Dieses orangefarbene, spiralgebundene Notizbuch von Peter Handke enthält eine Notiz des Autors vom 17. Dezember 1976 und seine Aufzeichnungen vom 19. bis 28. Februar 1977. Zwischen dem 18. Dezember 1976 und dem 18. Februar 1977 schrieb Handke in ein anderes Notizbuch (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 010). Der Grund für den Wechsel dürfte mit der Arbeit am Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« zu tun haben – dieses Notizbuch enthält keine projektorientierten Einträge. Die Aufzeichnungen sind nicht durchgängig datiert. Da Handke die wenigen Datierung meist in Klammer hinter ein Notat setzte, lässt sich nicht eindeutig sagen, ob ein Datum zugleich den Tagesbeginn markiert und sich somit auf alle folgenden Einträge beziehen lässt oder ob es nur zufällig oder am Tagesende vermerkt wurde. Das Notizbuch umfasst insgesamt 90 unpaginierte Seiten, von denen aber nur 22 beschrieben sind. Aufgrund der fehlenden Paginierung und der uneindeutigen Datierung werden die Zitate im Folgenden mit der im Archiv vorgenommenen Folierung der Notizbuchkopie (ÖLA SPH/LW/W81) angegeben; sie verläuft, da sie noch ein zweites Notizbuch enthält, pro Doppelseite von 48-60. Darüber hinaus soll das Datum ein Wiederfinden des Zitats erleichtern, wobei der Datumseintrag im Notizbuch als Beginn des Tages interpretiert wurde.
Die dokumentierten Aufzeichnungen vom Februar 1977 entstanden während einer, vermutlich von der österreichischen Diplomatin und Autorin Barbara Taufar initiierten, Israelreise Peter Handkes, auf die er seine Tochter Amina mitgenommen hat. Handke war als Gast »zur israelischen Premiere seines Stücks "Kaspar"« (Paterno 2014) eingeladen worden, zu der er in sein Notizbuch bemerkte: »Ein eigenes Theaterstück sehen; lernen, die Schuld gelassen zu ertragen« (22.2., S. 52) und »Von manchen Leuten, die mich nur ruhig anschauen, ohne zu kennen, was ich bis jetzt gemacht habe, komme ich mir mehr geachtet vor als von Leuten, die alles von mir gelesen haben und beteuern, wie begeistert sie davon sind und doch gleichzeitig zu meinen scheinen, daß ich mich auch darüber hinaus jetzt vor ihnen beweisen müßte, in ihrer (vielleicht tatsächlichen) Begeisterung ist kein Funken Zuneigung oder auch nur Verständnis« (22.2., S. 52). Taufar beschreibt in ihrer Autobiografie Die Rose von Jericho (erschienen in Wien 1994) die spannungsgeladene Begegnung mit dem Autor und zitiert eine Notiz aus Handkes Journal Das Gewicht der Welt (1977), in denen sie sich in der »Frau mit der Siamkatze und den Fotos der Katze überall in der Wohnung« (DGW 310) wiedererkannt hat. Die Spannungen werden auch in weiteren Notizen Handkes deutlich, in welchen er seinen Umgang mit anderen reflektiert: »Statt daß ich den \gerechtfertigten/ Vorwurf vertiefte, führte ich immer weiter andere Vorwürfe auf, bis eben immer mehr falsche darunter waren und am Schluß ich im Unrecht war« (22.2., S. 53); »Jemanden erst kränken müssen, um dessen Einsamkeit zu fühlen« (22.2., S. 53); »Die Energie, die man braucht, um die Ruinen von Leuten zu idealisieren« (22.2., S. 53) oder »Wenn ich nicht schreiben würde, würde ich die anderen noch mehr verletzen« (23.2., S. 54).
Im Notizbuch nennt Handke nur zweimal beiläufig den Entstehungsort der Aufzeichnungen, einmal in einem Vorsatz für die Zeit nach der Reise: »Nach Israel: Das ist das letzte Mal, daß ich in ein unbekanntes Land zu unbekannten Leuten fliege.« (19.2., S. 50) und das andere Mal in einer Notiz zur abendlichen Stimmung: »Auf einer Holzbank im Vorort von Tel Aviv sitzend und das Holz reibend, die Hunde bellen, die Nachhausegehenden reden, der Bus biegt ein, das Meer rauscht, der schmale Mond hinter den dunklen Wolken, ruhig sprechende Radfahrer, sirrende Stromleitungen: Holz des Abends!« (20.2., S. 51). In welchem Hotel Handke untergebracht war, geht aus den Aufzeichnungen nicht hervor; man findet nur die allgemein gehaltene Bemerkung: »Sich durch die Korridore bewegen mit der Würdelosigkeit eines Hotelgasts (22.2.)« (S. 52).
Die vordere Umschlaginnenseite benützte Handke ausschließlich für Adressen und Telefonnummern von Freunden (S. 48) und nicht, wie in anderen Notizbüchern, für einen Schreibprojekttitel. Auf die hintere Umschlaginnenseite reihte er mehrstellige Zahlen in Kolonnen untereinander, deren Sinn bislang unklar ist (S. 60). Am letzten Blatt des Notizbuchs notierte er die Beobachtung »Äpfel, die auf Wollknäuel liegen« und listete darunter die Telefonnummern der Filmcrew von Die linkshändige Frau (S. 60). Auf zwei weiteren Seiten im hinteren Teil des Notizbuchs vermerkte Handke zwei Adressen in Israel (S. 58 u. 59)
Darüber hinaus enthält das Notizbuch vor allem Beschreibungen von Geräuschen, Stimmungen und Beobachtungen des Himmels: »Ich sitze am Meer, ohne es zu brauchen« (20.2., S. 50); »Gegen den Himmel auf einem Mauersims eine Pflanze, in der sich eine weiße Feder verfangen hat; dahinter der Himmel mit Federwolken« (22.2., S. 52); »Es wurde Abend, und all die kleinen Wolken bekamen helle Ränder, wurden etwas« (22.2., S. 53); »Die Wolken, die wie ein Tier plötzlich hinter einem sind, mit Halsband, dann wie ein laufendes Kind« (25.2., S. 55) oder »Wolkenstreifen am gelben Himmel, die Streifen beginnen schon zu fransen im Abendwind; vorhin war eine Lichtstelle weit weg von der Sonne, in Regenbogenfarben« (25.2., S. 56). Manche der Beschreibungen verlaufen über mehrere Seiten.
In seinen Aufzeichnungen reflektierte Handke auch wiederholt über das sich täglich neu zu erarbeitende Sprachbewusstsein und die Bemühung um eine umfassende Aufmerksamkeit. Solche Notizen lauten beispielsweise: »Wenn im Verlauf des Tages Sprache entsteht, wird, zu Bewußtsein kommt, Sprache gefunden wird: Belebungsmomente« (19.2., S. 50), »An jedem Tag die Anstrengung des Sich-Durchdringens« (20.2., S. 51) oder »Das lebensrettende Erschrecken, wie ein Wiederbelebungsstoß!« (19.2., S. 50). Dabei geht es auch darum die Voraussetzungen für sein Arbeiten zu bestimmen: »Der Ekel bringt mich immer wieder zum Nachdenken und bricht dieses gleichzeitig wieder ab, so daß es also nur zu einer kurzen Vortäuschung von Nachdenken kommen kann« (23.2., S. 54) oder »Die Epochen des Stumpfsinns manchmal am Tag – und wenn ich dann zurückgehe in Gedanken, merke ich, daß ich die ganze Zeit Entscheidendes umkreist habe, Unterschiede bemerkt habe, Wesentliches gedacht habe – aber ohne Leidenschaft, ohne Aufregung, ohne Einbeziehen von Leib und Seele, eben nur das Denken vorbeiziehen ließ, ohne daß es ein Denken – Tun, ein Gedachtgetan wurde und das eben gibt das Gefühl des puppenhaften Stumpfsinns« (25.2., S. 55).
Eine Notiz über den vollkommenen Schauspieler erinnert an Handkes Theorie des Wahrspielens oder Wahrspielers, auf die er Jahre später im Theaterstück Das Spiel vom Fragen von 1989 (DSF 24ff.) zurückgekommen ist: »Ein vollkommener Mensch müßte auch ein vollkommener Schauspieler sein, der Schauspieler der Wahrheit (andere Bedeutung des Wortes: "ein guter Schauspieler"« (19.2., S. 50). Handke könnte diese Theorie im Zuge seiner Vorarbeiten zur Verfilmung von Die linkshändige Frau entwickelt haben, mit der er sich zu dieser Zeit schon beschäftigt hat.
Während seines Aufenthalts in Israel las Handke seinen Notizen zufolge die Tagebücher von Robert Musil, aus denen er den Satz notierte: »"Es erscheint mir nicht ausgeschlossen, daß ein vollkommen adäquates Register der Gedanken eines ganzen Lebens, scheinbar einheitslos wie es ist, von erschütternder Kunstwirkung wäre. Aber es ist eine physische Unmöglichkeit, es ist eben etwas, das man nie wirklich versuchen kann. Doch kann man an solche Möglichkeiten denken und Wirkungen suchen, die sich ihnen, so gut es uns gegeben ist, annähern."« (20.2., S. 51) Zudem exzerpierte er die beiden Sätze aus Heimito von Doderers Roman Die Wasserfälle von Slunj: »"Es gab also das Glück, Chwostik kannte es ja aus eigener Erfahrung."« (22.2., S. 53) und »"Der Mensch, wenn er dauernd mit einer wissenschaftlichen Terminologie umgeht, wird schließlich sprachlos im Verkehr mit sich selbst: er kann sich da nicht mehr verständlich machen und wird von seinem eigenen Ich auch nicht mehr verstanden; dieses ist so nicht aussprechbar." (Die Wasserfälle von Slunj)« (23.2., S. 54).
Das Notizbuch wurde von Handke keinem Werkprojekt zugeordnet, weder am Umschlag beziehungswiese Vorsatz noch durch Hinweise bei den Notaten. Ungefähr die Hälfte der Notizen wurde aber in Handkes erstes, 1977 erschienenes Journal Das Gewicht der Welt aufgenommen; die Einträge aus diesem Notizbuch umfassen dort fünf Seiten (DGW S. 310-314). (kp)
Israel [19.2., S. 50]; Tel Aviv [20.2., S. 51] [die Seitenangaben entsprechen der Folierung in Besitz 2]
Notizbuch mit Spiralbindung, I, 90 Seiten unpag. (davon 22 Seiten beschrieben), I*; ein auf den Umschlag geklebter Papierstreifen mit der hs. Datierung »Febr. 1977«
[die Seitenangaben entsprechen der Folierung in Besitz 2, ÖLA SPH/LW/W81]
kleinere Zeichnungen von Peter oder Amina Handke (19.2., S. 50) [die Seitenangabe entspricht der Folierung in Besitz 2, ÖLA SPH/LW/W81]
Besitz 2: umfasst nur 12 Blatt, evtl. leere Seiten aus Original nicht kopiert; Bl. 48 und 49 identer Inhalt