Kaspar (1968)
Mitten in die Zeit der deutschen Studentenbewegung fällt Peter Handkes Kaspar. Das Stück, so der Autor, hätte genauso gut »Sprechfolterung« heißen können. Nach dem historischen Vorbild des Kaspar Hauser zeigt es einen Menschen auf der Bühne, der zu Beginn nur einen einzigen Satz hat. Durch anonyme Sprecher wird er mit Wörtern und in Grammatik gedrillt. Dadurch erwachsen ihm konventionelle Verhaltensweisen und vorgeprägte Bilder der Welt. Kaspar ist von einer spezifisch österreichischen Sprachkritik geprägt, die ihre Ansatzpunkte in den beiden Philosophen Fritz Mauthner und Ludwig Wittgenstein findet und in zeitlich vorausgegangenen Arbeiten der Wiener Gruppe radikale Umsetzungen gefunden hat. Durch das zeitgenössische Umfeld, auf das Handkes Kaspar im Jahr 1968 trifft, erwächst dieser Tradition hier eine tagespolitische Wirkung. Das Publikum vermochte es gleichsam am eigenen Leib zu spüren: Sätze und Satzmodelle sind Mittel der Disziplinierung und Herrschaft.
Anders als bei der Publikumsbeschimpfung, die zwei Jahre zuvor im Rahmen der Experimenta 1 quasi am Rand des eigentlichen Programms gezeigt wurde, fand die Uraufführung von Kaspar im Frankfurter Theater am Turm innerhalb des regulären Betriebes statt. Regie führte abermals Claus Peymann, in der Rolle des Kaspar war Wolf R. Redl zu sehen. Das von Moidele Bickel entworfene Kostüm erinnert an einen Harlekin, für die Aufführung wurde eine eigene »Pausenplatte« produziert, auf der sich Stimmen und Sätze der Einsager finden.
Gleichzeitig mit der Uraufführung von Kaspar im Frankfurter Theater am Turm in der Regie von Claus Peymann fand am 11. Mai 1968 eine zweite Uraufführung des Stückes auf den Städtischen Bühnen in Oberhausen statt. Regie führte Günther Büch, ein früher Handke-Enthusiast, der zuvor schon die Uraufführungen der drei Sprechstücke Selbstbezichtigung (1966), Weissagung (1966) und Hilferufe (1967) inszeniert hatte. In der Hauptrolle der gegenüber Frankfurt wesentlich reduzierten und viel weniger ausstaffierten Oberhausener Inszenierung war der junge Ulrich Wildgruber zu sehen.
Günther Büch ging mit Kaspar auf eine ausgedehnte Tournee durch den gesamten deutschsprachigen Raum und modifizierte dabei die Inszenierung immer wieder. In kurzem Abstand brachten zahlreiche andere Theater das Stück, in New York feierte es in der amerikanischen Übersetzung große Erfolge. Auch von der Kritik wurde Kaspar sehr rasch als ein Klassiker des neuen Theaters wahrgenommen, thematische Parallelen zog man bis hin zum berühmten Lord-Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal. Insgesamt ein wahrer Siegeszug des Sprachskeptizismus auf dem Theater. (kk)