Konvolut aus Beiblättern (zur Textfassung 1)

Beim Schreiben der ersten Textfassung von Peter Handkes Theaterstück Spuren der Verirrten entstand ein Konvolut aus 16 unpaginierten Beiblättern, die vom Archiv zur besseren Zitierbarkeit mit einer Folierung von 1-16 versehen wurden. Jedes Blatt ist datiert und entspricht einem Schreibtag mit Ausnahme des ersten Blattes, auf dem die Notizen von zwei Tagen eingetragen sind. Die Datierungen stimmen mit den Angaben im Manuskript der ersten Textfassung überein: Sie beginnen mit 5. Juli 2005 und reichen bis 22. Juli – nur vom 7. und 14. Juli gibt es keine Tagesnotizen. Die Notizen entstanden demnach (die beiden Tage abgerechnet) in einer Zeitspanne von 16 Tagen. Auf den Beiblättern notierte Handke thematische Stichwörter und Fragen zur Konstruktion, zu Motiven, Handlungssequenzen oder Figuren, er sammelte von ihm gerade bearbeitete bzw. für den folgenden Schreibtag vorgesehene Formelemente und Motive – einzelne Wörter, Satzpartikel und Phrasen, Dialogteile, stichwortartige Charakterisierungen von Figuren und Orten oder Handlungs- bzw. Szenenentwürfen. Die einzelnen Einträge sind manchmal mit Pfeilen in eine Relation zueinander gesetzt, unterstrichen, eingekringelt.

Notizen am ersten Beiblatt

Die wenigen Beiblattnotizen des ersten Schreibtags, des 5. Juli 2005, lauten beispielsweise: »"Ich sehe ein Licht." [/] "Ich sehe ein Haus, [/] mitten im Wald!"« und »DER DRITTE!« (Bl. 1) Am selben Blatt notierte Handke untereinander auch die Stichwörter des 6. Juli 2005: »vertauschte Rollen [/] werden kommen [/] {werden [Wiederholungszeichen]} gekommen {sein [Steno]} [/] sind gekommen [/] Er hat es nicht so gemeint«, daneben schrieb er »sich beruhigendes [/] Schönreden [/] = erinnern«; dannn folgen wieder weitere Einträge untereinander: »Im Herzen der Welt [/] Idiot [/] Feigling! [/] Du bist schwach! [/] Nie wieder du! [/] A zieht B im Wägelchen [/] Laß mich nicht allein [/] Sei getrost [/] Wie gut du riechst! [/] Meine große Freude [/] hört sich an« (Bl. 1).

Notizen zum Zuschauer und zum »Dritten«

Eine formale Besonderheit des Stücks, der in den Szenenanweisungen gleich zu Beginn auftretende Ich-Erzähler, der sich selbst als als »Zuschauer« der einzelnen Szenen zu erkennen gibt, wird auch in den Notizen entworfen. Am Beiblatt vom 9. Juli findet man zum Beispiel die Einträge »Der Zuschauer: [/] spät [/] – aber doch: [/] ändert alles« und »Zu mir Zuschauer: / Bezeugen Sie das« (Bl. 3) oder am 21. Juli, einen Tag vor der Fertigstellung des Manuskripts notierte Handke: »Sie wenden s. d. unsichtbaren [/] — [Strich zu] verschwundenen [/] Zuschauer zu [/] (morgen) [/] (er hat sichtlich, spürbar [/] Anteil an [/] dem, was sie tun« (Bl. 15).

Eine mit dem Zuschauer-Erzähler verbundene Figur ist, der »Dritte«, eine Art Spielleiter. Eine Notizreihe zum »Dritten« entstand am 11. Juli; sie ist insofern interessant, als sie neben der konzeptionellen Frage »Übergang zu den Mythischen [/] Gestalten? [/] wann? [/] Beeil dich« folgende mit der Figur des Dritten verbundene theatertheoretische Überlegungen enthalten: »Der Dritte wieder = Aus-Szene ~ 3. Akt Tragödie [/] langsames Sterben > 3 – Strang: Trauer/ [/] Erhabenheit [/] Stärkung [/] Rache [/] (Sterben)« (Bl. 5)  Darauf kommt Handke am Beiblatt vom 19. Juli noch einmal in seinen Notizen zurück: »Es gibt den 3. nicht mehr: [/] Tragödie [/] ohne 3.: du mein Gefängnis [/] und die andern? [/] Es gibt die anderen nicht mehr [/] Er schreit noch einmal: [/] (Eine Tragödie! [/] — [Strich zu] Endgültige?? [/] Tragödie der [/] Menschheit« (Bl. 13). Die Spielleiterfunktion des Dritten zeigt sich auch in seinen Anweisungen an die Figuren, wie diese Stichwortsammlung zeigt: »Der Dritte: [/] Weitergehen! [/] Zirkulieren! [/] Es gibt nichts [/] zu sehen!« (Bl. 6) Zu mythischen Gestalten notiert Handke weniger man findet auf den Beiblättern später nur zwei Bilder: die »Sphinx« (Bl. 10) und »Ödipus« (Bl 12).

Beiblatt vom 13. Juli

Das auf 13. Juli datierte Blatt ist schwierig einzuschätzen: es enthält in der oberen Blatthälfte die datierten Beiblattnotizen, in der Mitte des Blattes wurde von Handke der Stücktitel »Spuren der Verirrten« (Bl. 7) getippt und auf der Rückseite wurden ebenfalls Notizen angefertigt, die aber mit einem anderen Bleistift geschrieben und vermutlich später entstanden sind. Handke könnte dieses Blatt bei der Überarbeitung der ersten zur zweiten Textfassung die Rückseite für weitere Notizen verwendet haben. Die Notizen selbst sind zu vage, um sie eindeutig einer Fassung zuzuordnen. Er notierte etwa: »Sirenen außer Kraft« weiter unten »Die Zeit ist um«, darunter » – W – [/] Zwischenrufer [/] ab jetzt Zw. genannt [/] Keine Angst: letztes [/] Viertelstündchen [/] wird nicht [/] schlagen« und dann »Z: Spielzeit [/] Theaterzeit [/] Ende der Zeit(en) [/] kein mitdenken [/] mehr [/] Es werden Tage sein, und die Zeit wird [/] nimmer [/] seit wann wie ? [/] (es gibt kein [/] wann mehr?)« oder »ZW: "Abkürzen, überspringen" [/] 3. gesellt sich zur Menge [/] wird einer v. ihnen, [/] ratlos unter [/] Ratlosen« (Bl. 7v.) Diese auf der Rückseite eingetragenen Stichwörter dürften später, bei der Überarbeitung zur zweiten Textfassung entstanden sein. Thematisch und von der Art des verwendeten Bleistifts passen sie zu einem dem Konvolut mit Beiblättern beigelegten »Abfallblatt« zur zweiten Textfassung, auf der nur eine Zeile getippt und die Seitenzahl 29 mit Bleistift eingetragen wurde; auf der Rückseite dieses »Abfallblatts« schrieb Handke mit Bleistift die konzeptionelle Notiz: »Aus mit der Zeit? Seit wann? [/ Kein wann mehr [/] 3.: Keine Zeit mehr? Seit es [/] den andern [/] nicht mehr [/] gibt« (Beilage). (kp)