente zu erfassen und zu erschließen, benötigten die Europäer allerdings noch mehr als 200 Jahre.
Atlas Maior
Die Gliederung der Ausstellung orientiert sich an der inhaltlichen Abfolge des Atlas Maior, der zuerst Afrika, dann Asien und zum Schluss Amerika darstellt. In der Mitte des 17. Jahrhunderts herrschte in der Stadt Amsterdam und in der niederländischen Republik – trotz der Kriege mit Spanien – wirtschaftliche Hochkonjunktur. Der Überseehandel erbrachte Reichtümer, von denen auch die Wissenschaften und Künste profitierten.
In dieser Zeit des Interesses an der Welt stellten die Landkarten, Stadtpläne, dekorativen Wandkarten, Atlanten und Globen des angesehenen Amsterdamer Verlagshauses von Joan Blaeu Spitzenprodukte barocker Kartografie dar. Der 1662 veröffentlichte „Atlas Maior“ von Joan Blaeu im Umfang von elf Foliobänden – mit, je nach Ausgabe, etwa 600 aufwändig handkolorierten Kupferstichkarten und etwa 3400 Textseiten – wurde nicht nur als umfangreichstes und teuerstes Druckwerk seiner Zeit angesehen, sondern gilt auch heute noch als das großartigste jemals veröffentlichte Atlaswerk.
Joan Blaeu verwendete zur Zusammenstellung des Atlas Maior alte und neue Karten unterschiedlicher Herkunft. Diese unterschiedlichen Karten wurden bearbeitet und vereinheitlicht sowie – je nach Sprachversion – mit Beschriftungen und Texten versehen. Die fertiggestellten Kartentafeln wurden anschließend im Kupferstichverfahren reproduziert, koloriert, und gemeinsam mit den im Buchdruckverfahren hergestellten Textseiten zu Atlasbänden zusammengestellt und gebunden.
Atlas Blaeu-Van der Hem
Als besonderes Highlight wird im Rahmen der Ausstellung für kurze Zeit die Ansicht der Insel Makian (Indonesien) von Joannes Vingboons aus dem fünfzigbändigen „Atlas Blaeu-Van der Hem“ im Original gezeigt. Der „Atlas Blaeu-Van der Hem“ stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde 2003 in die UNESCO-Liste Memory of the World als Weltdokumentenerbe aufgenommen. Er ist eines der kostbarsten kartografischen Objekte der Österreichischen Nationalbibliothek und gilt weltweit als der schönste und bemerkenswerteste Atlas, der jemals angefertigt wurde. Seine Aufnahme in die UNESCO-Liste des besonders schützenswerten Weltkulturerbes unterstreicht die universale Bedeutung und den außerordentlichen kulturellen und wissenschaftlichen Wert des berühmtesten Atlas‘ weltweit.
Der Amsterdamer Patrizier, Advokat und Bibliophile Laurens van der Hem (1621 – 1678) stellte diesen barocken Sammelatlas in den Jahren 1662 – 1678 mit viel Sorgfalt, großem Sachverstand und enormem finanziellen Aufwand zusammen. Grundlage war der elfbändige Atlas Maior (lateinische Ausgabe, 1662) des Joan Blaeu, welchem Van der Hem gedruckte Karten und Ansichten anderer Autoren sowie Handzeichnungen beifügte und ihn so auf etwa 2400 Tafeln erweiterte. Es handelt sich dabei um von namhaften Künstlern aufwändig kolorierte Kupferstiche, Zeichnungen, Aquarelle und Gouachen. Der Atlas Blaeu-Van der Hem bildet die ganze damals bekannte Erde ab.
Prinz Eugen von Savoyen erwarb den Atlas 1730 bei einer Auktion. Dessen Erbin, seine Nichte Victoria von Sachsen-Hildburghausen, übergab den Atlas zusammen mit der Bibliotheca Eugeniana gegen eine Leibrente an Kaiser Karl VI., der für die immer größer werdende Hofbibliothek den Prunksaal erbauen und im Mitteloval die komplette Bibliothek des Prinzen aufstellen ließ. Der Atlas Blaeu-Van der Hem wird heute in der Kartensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt.
Ort
Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek
Josefsplatz 1, 1010 Wien
Dauer
24. April bis 8. November 2009
Öffnungszeiten
Dienstag – Sonntag 10 – 18 Uhr
Donnerstag 10 – 21 Uhr
Eintritt
€ 7,– / ermäßigt € 4,50
Führungen
Zum Preis von € 3,50 jeden Donnerstag um 18 Uhr sowie
nach Vereinbarung unter
Tel.: (+43 1) 534 10-464, -261
Treffpunkt an der Prunksaalkasse
Zur Ausstellung
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog: € 24,90
Erhältlich an der Prunksaalkasse oder im Buchhandel