Kindergeschichte; Die Lehre der Ste Victoire; Die Wiederholung; Dramatisches Gedicht

Notizbuch, 82 Seiten, 01.12.1979 bis 18.12.1979

DruckversionPDF-Version

In der Zeit von 1. bis 18. Dezember, als Handke dieses eher schmale Notizbuch führte, entstanden einige Einträge zu seiner Auseinandersetzung mit Cézanne und zur Wahrnehmung von Farben. Als Lektüren fallen hierbei Cézannes Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet, Cézannes Briefe, aber auch Ludwig Hohls Notizen zu Cézanne auf. Handkes Beschäftigung mit der Kunst Cézannes ist Teil seiner Vorarbeiten für die Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire.

Nach dem Tod Nicolas Borns am 7. Dezember 1979, dem er in dessen letzten Lebenstagen Beistand geleistet hatte, reiste Handke über München, Zürich und Marseille nach Aix-en-Provence, von wo aus er ab 11. Dezember Le Tholonet und die Umgebung der Montagne Sainte-Victoire das zweite Mal im Jahr 1979 zu Fuß beging. In der fertigen Erzählung ist die Verarbeitung der Notizen ab dem 10. Dezember gut erkennbar, schon die Anreise nach Aix bezog Handke mit ein und aus dem Eintrag »Viele Bekannte von früher höre ich nur noch ausgerufen an Flughäfen und Bahnhöfen (Zürich) [...] die würdevolle Dunkelheit in der die Leute oft auf den Flughäfen erscheinen (Schattengesichter, ohne Höllenhaftigkeit)« (S. 32) wurde beispielsweise der nahezu wortgleiche Satz in der Erzählung: »Auf den Flughäfen standen die Leute für einmal in einer würdevollen Dunkelheit; schattige Gesichter, ohne die übliche Höllenhaftigkeit. Als jemand ausgerufen wurde, den ich einst gut gekannt hatte, kam es mir vor, als begegnete ich all den Leuten von früher nur noch als Namen in internationalen Lautsprechern.« (DLS 107).

Handke unternahm diese zweite Reise nach Aix-en-Provence allen Hinweisen im Notizbuch zufolge alleine, während der Erzähler in Die Lehre der Sainte-Victoire sich in Begleitung einer Freundin namens »D.« dort befindet. Im Notizbuch hielt er bei der Niederschrift der Erzählung fest: »2. Mal Aix: "Wir"? (ohne Nennung der Person?)« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 025, S. 97) Quantitativ sind Handkes Notizen zur zweiten »Begehung« um etliche Seiten umfangreicher als die Aufzeichnungen vom Juli 1979. Im Erzähltext sind diese erheblich gestrafft und betreffen dort rund neun Seiten (DLS 107-116). Nicht eindeutig nachvollziehbar anhand der Notizen ist, ob er seine täglichen Wanderungen von Aix-en-Provence oder Le Tholonet aus unternahm, da die Einträge diesbezüglich vage bleiben. Den Aufstieg zum Plateau de Bibémus vom 12. Dezember setzte Handke an den Beginn der die Reise wiedergebenden Episode, womit er die Notizen des ersten und zweiten Tags in der Erzählung zusammenführte (S. 42, vgl. DLS 110). Erkennbar ist, dass Handke sich ab 14. Dezember in Aix-en-Provence aufhielt, da er Cézannes Landhaus Jas de Bouffan beschreibt (S. 55), am selben Tag begibt er sich auch wieder zum Flughafen und fliegt nach Paris.

Auffällig ist, dass in diesem Notizbuch das Blatt mit den Seiten 45 und 46 fehlt. Seite 45 enthält eine am 12. Dezember auf dem »Pas du Berger« angefertigte Kugelschreiberzeichnung der Montagne Sainte-Victoire mit der Beschriftung: »Montagne Ste Victoire [/] Cabanne de Cézanne [/] Le pas du berger / Le pas du berger [/] am 12.12. 15h - 16h« (vgl. die Kopie in ÖLA SPH/LW/W19, Bl. I). Die Zeichnung wurde für die Covergestaltung der Erstausgabe verwendet. Beschrieben ist die gezeichnete Ansicht der Sainte-Victoire im Notizbuch als »Molasseblöcke: erhabene Mosaike, oben auf den Badland-Mugeln (Mergel, Ton): graublau« (S. 47). Diese Beschreibung kehrt in stark überabeiteter Form in der Erzählung wieder, zentral treten dabei die in den Notizen verwendeten Begriffe »Badlands« (DLS 113) und die auf der Zeichnung erwähnte »Cabanne de Cézanne« (DLS 114) hervor. Der Inhalt auf der Rückseite des herausgerissenen Blattes ist unbekannt, da sich das Original in Privatbesitz befindet. Jedenfalls ist auf Seite 46 die Datierung des 13. Dezember zu vermuten, da Handke eineinhalb Seiten danach am 14. Dezember notierte: »[...] in der Wiederholung bekommt das alles seinen Schwung, wie die Zeichnung beim Nachzeichnen (gestern abend)« (S. 48). Die Notizen zu Farbeindrücken und Gesteinsformationen nehmen im unmittelbaren Umfeld der Zeichnung mehrere Seiten ein, in der Erzählung beschließen diese die Episode der zweiten Wanderung (DLS 115-116). 

Poetologisch knüpft Handke in den Aufzeichnungen dieses Notizbuchs zwei Mal an die Langsame Heimkehr an. So sah er am 11. Dezember die »Gefahr, daß die Ste Victoire mir plötzlich zum Phantom wird, wie der Yukon? ("Raumverlust")« (S. 40-41). Und seinen Protagonisten betreffend überlegte er am 13. Dezember: »"Wie soll ich ihn mich diesmal nennen? 'Ich', 'Wanderer', 'Man'? Vor zwei Jahren sah ich..." (*Ohne Subjekt auskommen, ohne 'Helden'?« (S. 52-53).

Am 14. Dezember reiste er wieder nach Paris, wo bis zum 18. Dezember – bis auf einzelne Bemerkungen zu Cézanne – keine relevanten Notizen zur Lehre der Sainte-Victoire mehr entstanden. (ck)

Siglenverzeichnis

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorlage): 

"Kindergeschichte"; "Die Lehre der Ste Victoire"; "Die Wiederholung"; "Dramatisches Gedicht"

Entstehungsdatum (laut Vorlage):  1.12.1979 – 18.12.1979 [Bl. I]; Dez. 1979 [Datierung auf einem Papierstreifen, ehemals am Buchumschlag]
Datum normiert:  01.12.1979 bis 18.12.1979
Entstehungsorte (laut Vorlage): 

Salzburg

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Uelzen, Dannenberg (1.12., S. 1); Penkefitz (3.12., S. 4);  Pf. Breese (5.12., S. 15); Breese (6.12., S. 18); Dannenberg, Dambeck (6.12., S. 20); Hannover (8.12., S. 22), Sterbfritz, Mittelsinn, Würzburg (8.12., S. 28-29); Theatinerkirche [München] (9.12., S. 31); Zürich (10.12., S. 32); Cours Mirabeau [Aix-en-Provence] (10.12., S. 34); Le Tholonet (11.12., S. 37; 12.12., S. 43, S. 47, S. 48); Neuilly (15.12., S. 60), Auvers (15.12., S: 60), Clamart (16.12., S. 64), Clichy (17.12., S. 67)

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

1 grünes Notizbuch kariert, mit Spiralbindung, 82 Seiten, I-II, pag. 2-68, (69-82 unpag.), I*

Format:  8 x 12 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, rot), Bleistift, Fineliner (schwarz, grün), Filzstift (grün)
Weitere Beilagen: 

1 Papierstreifen mit hs. Datierung des Notizbuchs

Nachweisbare Lektüren

  • Nicolas Born: Bahnhof Lüneburg. 30. April 1976 (2.12., S. 2)
  • Paul Cézanne: Gespräche mit Gasquet (2.12., S. 4); Briefe (4.12., S. 10, 5.12., S. 13)
  • Ludwig Hohl: Notizen (3.12., S. 6; 4.12., S. 11-12)
  • Johann Wolfgang Goethe: Faust (4.12., S. 11); Maximen und Reflexionen (8.12., S. 27-28; 13.12., S. 54-55); Sprüche in Prosa (11.-13.12., S. 40-41, S. 54-55)
  • Paul Klee: Tagebücher 1898-1918 (6.12., S. 20)
  • Odysseas Elytis (8.12., S. 29)
  • Kurt Badt: Die Kunst Cézannes (9.12., S. 32, 16.12., S. 62)
  • Honoré de Balzac: Le Chef-d’œuvre inconnu (10.12., S. 34)
  • Francis Ponge (13.12., S. 50)
  • Kurt Leonhard: Paul Cézanne in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (13.12., S. 53)
  • Italo Calvino (16.12., S. 64)
  • Nicolas Poussin: Lettre à Monsieur de Chambray (18.12., S. 68)

 

Bildende Kunst:

  • Jacob Isaackszoon van Ruisdael (1.12., S. 1)
  • Max Liebermann: Der Garten des Künstlers am Wannsee (8.12., S. 26)
  • Paula Modersohn-Becker: Stilleben mit gelbem Krug (8.12., S. 26)
  • Carl Schuch (8.12., S. 26)
  • Tilman Riemenschneider: Madonna im Rosenkranz (8.12., S. 27)
  • Winslow Homer: Die Sommernacht (15.12., S. 60)
  • Édouard Vuillard (15.12., S. 60)
  • Nicolas Poussin: Je Jeune Pyrrhus sauvé (16.12., S. 63)
  • Domenico Beccafumi (16.12., S. 63)
  • Pablo Picasso (17.12., S. 67)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • »gegen Abend, 3.12.1979 Nicolas«, Porträt des todkranken Nicolas Born (3.12.1979, S. 7)
  • Porträt des todkranken Nicolas Born (5.12.1979, 16h, S. 19)
  • Der tote Nicolas Born (7.12.1979, 12h, S. 23)
  • »Le Tholonet, Bank, 11.12.79«, ausgezogener Schuh auf Eichenblättern (S. 37)
  • »Montagne Ste Victoire«, spätere Titelzeichnung für die Buchausgabe, aus dem Notizbuch entnommen (S. 45)
  • Felsen der Barre du Cengle (S. 53)