Eine Woche im März

Notizbuch, 92 Seiten, 05.03.1976 bis 15.03.1976

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Beschreibung

Dieses braune, spiralgebundene Notizbuch aus der Zeit zwischen 5. und 15. März 1976 umfasst 96 Seiten, die von Peter Handke mit verschiedenen Schreibstiften beschrieben wurden. Die Seiten sind unpaginiert – die folgenden Quellenangaben beziehen sich auf die im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek vorgenommene Folierung der kopierten Doppelseiten von 1-48. Das Notizbuch wurde von Handke mit dem Titel »Eine Woche im März« versehen. Dieser Titel ist programmatisch. Er steht in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit einem Schreibprojekt, sondern drückt vielmehr den Versuch des täglichen zweckfreien Notierens aus. »Eine Woche im März« ist Peter Handkes erstes konsequent als Journal geführtes Notizbuch. Auffällig sind darin die im Vergleich zu früheren Notizbüchern fast tagebuchartigen, sehr persönlichen Einträge über seine Beziehungen zu Frauen, zu seinem Kind oder über das Alleinsein und ein am Schreiben ausgerichtetes Leben. Eine Notiz dazu lautet etwa: »Die Gefahr bei diesem Nachdenken, Alleinsein, Sehen, Sinnen usw. ist, daß man schließlich sich nicht mehr lockern kann für irgendeine andere Existenz!« (S. 7)

Projektrelevante Notizen

In einem persönlichen Ton notierte Handke Empfindungen oder Erinnerungen, die in keinem unmittelbaren Werkzusammenhang standen, auf die er aber beim Schreiben Jahre später wieder zurückkommt. Ein gleich am Notizbuchbeginn festgehaltener Eindruck könnte beispielsweise für das vier Jahre später geschriebene Stück Über die Dörfer impulsgebend gewesen sein: »Meine Schwester will ein Geschäft aufmachen und will Geld dafür: sie redet schon so viel und so schnell wie ein Betrüger«. (S. 1) In Über die Dörfer geht es darum, dass auf das Elternhaus eine Hypothek aufgenommen werden soll, damit die Schwester von Gregor sich selbstständig machen kann. Gregors Vorwürfe erinnern an die Notiz. (ÜDa 64f.) An einer anderen Stelle erinnerte sich Handke bei der Vorstellung eines möglichen Films »mit dem Titel "Mein Leben"« an ein Erlebnis mit seiner Mutter, das er später für die Erzählung Die Wiederholung verwendet: »das Warten in der Nacht nach der Aufnahmeprüfung im Internat, an einer Obus-Haltestelle in St. Peter bei Klagenfurt, im Regen, die Zusammengehörigkeit plötzlich mit der Mutter, und wie wir hinten im Auto mitgenommen wurden von jemandem, und das Auto hatte keine Rücksitze, so daß wir auf dem Autoboden saßen« (S. 4; vgl. DW 31). Überhaupt findet man im Notizbuch immer wieder Erinnerungen oder Traumnotizen zur Familie, zum Beispiel über seinen »Ekel vor Geräuschen«, vor allem aus der Kindheit – »die Schluckgeräusche des Stiefvaters, der dann so furchtbar als Besoffener war«; »sein Husten am naßkalten Morgen im Klosett«; »das Katzen-Niesen der Tante, das Nasenschniefen des Großvaters«; »das Schluckauf der Mutter (so oft, daß sie weinen mußte!)« (S. 23).

Ungewöhnlich ist, dass dieses Notizbuch keine Korrekturnotizen zur Erzählung Die linkshändige Frau enthält, die Handke in diesem Zeitraum von der zweiten zur dritten Textfassung überarbeitete. Er notierte sich nur eine Art Motto, das allerdings nicht in die Erzählung aufgenommen wurde: »"für die Unbekannte, die mir in einer Gasse entgegenkam und seitdem immer + nirgends" (Die linkshändige Frau)« (S. 9). Einzelne Einträge zum Alleinsein oder zu Beziehungen streifen die Erzählung nur thematisch, sind ihr aber nicht eindeutig zuzuordnen.

Selbstbeobachtung und Aufmerksamkeit

Handke ging es in den Notizen um Selbstbeobachtung und um das Erreichen einer für sein Beobachten und Schreiben notwendigen Aufmerksamkeit. Er verdeutlichte sich immer wieder sein Problem, das er in der Ungleichzeitigkeit seiner Gefühle, Handlungen und Worte sah: »Ein Gleichgewichtsstörer bei mir: daß ich im Kopf immer der jeweiligen Handlung, die ich verrichte, um etwas voraus bin; diese kleine SPANNE des Auseinanderklaffens zwischen Bewußtsein und Tätigkeit verhindert manchmal das Gefühl für die Tätigkeit selber (Waschen mit kaltem Wasser einfach, oder Gehen, oder Laufen, Essen, und auch SCHREIBEN!)« (S. 28). Und er suchte Methoden gegen diese »Vor-Eiligkeit« (S. 30): »Deswegen mein fast zwanghaftes RIECHEN an allen Sachen, mit denen ich umgehe – um mir ihre GEGENWÄRTIGKEIT zu erhalten, und mit ihnen zusammen zu bleiben und nicht hinauskatapultiert zu werden in meinen Leerraum« (S. 30) Oder: »Plötzlich der Gedanke, daß ein Krieg mich beschwichtigen würde, indem er mein Innerstes nach außen kehrte, es gäbe keine Schwierigkeiten mehr mit der Zeit und der Unwirklichkeit: ein unwirklicher Gedanke!« (S. 26) Um den gewünschen Zustand zu erreichen, formulierte er sich immer wieder ein Übungsprogramm: »Ich muß wirklich vor mir selber darauf bestehen, allein zu sein! (und nicht jedem nachgeben, der nur 1 Stunde mich ablenkt)« (S. 27) oder: »Die Selbstlosigkeit trainieren!« (S. 8)

Reisen, Lektüren, Illustrationen

Am vorderen Vorsatz des Notizbuchs schrieb Handke seine damalige Wohnadresse in Paris, »77, Bd de Montmorency« – Paris ist auch als Entstehungsort der Notizen anzunehmen. Zusätzliche Orts- oder Reiseangaben kommen im Notizbuch selten vor und wenn, dann meist im Kontext von Erinnerungen an Klagenfurt (S. 4), an eine Fahrt in der Hamburger U-Bahn (S. 24), an seinen Besuch in der Kathedrale von Chartres (S. 28) oder an das Grand Hotel in Zell am See (S. 47). Nur wenige Notizen deuten ihren Entstehungsort an: »In Kronberg zurück: ich würde die Siedlung zur Kälte anstecken: zwei kalte Siedlungen (ich + der Rote Hang)« (S. 12); die Notizen über eine »einkaufende Concièrge«, die ausrief: »mon Boulevard Montmorency« (S. 29) und zu seinen Fahrten mit dem »Vorortzug« (S. 30) zum »Vorort-Kindergarten« (S. 31). Ebenso gibt es kaum Hinweise auf Lektüren: einmal auf John Cowper Powys Wolf Solent (S. 22), eine eher hämische Notiz zum Schriftsteller James Joyce (S. 15), die aber nicht unbedingt auf eine Lektüre schließen lässt, und einmal zu einer Fernsehsendung mit Alexander I. Solschenizyn (S. 33). Im Notizbuch befinden sich etliche Zeichnungen von Handkes Tochter Amina (S. 10, 11, 19, 20, 35) und eine nur 1,5 x 1,5 cm kleine Notizskizze von ihm selbst, mit der er die ungewöhnliche Form der Besteckfächer in einem Restaurant festgehalten hat.

Veröffentlichung im Journal

Die meisten Notate wurden später, allerdings in einer etwas umgearbeiteten, verallgemeinerten Form, in Das Gewicht der Welt aufgenommen. Das Notizbuch enthält auch jene Notiz, die den Titel des Journals mitbestimmt hat und die Handkes Veränderung seiner poetischen Ausrichtung vorgibt: »Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: "Die konkrete Poesie", "Andy Warhol", und dann Marx & Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr erschüttern als das Gewicht der Welt« (S. 8). (kp)

Siglenverzeichnis

Werkbezüge

Das Gewicht der Welt

Peter Handkes Notizbuch mit dem Titel »Eine Woche im März« enthält Aufzeichnungen aus der Zeit zwischen 5. und 15. März 1976. Es umfasst 96 Seiten, die allerdings nicht paginiert wurden, so dass die folgenden Quellenangaben mit der im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek vorgenommenen Folierung der kopierten Doppelseiten von 1-48 angegeben werden. Das Notizbuch steht in keinem direkten Zusammenhang mit einem Schreibprojekt, sondern zeigt vielmehr den Versuch des täglichen zweckfreien Mitschreibens von Bewusstseinseindrücken. Es ist Peter Handkes erstes konsequent als Journal geführtes Notizbuch. Mit Ausnahme von ein paar kleineren Notizen wurden die meisten darin festgehaltenen Aufzeichnungen in Das Gewicht der Welt übernommen, darunter auch die für das Journal titelgebende Notiz: »Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: "Die konkrete Poesie", "Andy Warhol", und dann Marx & Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr erschüttern als das Gewicht der Welt« (S. 8, DGW 34). Die Notate umfassen im Journal 30 Seiten (DGW 30-59).

Teilveröffentlichung in Literaturzeitschriften

Noch vor Erscheinen des Journals veröffentlichte Handke 1976 kleinere Notizbuchauszüge in Literaturzeitschriften. Die Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von 5. bis 8. März wurden zusammen mit Einträgen aus zwei vorangehenden Notizbüchern unter dem Titel Das Gewicht der Welt (Materialien zu nichts Bestimmtem) in der Zeitschrift Text & Kritik 24/24a von 1976 (S. 6-14) abgedruckt. Die Notizen von 8. bis 9. März erschienen noch im selben Jahr unter dem leicht variierten Titel Das Gewicht der Welt. Notizen zu nichts Bestimmten in den manuskripten, Heft 52 (S. 17-20). Im Titel als »Folge« gekennzeichnet gaben die manuskripte auch noch die Notate von 10. bis 13. März in Heft 54 (S. 17-20) heraus. In diesen Teilabdrucken entsprechen die Notate relativ genau den Einträgen im Notizbuch, Personenbezeichnungen oder Namen wurden allerdings weggelassen. Zum Beispiel lautet der Notizbucheintrag: »Meine Schwester will ein Geschäft auf machen [...]« (S. 1) in Text & Kritik: »Jemand will ein Geschäft aufmachen [...]« (Text & Kritik S. 6; vgl. DGW 30) Die zeitliche Zuordnung der Notizen wurde von Handke für die Veröffentlichung in Text & Kritik leicht verschoben. Im Notizbuch sind die ersten Einträge auf 5. März 1976 datiert. In Text & Kritik beginnen die Notizen aus »Eine Woche im März« jedoch mit 6. März (S. 6), folgen dann aber der Entstehungschronologie des Notizbuchs, so dass es eigenartigerweise zwei mit »6. März« datierte Notatreihen gibt (Text & Kritik S. 6 u. 9). Alle weiteren in Text & Kritik oder in den manuskripten angegebenen Datierungen stimmen mit den Notizbuchdaten überein.

Abdruck im Journal

Für das Journal Das Gewicht der Welt wurden viele Notate von Handke noch einmal überarbeitet, manche wurden mit zusätzlichen Kommentaren versehen, in der Anordnung leicht verändert oder zusammengezogen. Generell handelt es sich aber um keine gravierenden Eingriffe. Im Notizbuch lautet etwa ein aus vier Sequenzen bestehender Eintrag: »Meine Erinnerungsruinen [/] Aufwachen aus dem behütetsten Schlaf: als ob einem im ruhigsten, friedlichsten Dahingehen ein Bein gestellt würde [/] Erwachen mit der Vorstellung, im Schlaf das Kind erwürgt zu haben; und nicht wagen, hinzugreifen; endlich ein Seufzer neben einem [/] Ich versuche mich an die Einzelheiten von Orten zu erinnen, und es kommen nur Ruinen zustande« (S. 43). Der Eintrag wurde im gleichen Wortlaut als vier durch Zeilenabstand getrennte Notizen in den manuskripten (Heft 54, S. 79ff.) abgedruckt. In Das Gewicht der Welt wurde der erste und der letzte Teil verbunden, leicht erweitert und hinter die beiden mittleren Einträge, gereiht: »Erinnerungsruinen: ich versuche mich an Einzelheiten von Orten, Häusern, Gesichtern zu erinnern, und es kommen immer nur Ruinen zustande« (DGW 53). Mehrheitlich wurde aber die Reihenfolge der Einträge aus dem Notizbuch übernommen. Etliche kleinere Notate, die in den Zeitschriftenveröffentlichungen abgedruckt waren, wurden nicht ins Journal übernommen. Zum Beispiel: »Der Schwanz des Friseurs an meiner Schulter«  (S. 34); »Gehen all die Alten ins chinesische Restaurant wegen ihrer Zähne?« (S. 35) oder »Das Geld, das ich habe, ausnützen, um zu einem Bewußtsein zu kommen, das mich das Leben mit zu wenig Geld leichter ertragen ließe« (S. 40) (manuskripte Heft 54, S. 74, 75). 

Wie schon bei den Teilabdrucken in den Literaturzeitschriften wurden die Datierungen etwas verändert. Im Journal lässt Handke die Einträge aus »Eine Woche im März« ebenfalls erst mit 6. März beginnen, unter dem Datum des 5. März findet man Einträge aus dem vorhergehenden Notizbuch »Die linkshändige Frau« (ÖLA SPH/LW/W9). Die erste ins Journal aufgenommene Notiz aus »Eine Woche im März« lautet: »F.: Sie schreit über alles entsetzt oder verzückt auf – und im nächsten Moment hat sie es vergessen« (DGW 30; vgl. S. 1); sie ist auch im Notizbuch der erste Eintrag. Die Aufzeichnungen vom 6. März (es handelt sich dabei um die in Text & Kritik zweite mit 6. März datierte Notatreihe) wurden dafür dem 7. März zugeordnet, wodurch die Notizen des 7. März im Journal die Notizbuchaufzeichnungen von zwei Tagen umfassen. Die folgenden Datierungen stimmen mit jenen des Notizbuchs überein. (kp)

Siglenverzeichnis

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

Eine Woche im März

Zusätzlich eingetragene Werktitel:  Das Gewicht der Welt (Besitz 2: S. 8); Die linkshändige Frau (Besitz 2: S. 9)
Beteiligte Personen:  Amina Handke
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  → ab 5.3.1976 [Besitz 2: S. 1]; 15.3. [Besitz 2: S. 1]; 5.3.1976 bis 15.3.
Datum normiert:  05.03.1976 bis 15.03.1976
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

Paris; Kronberg [Besitz 2: S. 12]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

1 braunes Notizbuch, 96 Seiten, I, 94 unpag. Seiten, I*, mit Beschriftung im Seitenschnitt »Peter Handke«

Format:  7,4 x 11,8 cm
Schreibstoff:  Fineliner (schwarz), Kugelschreiber (blau, rot), Filzstift (blau, magenta)

Nachweisbare Lektüren

  • John Cowper Powys: Wolf Solent (Besitz 2: S. 22)
  • Notiz zu einer Fernsehsendung mit Alexander Issajewitsch Solschenizyn (Besitz 2: S. 33)

Autoren-Erwähnungen (ohne gleichzeitiger Lektüre):

  • Notiz mit Erwähnung der konkreten Poesie, Andy Warhol, Karl Marx und Sigmund Freud (Besitz 2: S. 8)
  • Notiz zum Schriftsteller James Joyce (Besitz 2: S. 15)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 
  • Kinderzeichnungen von Amina Handke (Besitz 2: S. 10, 11, 19, 20, 35)
  • eine kleine Formskizze der geschwungenen Besteckfächer in einem Restaurant von Peter Handke (Besitz 2: S. 47)