Entstehungskontext

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Am 10. März 1986 schickte Peter Handke der Suhrkamp-Lektorin Elisabeth Borchers in Frankfurt »was zum Lesen« und bemerkte dazu: »Es ist ein langes Gedicht, das ich zum Ausklang der sehr langen Geschichte schrieb, in 1 Woche. Ich wollte es schon seit Jahren schreiben. In eine Zeitschrift will ich's nur nicht geben. Bitte, lies es, und rede mit mir, ohne erst einmal sonst jemandem was zu sagen.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz) Bei der Sendung handelte es sich um die erste Textfassung von Gedicht an die Dauer, an der Handke unmittelbar nach der Fertigstellung seiner Erzählung Die Wiederholung Anfang März 1986 zu arbeiten begonnen hatte.

Gefühl der Dauer

Im Gedicht versucht Handke in lyrisch-epischer Form seine Empfindung von Dauer genauer zu bestimmen: »Diese Dauer, was war sie? [/] War sie ein Zeitraum? [/] Etwas Meßbares? Eine Gewißheit? [/] Nein, die Dauer war ein Gefühl, [/] das flüchtigste aller Gefühle, [/] oft rascher vorbei als ein Augenblick, [/] unvorhersehbar, unlenkbar, [/] ungreifbar, unmeßbar.« (GD 10) Es sei ein »philosophisch-narratives Gedicht« (Handke / Horvat 1993, S. 61) erklärte Handke dem kroatischen Schriftsteller und Übersetzer Joze Horvat 1988 in einem Gespräch. Das Gefühl der Dauer unterscheide sich von der metaphysischen Ewigkeit durch einen Moment der Plötzlichkeit, einen »Ruck«. In dieser Dialektik liege das Paradox dieses Gefühls, es lasse »sich in der Flüchtigkeit einfangen, nicht aber, sagen wir im Stein, der schon einige Millionen Jahre vor uns da ist«. Dauer liege nicht in »Institutionen, Standpunkten, Ideologien« (sprich der Tradition), sondern vielmehr »in der "zeitlichen Entrückung"«, »in Momenten der Epiphanie, wenn sich plötzlich etwas, was schon vor der Zeit war, wiederholt, in einer anderen Version, und wir das Gefühl haben, daß im menschlichen Leben eine Art innerer Verbundenheit besteht, wenngleich sie in keinen sicheren Hafen führt. Man kann aber sagen, daß das Gefühl der Dauer manchmal das höchste ist unter allen Gefühlen. Es ist etwas anderes als das Glück. Das ist eine Art Ruhe ohne Beruhigung.« (Handke / Horvat 1993, S. 59) Im Salzburger Journal Am Felsfenster morgens findet man eine kurze, diese Ambivalenz umschreibende Notiz: »Dauer heißt: JETZT WIEDER« (Af 439). Dauer entspricht somit auch nicht einer Ekstase (GD 21). Sie hebt nicht ab, sondern schafft Zusammenhänge – im Gedicht heißt es: »Dauer entrückt mich nicht, sondern rückt mich zurecht« (GD 54). Sie macht nicht wie ein mystisches Erlebnis stumm, sondern ermöglicht erst das Beschreiben bzw. Erzählen (GD 51).

Beziehung zu anderen Werken

Die Idee zu einem Gedicht über die Dauer könnte bereits mit den seit Anfang der 1970er Jahre begonnenen Recherchen für sein Schreibprojekt »Ins tiefe Österreich«, aus dem die Tetralogie Langsame Heimkehr und die Erzählung Die Wiederholung hevorgingen, entstanden sein. Schon in seiner 1979 erschienenen Erzählung Langsame Heimkehr schrieb Handke: »Er [Sorger] erwartete keine Erleuchtungen mehr, sondern Gleichmaß und Dauer.« (LH 72) Damit ist »Dauer in einer Form« (LH 200) gemeint, das Wiederholen bzw. Ermöglichen der Wiederholung durch Form. Das Gefühl der Dauer ähnelt dem von Handke immer wieder beschriebenen und in eine Poetik übertragenen Phänomen der Wiederholung. Im Gespräch mit Joze Horvat meinte Handke: »Nicht im religiösen, sondern im gefühlsmäßigen Sinn bin ich überzeugt von der Wiederkehr – nicht meiner selbst, aber sagen wir, eines Blickes, eines Klanges – etwas, was wir schon gehört haben.« (Handke / Horvat 1993, S. 60). Im Zusammenhang mit dem genannten Schreibprojekt verfolgte Handke das Langzeitprojekt »DW« (Die Wiederholung), zu der es ein vermutlich in den 1980er Jahren entstandenes 202 Seiten umfassendes Manuskript mit einer Sammlung von täglichen Erlebnissen bzw. Ereignissen der Wiederholung gibt, die zum Teil aus verschiedenen Notizbüchern exzerpiert wurden (ÖLA SPH/LW/W67). Darin finden sich auch Notate, die er im Gedicht an die Dauer wiederaufnimmt. Teile dieses Exzerpts wurden von Handke aber auch in den drei zwischen 1989 und 1991 erschienenen »Versuchen« verarbeitet, die das Gedicht an die Dauer in gewisser Hinsicht als »Versuch über die Dauer« vorwegnimmt. In den drei »Versuchen« bestimmt Handke nicht mehr lyrisch-episch, sondern erzählend die für ihn elementaren Erfahrungen der »Müdigkeit«, der Jukebox-Musik oder eines »geglückten Tages«; auch sie hängen mit dem Gefühl der Dauer und der Wiederholung zusammen.

Die Wiederholung

Eine andere Verbindung zur Erzählung Die Wiederholung zeigt eine Stelle im Gedicht an die Dauer, die auf ein von Handke im Notizbuch aufgezeichnetes Erlebnis zurückgreift. Am 2. März, einen Tag nach der Fertigstellung von Die Wiederholung, brachte Handke das Typoskript zur Post und ließ die zuvor angefertigte Typoskriptkopie bei seinen Besorgungen in der Stadt liegen. Anschließend notierte er: »Die Zeitungsfrau hat mich gerufen, in dem Gewimmel, und man hörte den Namen von einem Ende der Stadt durch den anderen (als ich gestern an ihrem Stand die Kopie von DW liegenließ); ähnlich die Rufe vor über 20 Jahren in Graz, in der leeren nächtlichen Straße, vom hintersten Ende (die Dauer)« (2.3.). Im Gedicht an die Dauer heißt es dann leicht verändert: »Noch gestern hörte ich auf dem Waagplatz in Salzburg, [/] in dem Geschiebe und dem Gerassel des [/] immerwährenden Einkaufstags, [/] eine Stimme wie vom entfernten Ende der Stadt her [/] meinen Namen rufen, [/] begriff im selben Moment, [/] daß ich den Text der Wiederholung, [/] mit dem ich zur Post unterwegs war, [/] am Marktstand vergessen hatte, [/] vernahm, zurücklaufend, jene andere Stimme, [/] welche vor einem Vierteljahrhundert, [/] in der Nachtstille eines Außenbezirkes von Graz, [/] vom entfernten Ende der leeren langen geraden Straße [/] ähnlich fürsorglich, wie von oben herab, mir entgegenkam, [/] und konnte da das Gefühl der Dauer umschreiben [/] als ein Ereignis des Aufhorchens, […]« (GD 11). Tatsächlich ging, wie man der Korrespondenz mit seinem Verleger Siegfried Unseld entnehmen kann, das Originaltyposkript am Postweg verloren, was Handke zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen konnte. (Handke / Unseld 2012, S. 497, 498)

Notizen zum Gedicht

Einen Tag nach Fertigstellung des Typoskripts von Die Wiederholung begann Handke am 2. März 1986 inhaltliche und konzeptionelle Ideen für Gedicht an die Dauer zu sammeln. Der erste Notizbucheintrag dieses Tages lautet: »Das Gedicht von der Dauer: Was ist von Dauer, und was ist nicht von Dauer? (Ich würde es am liebsten gleich zu schreiben anfangen)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 048, 2.3.). Die Aufzeichnungen zum Gedicht betragen insgesamt 18 Notizbuchseiten und enden am 8. März 1986 mit dem Eintrag »12h30: das Gedicht an die Dauer beendet«. Am 9. März folgen noch weitere fünfeinhalb Seiten Korrekturnotizen zum bereits fertigen Gedicht; die einzelnen Einträge sind konkreten Typoskriptseiten zugeordnet.

Erste Textfassung

Ob die erste Textfassung des Gedichts mit Hand geschrieben oder mit Schreibmaschine getippt wurde, lässt sich nicht feststellen, vielleicht ist sie nicht mehr erhalten – ihre einstige Existenz beweist aber ein auf 1. April 1986 datierter Brief von Elisabeth Borchers, in welchem sie Peter Handke »das Original und die Fotokopie mit [ihren] Anmerkungen« zurück schickte. Darin heißt es, sie habe das Gedicht zu Ostern »noch einmal gelesen«, sei »eingetaucht in dieses großartigste Gedicht«. (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz)

Zweite (letzte) Textfassung

Handke hatte ebenfalls während der Ostertage Ende März kleinere Notizen für die Überarbeitung des Textes in seinem Notizbuch gesammelt. Nach Erhalt von Borchers' Korrekturvorschlägen schrieb er Anfang April eine neue Textfassung, ein 37 Blatt umfassendes Typoskript, das er am 13. April 1986 leicht korrigiert nach Frankfurt schickte. Im Begleitbrief bedankte er sich bei Borchers für die »behutsamen Anmerkungen und Vorschläge« und meinte weiter: »Wie Du sehen wirst, habe ich fast alle befolgen können.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz) Borchers antwortete Handke mit einer kleinen Verzögerung am 25. April 1986: »Brief und Manuskript liegen nun schon zehn Tage hier, trafen während der Vertretertage ein, und dies ist immer, inbegriffen die Zeit danach, ein Höhepunkt der Unruhe. Nun bin ich soweit, habe mich wieder vertieft, in das alte und neue, sehr schön die Myriaden! Auch die hinzugekommene Zeile: mein Meister des sachlichen Sagensl... Ich habe mich auch noch einmal hineinvertieft, um das Zitat für die Umschlag-Rückseite zu finden. Ich glaube, ich hab's: Wer nie die Dauer erfuhr, hat nicht gelebt. (Mit Zeilenbruch, versteht sich.) Als mein Blick auf diese zwei Zeilen fiel, begriff ich, daß ich sie bisher noch nicht so wahrgenommen hatte, wie sie mich jetzt erfreuten und erschreckten. Sag mir, solltest Du nicht einverstanden sein mit der Wahl.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz) Mit den »Myriaden« und dem »Meister des sachlichen Sagensl…« spielte sie auf neue Einfügungen Handkes an, die man in seinem Notizbuch mit dem Projektkürzel »Ged. a. d. D.« oder »GadD« vorformuliert findet. Zum Beispiel notierte er am 27. März: »Einf. Ged. a. d. D.: "G., Meister des sachlichen Sagens"« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 048, 27.3.; vgl. GD 12).

Elisabeth Borchers zeigte sich in ihrem Brief von dem Gedicht sehr begeistert: »Es war ein ganz großes Vergnügen, dieses Buch den Vertretern vorzustellen. Vergnügen, Du weißt ja, ist nicht das richtige Wort. Eine Insel war das, inmitten riesig abzuhandelnder Manuskriptberge: ein Gedicht. Und ganz zuletzt fiel mir ein, das Gedicht ist auch ein Auferstehungsgedicht. Und ich sah, wie die Vertreter sich dies notierten.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz) Das Typoskript dieser letzten Textfassung wurde von Borchers leicht redigiert und von ihr oder Frau Jokowski von der Suhrkamp Herstellungsabteilung mit Satzzeichen für den Druck versehen.

Druckfahnen

Die Fahnen wurden vermutlich nach der Vertreterkonferenz in den ersten Maiwochen hergestellt und an Handke geschickt, der sie, wie man aus seinem Brief an Borchers vom 9. Juni 1986 schließen kann, nicht sofort bearbeitete. Mit dem Brief schickte Handke die korrigierten Druckfahnen an den Verlag retour mit der Bemerkung: »voilà. Hoffentlich ist es nicht zu spät. Du wirst nicht viel Mühe haben mit meinen Korrekturen, die keine dogmatischen Zeichen haben; aber der Zuständige wird's schon richtig übertragen.« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz) Im Verlagsarchiv hat sich die Kopie eines von Elisabeth Borchers lektorierten Fahnenlaufs erhalten, die Handke anschließend mit blauem Kugelschreiber korrigiert hat. Diese Korrekturfahnen lassen sich nicht eindeutig bewerten, denn sie sind auf 6. August 1986 datiert. Das Datum könnte sich bereits auf die Imprimatur oder einen weiteren Fahnenabzug beziehen.

Am 26. August 1986, also fast ein Monat nach seinem Brief, fragte Handke Borchers in einem weiteren Schreiben, ob man zwei seiner letzten Korrekturen doch noch einmal rückgängig machen könne, er »habe im übrigen das Gefühl, den letzten Umbruch (durch die Umstände hier, eher hektisch) zu voreilig korrigiert zu haben. Zwei Dinge kommen mir dabei immer wieder: daß ich, in der Vorstellung der Wort-Wiederholung, die "ihren Bogen westwärts ziehenden Flugzeuge" umgestaltet habe, unnötig und plump, in "beschreibenden" (weil dem das "Ziehen in der Brust" vorausgeht: Soll man die Wiederholung nicht doch lassen?[)] Und zweitens: Beim "Griffener See" steht einmal etwas wie "soll unter Beton"; in Wahrheit aber wird die Autobahn das Naß nur säumen und vom Zugang und von der Stille abschneiden: So müßte es richtiger "hinter Beton" heißen. Sind diese zwei Änderungen noch möglich? Ich entschuldige mich förmlich für diese, was das Gedicht betrifft, letzte Behelligung und wünsche Dir ein paar schöne Blicke und Atemzüge ins Freie« (DLA, SUA, A: Suhrkamp Verlag, Verlagskorrespondenz). Zu diesem Zeitpunkt muss das Gedicht schon in Druck gewesen sein, denn diese »zwei Dinge« sind nicht mehr rückgeändert worden (GD 45, 48).

Parallel laufende Projekte

Die »Hektik«, die Handke im Brief an Borchers Ende August erwähnte, könnte mit parallellaufenden Projekten zusammenhängen: mit der von Klaus Michael Grüber inszenierten Aischylos-Übersetzung Handkes, Prometheus gefesselt, die am 10. August 1986 bei den Salzburger Festspielen Premiere feierte, oder mit der Erzählung Nachmittag eines Schriftstellers, für die er bereits während seiner Arbeit an Gedicht an die Dauer Notizen gesammelt hat. Am Premierentag von Prometheus gefesselt übergab Unseld Handke im Café Winkler am Mönchsberg das erste Exemplar von Die Wiederholung und notierte zu diesem Treffen in seiner Chronik: Handke »hatte nach der "Wiederholung" und nach dem großen "Gedicht an die Dauer", einer poetischen Befragung "Was Dauer ist" – eine kleine Geschichte – angefangen. Sie sollte ursprünglich 20-30 Seiten haben, und diesen Text hatte er an Schaffler für den Residenz Verlag versprochen. Jetzt ist dieser Text doch zu einer Erzählung gewachsen mit 60 Seiten, und es ist ein richtiges Buch. Er sei "unschlüssig, aber ich weiß schon, was das für ihn bedeutet: er wollte in meiner Anwesenheit keine Entscheidung gegen mich treffen.« (Handke / Unseld 2012, S. 515f.) Im September, noch während seiner Arbeit an Nachmittag eines Schriftstellers, den er dann auch im Residenz Verlag veröffentlichte, begann Handke mit seinen Vorarbeiten für die Erzählungen Die Abwesenheit und Der Bildverlust, die zwei weitere mit dem Gefühl der Dauer und der Wiederholung zusammenhängende Empfindungen beschreiben.

Erstausgabe

Gedicht an die Dauer erschien am 22. Oktober 1986 in der Reihe Bibliothek Suhrkamp, in der für gewöhnlich keine Ersterscheinungen gedruckt werden. Als Unseld Handke die ersten Exemplare des Buches schickte, bestätigte er diese Entscheidung noch einmal: »Ich freue mich, daß wir diese Form gewählt haben. Der Text nimmt sich sehr selbstverständlich auf den Seiten aus, und das ist gut so, und die "Bibliothek" bietet Dir ja eine gute Gesellschaft der Autoren.« (Handke / Unseld 2012, S. 523) (kp)