Schulfrei; Erste Bilder

Notizbuch, 58 Seiten, ohne Datum [??.??.1975]

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Beschreibung

Das Notizbuch mit dem eingetragenen Projekttitel »SCHULFREI« von 1975 ist Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich und wird im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Es hat einen orangefarbenen Einband, ist spiralgebunden und zählt 58 karierte Seiten, die von Peter Handke mit verschiedenen Schreibgeräten beschriftet und von 1-58 paginiert wurden. Auf den letzten drei Seiten schrieb Handke um Zeichnungen seiner Tochter Amina herum. Es ist undatiert, entstand aber wahrscheinlich nach dem Notizbuch Der Staat & der Tod im Herbst/Winter 1975, da auf dem Einband außen der Titel »Der Staat und der Tod« und die Gattungsbezeichnung »Posse mit Gesang« durchgestrichen und durch »SCHULFREI«, »ERSTE BILDER« ersetzt wurde.

Notizen zum stummen Stück

Bei den Notizen handelt es sich bis auf die letzten Seiten um weitere Aufzeichnungen zu dem geplanten stummen Theaterstück, das er in einem Notat auch erklärt: »Es darf nie der Eindruck entstehen, daß sie untereinander noch sich noch etwas bedeuten wollen – das man in gesprochene Sprache übersetzen kann ihre stummen Handlungen (:Mündel) sind kein nicht vor-, sondern nachsprachlich!!! Sie werden nie zu reden anfangen, sie haben für immer zu reden aufgehört« (S. 9). Die im Stück vorkommenden Figuren werden in diesem Notizbuch nicht mehr aufgelistet oder vorgestellt (das hatte Handke bereits im vorhergehenden Notizbuch gemacht), sie werden meist nur in ihren Abkürzungen erwähnt: »O1« und »O2« (Ordnungshüter), »M« (Mann), »F.« (Frau), »S.« (Störenfried), Kinder, »A« und »B«. Außerdem kommen noch Figuren vor wie der »Patron« eines Restaurants (S. 3, 5), eine »Schlagersängerin« (S. 15), ein »Kellner« (S. 25) oder »Ober« (S. 28).

Der Schauplatz mit Bauzaun, Tisch und Telefonzelle vom vorhergehenden Notizbuch wird in diesem Notizbuch mit weiteren Details beschrieben oder um neue Gegenstände ergänzt: »Auf dem Bauzaun: ein Totenkopfsymbol + ein Reformhaussonnen-Symbol« (S. 5); der »Tisch: hat was von einem Gartentisch, weiß, zusammenklappbar« (S. 7); »Eine Litfaßsäule mit Öffnung, die als Bar dient? Jedenfalls als geheimnisvolle Tabernakelöffnung« (S. 7). Die Notizen skizzieren Handlungen, Gesten der einzelnen Figuren sowie die Konzeption. Etwa: »1. Phase: Integrationsversuche durch O1 + O2 an M + F – halbe Erfolge« und »2. Phase: Auftreten des Störenfrieds, der Kinder [/] O2 kommt aus dem Konzept [/] M & F konsolidieren sich«, »3. Befreiung von O2 Anbiederung von O1« und »4. Allgemeine Befreiung« (S. 4). Oder: »wichtig: Kleider, Frisuren, Gangwechsel« (S. 9); »SCHLAG auf SCHLAG spielen, in jedem Sinn« (S. 21), »Während dem Schlußgesang gibt es noch Zwischenfälle, Stupsen, Grinsen, Kratzen, Gähnen,…« (S. 21).

Veröffentlichung der Notizen

Ein Großteil der Notizen wurden später zusammen mit den Aufzeichnungen aus dem vorhergehenden Notizbuch (ÖLA SPH/LW/W69) unter dem Titel SCHULFREI oder: Der Staat und der Tod in der Literaturzeitschrift manuskripte, Heft 50 (1975), S. 70-72 abgedruckt, wobei sich diese Veröffentlichung ganz auf das das projektierte Theaterstück konzentrierte. Die in den Notizen beschriebenen Gesten und Handlungen von Figuren wurden von Handke in seinen späteren Stücken immer wieder aufgenommen. Dieser Text wurde anläßlich der Uraufführung von Peteter Handkes stummen Theaterstück Die Stunde da wir nichts voneinander wußten am 9. Mai 1992 im Burgtheater Wien auch im Programmheft abgedruckt.

In der zweiten Jahreshälfte 1976 erschien (bereits im Format der Journale) ein weiterer kleiner Auszug von Notizen in der Zeitschrift protokolle Heft 2 (1976), S. 75-79 unter dem Titel Materialien zu nichts Bestimmtem; der Großteil der dort abgedruckten Notizen stammt dabei aus diesem Notizbuch (S. 75-77). Die Zusammenstellung der Notate ist etwas umfangreicher als die später ins Journal Das Gewicht der Welt übernommenen Einträge aus diesem Notizbuch und unterscheidet sich neben der Auswahl auch in der einzelnen Bearbeitung der Notate.

Zu Rolf Dieter Brinkmann

Auf den letzten vier Seiten des Notizbuchs findet man Handkes Skizze für seine Rede anlässlich der Petrarca-Preis-Verleihung 1975 an Rolf Dieter Brinkmann, der im selben Jahr verstorben war. Die Notizen, die damit enden »daß es ihn nicht mehr gibt Bitterkeit, Verlust« (S. 57) wurden auch im Privatdruck des Petrarca-Preises Petrarca-Preis 1975-1979 abgedruckt. (kp)

Gesamtfaksimile

Werkbezüge

Das Gewicht der Welt

Das Notizbuch mit dem Projekttitel »SCHULFREI« umfasst 58 karierte Seiten, die von Peter Handke mit verschiedenen Schreibgeräten beschriftet und von 1-58 paginiert wurden. Es ist undatiert, entstand aber wahrscheinlich nach dem Notizbuch »Der Staat & der Tod« im Herbst/Winter 1975Etwas mehr als ein Drittel der Aufzeichnungen dieses Notizbuchs wurden von Handke ins Journal Das Gewicht der Welt übernommen. Weggefallen sind vor allem Skizzen und Entwürfe zum geplanten stummen Theaterstück mit dem Titel Schulfrei oder: Der Staat und der Tod.

Überarbeitung der Notizen

Für die Veröffentlichung wurden einige Einträge fast wörtlich übernommen, die meisten wurden jedoch noch mehr oder weniger stark bearbeitet. Generell formte Handke die eher stichwortartigen Notizen zu Sätzen und löste die auf das Theaterstück bezogenen Notate von den Figurenzusammenhängen. Zum Beispiel lautet die Notiz »FADED GLORY-T-Shirt (O1 am Schluß) unter dem Smokinghemd« (S. 36) im Journal: »Ein Mann trägt unter dem Smoking ein T-Shirt mit der Aufschrift Faded Glory« (DGW 13); Handke strich den Zusatz »O1«, der sich auf die Figur »Ordnungshüter 1« im Stück bezog, und ersetzte ihn durch »ein Mann«. Auch andere Einträge wurden in eine allgemeinere Form gebracht. In der Notiz mit dem Anfang: »durch Paris gehen […]« (S. 14) ersetzte Handke im Journal den Ortsnamen durch die offenere Bezeichnung: »durch die dröhnende Stadt gehen, […]« (DGW 13). Zwei an unterschiedlichen Stellen im Notizbuch geschriebene Notizen findet man manchmal zu einem Journaleintrag zusammengezogen wie die beiden Einträge: »einer, der herumsteht, Sachen zurechtrückend, einen Kugelschreiber am Mund, wie der Patron eines Restaurants« (S. 3) und »wie der Patron sich mit d[em] Finger festhält, über sich beim Herumstehen macht sich die Fingernägel sauber« (S. 5; DGW 11f.). Mehrmals ergänzte Handke Notizen durch kleine Kommentare: »wenn nach dem Tanzen die Bewegungen abbrechen und nur Geräusche und Weggehen ist« (S. 17) wurde etwa mit dem Nachsatz versehen: »Besänftigung zog in sein Herz« (DGW 13).

Anordnung der Notizen im Journal

Die Notizen aus »SCHULFREI [/] ERSTE BILDER« umfassen im Journal insgesamt vier Buchseiten (DGW 11-14, 17-18), wobei sie nicht entstehungschronologisch gereiht, sondern für die Veröffentlichung leicht umarrangiert wurden. Zusätzlich wurden sie mit Einträgen aus den beiden Notibüchern »Der Staat und der Tod« (ÖLA SPH/LW/W69) und »Die linkshändige Frau« (DLA, A: Handke Peter, NB 001) durchsetzt bzw. vermischt. So stammt die erste in Das Gewicht der Welt abgedruckte Notiz bereits aus diesem Notizbuch (S. 2): »Als ob man sich manchmal bücken müßte zum Weiterleben.« (DGW 9) Sie wurde erst in der Bearbeitung des Typoskripts der Satzvorlage (Textfassung 1) durch Handkes Lektor Jochen Jung vorgezogen und an den Anfang des Journals gestellt (ÖLA 165/W1, Bl. 1, 2). Auf diese erste vorgezogene Notiz folgen im Journal zweieinhalb Seiten mit Aufzeichnungen aus dem früher entstandenen Notizbuch »Der Staat und der Tod« (DGW 9-11) bis mit dem Notat: »Leise sein wollen […]« (DGW 11; im Notizbuch S. 1) die Einträge aus dem Notizbuch »SCHULFREI« beginnen. Sie verlaufen über drei Seiten bis zur Notiz »Einen Gegenstand, mit dem […]« (DGW 14; im Notizbuch S. 41) und folgen mit einer Ausnahme der Chronologie der Notizbuchaufzeichnungen. Nur die für sein stummes Theaterstück bestimmte Faded-Glory-Notiz von Seite 36 im Notizbuch (siehe oben) fällt aus der Reihe; sie wurde im Journal vorgezogen (DGW 13) und zwischen zwei Notizen von Seite 23 und 26 des Notizbuchs gestellt. An diesen Block mit Notizen aus »SCHULFREI« (DGW 11-14) schließen die Aufzeichnungen des Folgenotizbuchs »Die linkshändige Frau«, in die Handke wiederum eine kleine Sequenz mit Notizen aus »SCHULFREI« (S. 42-47) gemischt hat. Es handelt sich um die Einträge ab »Die Frau, nach so viel elegantem Gang, […]« (DGW 17; Notizbuch  S. 42) bis »Eine schöne, ernste Frau […]« (DGW 18, Notizbuch S. 42).

Zeitliche Zuordnung der Notizen                                     

Alle Aufzeichnungen des Notizbuchs »SCHULFREI« wurden von Peter Handke im Journal unter den Monat November 1975 gereiht. Diese zeitliche Zuordnung dürfte allerdings nicht der tatsächlichen Entstehungszeit der Notizen entsprechen. Die Einträge dieses undatierten Notizbuchs wurden vermutlich im Sommer 1975 geschrieben, noch bevor Handke sich im November dem Schreibprojekt Die linkshändige Frau zuwandte. Hinweise auf diese Datierung gibt die Korrespondenz Handkes mit seinem Verleger Siegfried Unseld. (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 290 u. 296) Die spätere Umdatierung könnte sich aus der zeitlichen Lücke zu den folgenden ins Journal aufgenommenen Notizen für Die linkshändige Frau ergeben haben. (kp)

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Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

"Der Staat und der Tod", "SCHULFREI", Posse mit Gesang, ERSTE BILDER

Beteiligte Personen:  Amina Handke
Datum normiert:  ohne Datum [??.??.1975]
Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Paris (S. 14), St. Germain (S. 48), Auteuil (S. 48), Paris (Adresse auf S. 58)

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Art, Umfang, Anzahl: 

1 Notizbuch, 58 Seiten, pag. 1-58, I*

Format:  8 x 12 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, rot), Filzstift (schwarz, grün)

Nachweisbare Lektüren

Karl Kraus (über Nestroy) (S. 48)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

früheste Notizbuchzeichnung von Peter Handke auf S. 47; Zeichnungen von Amina Handke S. 56-58

Bemerkungen: 

wegen der Titelüberarbeitung und Weiterentwicklung von Figurennamen entstand das Notizbuch »SCHULFREI« mit großer Wahrscheinlichkeit später als das Notizbuch »Der Staat und der Tod« (ÖLA SPH/LW/W69); das Notizbuch ist leicht beschädigt (S. 53/54 tw. ausgerissen)