Der orangefarbene Notizblock mit der Aufschrift »Ins tiefe Österreich« enthält Peter Handkes Aufzeichnungen aus der Zeit von 21. Juli bis 6. September 1976 und eine kleine Notiz vom 10. September. Das Original zählt zum Bestand der Sammlung Peter Handke / Leihgabe Widrich, die am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird. Der Block umfasst 82 Seiten, die vom Archiv mit einer Folierung von 1-82 versehen wurden. Am vorderen Vorsatz (hier der Innenseite des vorderen Notizblockdeckels) vermerkte Handke den Entstehungszeitraum der Notizen »21.7.76 – 6.9.76«, die Adresse des Residenz Verlags in Salzburg sowie die vier kleineren Notizen »Amina, das erfahrene Kind (an diesem Abend, 10.9.)«, »châque au proteur«, »non barré« und »ohne Namen« (S. I). Am hinteren Vorsatz (der Innenseite des hinteren Notizblockdeckels) notierte er die Telefonnummern verschiedener Hotels in Venedig, schrieb darunter aber noch seine Notizen vom 6. September fort. Die Aufzeichnungen entstanden während einer insgesamt zweimonatigen Reise Handkes, die ihn in der hier dokumentierten zweiten Etappe in den Westen Österreichs und über München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien führte. Der hintere Teil des Notizbuchs wurde in Paris geschrieben. Die Einträge sind ab 21. Juli 1976 fortlaufend bis 6. September datiert, nur zwischen 9. und 14. August weist das Notizbuch eine Lücke auf. In dieser Zeit reiste Handke durch kleine Ortschaften in Kärnten und notierte seine Beobachtungen in ein gesondertes Notizbuch (ÖLA/SPH/LW/W12).
Die Reisebewegungen Handkes lassen sich anhand der Aufzeichnungen oftmals nur ungefähr nachvollziehen oder indirekt über andere Materialien (Briefe oder Fotos) erschließen, die Stationen wurden von ihm noch nicht (wie in späteren Notizbüchern) genau dokumentiert. Die Aufzeichnungen dieses Notizblocks beginnen seinen Angaben zufolge in Innsbruck (Tirol). Er dürfte dort am selben Tag (vielleicht aber auch schon am Vortag) mit dem Zug aus Tamsweg im Salzburger Land (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 007) kommend eingetroffen sein. Unklar ist aber, ob Handke in Innsbruck blieb oder außerhalb übernachtete und von dort Tagesreisen unternahm oder ob er gleich bzw. am nächsten Tag weiterreiste. Am 22. Juli war er den Notizen zufolge jedenfalls in Feldkirch und Dornbirn in Vorarlberg, wo er die »sehr heitere und wohnliche Kirche« (S. 3) in Dornbirn besichtigte und seine Eindrücke der Stimmungen und Gesprächen in den örtlichen Gasthäusern festhielt. In einer Notiz erwähnte er auch das »Rote Haus« (S. 7). Am 23. Juli nahm Handke vom Bahnhof Innsbruck (eine lange Notiz beschreibt die Morgenstimmung am Bahnhof) den Zug nach München (S. 10ff.).
In München holte er am 24. Juli seine Tochter Amina vom Bahnhof ab, die während seiner Reise durch Österreich mit ihrer Mutter Libgart Schwarz in Italien geblieben war. Sie dürften dann beim befreundeten Ehepaar Hanne und Hermann Lenz geblieben sein (S. 14-16), wie eine Postkarte vom 12. Juli 1979 bestätigt, auf der Handke Lenz sein Kommen ankündigte: »Ich habe vor, am 23.7. in München zu sein, wo ich Amina + Libgart, die von Florenz kommen, vom Zug abhole. Könnte ein Teil von uns 2 Tage bei Euch schlafen?« (Handke / Lenz 2006, S. 101) Die Notizen dokumentieren darüber hinaus einen Besuch der Alten Pinakothek und Handkes Studium einiger Gemälde dort, beispielsweise von Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht (Die Schlacht bei Issus) (S. 12) und Susanna im Bade (S. 13), des Sebastiansaltar[s]: Martyrium des hl. Sebastian (S. 13) von Hans Holbein d. Ä., der Klage unter dem Kreuz (S. 13) von Lucas Cranach d. Ä., der Sieben Freuden Mariens (S. 13) von Hans Memling oder der Bilder von Matthias Grünewald (S. 13), Hiernoymus Bosch (S. 13) und Ludwig Refinger (S. 12).
Von München reiste Handke zusammen mit seiner Tochter weiter nach Salzburg, wo er sich einige Tage aufhielt und seinen Verleger Wolfgang Schaffler (S. 26-34), aber auch seinen Freund Hans Widrich (S. 28) traf. Während des Aufenthalts entstanden einige Notizen zu Salzburg, die bereits an seine 1983 erschienene Erzählung Chinese des Schmerzes denken lassen. Er besichtigte die Müllner Kirche (30.7., S. 25) und die Kollegienkirche (3.8., S. 31), bemerkte die »Lichter Salzburgs vom Gaisberg und die dunklen Buckel der zwei Berge dazwischen« (S. 22) und notierte seine Abscheu über Salzburg: »Die Stadt Salzburg, mit ihren Fußgängergeräuschen, leise und künstlich bedachtsam wie in einem Totenzimmer, wo liegt der Leichnam, und es gibt keine Bewohner da, die ihrem eigenen Leben nachgehen, die Häuser wie offen, ohne Türen, für die Kunden, und die Bewohner {nichts} als Kundenerwarter, in einer Reihe hinter den Budeln in den pervers offenen Häusern stehend, alle Leute an diesen Barockhäusern wie Fremdkörper wirkend, in eine Arena geraten, die nicht für sie bestimmt ist, und der Pferdeäpfelgeruch in den Straßen und der grinsend bösartige Blick der auf die Festspielbesucher Lauernden, ohne Neugier und Teilnahme, nur höhnisch adabeiseiend, die starrenden Gesichter der Festspielbesucherinnen in den langen Kleidern, seelenlos für einen Abend verpuppt« (S. 29-30) Gegen das »Erstickungsgefühl, das sich in S. einstellt nach einigen Tagen beim Anblick z.B. einer gelb eingekleideten Regenfamilie, vor so behaupteter Abwesenheit des Todes« (S. 21) notierte er: »Jetzt muß ich schnell Poesie lesen, sonst hasse ich mich und die Welt!« (S. 21) sowie seine Wahrnehmungen fürs Schreiben reflektierend: »Die Genialität meiner wütenden stillen Selbstgespräche beim Schreiben erreichen« (S. 21).
Am 6. August reiste Handke mit seiner Tochter von Salzburg weiter nach Kärnten (S. 34-48), wo er in Klagenfurt aller Wahrscheinlichkeit nach seine Schwester Monika besuchte (S. 45, 46, 47). Am 7. August schrieb er in seinen Notizblock: »die Krise, in der ich bin, hat weil es die letzte und allgemeinste ist, keine Auswege, keine Erleichterungen, auch nicht den Mond, der Speisekammergeruch, hier bei der Schwester, und die Mutter – das einzige heftige Gefühl an diesem Tag, und wie der Sommerflieder im Mondlicht steht« (S. 43). In Klagenfurt dürfte er auch im Landesmuseum Kärnten gewesen sein, denn er erwähnte dort hängende Landschaftsbilder von Marko Pernhart, »der nur Schlösser, Burgen und Gutshöfe gezeichnet hat« (S. 36), und notierte sich vermutlich im Museum gelesene Textstellen über die Geomorphologie Kärntens, vor allem zu Griffen, zum Burgfelsen von Griffen und zur Ladingerspitze/Saualpe (S. 36-37). Am 7. oder 8. August machte er in Griffen Station und besuchte dort das Grab seiner Mutter: »Der Friedhof am frühen Morgen, mit Bienen in den weißen Grabblumen, die dann schaukeln, und einer dicken brennenden Kerze in der Morgenfrühe« (S. 44) und »Der Friedhof, wo M. begraben ist, hat Lehmboden, so daß ein Grab oft erst nach 5 oder 10 Jahren einsinkt und der Totengräber stößt auf einen intakten Sarg, der allerdings zusammenfällt, wenn er nur mit der Schaufel dranstößt« (S. 48). Am 9. August brechen die Notizen plötzlich ab und setzen erst wieder nach der oben genannten fünftägigen Reise über die Kärntner Dörfer am 14. August mit der Zugreise nach Venedig fort. Aber bereits in den Aufzeichnungen dieses Notizbuchs findet man Stimmungsbilder seiner Kärntner Herkunftsgegend: »Wie Burschen und Mädchen jetzt am Sonntagabend nebeneinander im Auto sitzen, still, starr, sprachlos, gierig, ohne Neugier« (S. 46); »Die Vögel schossen am frühen Morgen um die unverputzten Arbeiterhäuser herum (Mauersegler), und ich dachte an etwas wie Reliquienschreine« (S. 48) oder »"Drei Tage im Siedlungshaus, und du hast wieder Ekzeme in den Ohren, und die alten Frostbeulen jucken."« (S. 48).
In Venedig blieb Handke drei Tage und übernachtete im Hotel Gritti (14.8., S. 49). Nach seiner Ankunft notierte er nachträgliche Eindrücke und Reflexionen der Reise: »Ich bemerkte in Kärnten, daß ich mich auf das Sloweniengebiet zubewegte mit einer Aufregung wie Wochen vorher auf das Erdbebengebiet (und Gemona; Zell/Pfarre)« (S. 50). Er bemerkte die Beliebigkeit der jeweiligen Aufenthaltsorte bzw. Reisestationen, die sich durch sein langes Unterwegssein eingestellt hatte: »Dieses Gefühl allmählich auf einer langen, wechselnden Reise: daß es so kommen kann durch die Umstände, oder auch ganz anders, daß man ganz wo anders sein könnte als vielleicht gewollt, und es wäre einem genauso recht, man wäre trotzdem sehr zufrieden, vielleicht auch, weil man nicht dort wäre, wohin man gewollt hätte« (S. 50) In Venedig besichtigte er die Kirche San Giorgio auf Guidecca mit Jacopo Tintorettos Kreuzabnahme und Auferstehung (15.8, S. 51ff.) und notierte: »Lust in dieser Kirche zu wohnen, zu gehen wie zu einer Wohnung, sich zu setzen, die Arme zu halten nach Belieben« (15.8., S. 52). Er besuchte eine Architekturausstellung und machte am 16. August einen Tagesausflug nach Torcello, wo er sich die Kunstwerke und Mosaike der Basilka ansah (S. 55-56). Man findet in den Aufzeichnungen dieser Tage immer wieder Betrachtungen des Canale Grande (S. 49), der Häuser gegenüber des Gritti (16.8., S. 57) oder über Österreich (S. 57). »Der kleine Moment der Seligkeit am Tag, jetzt wieder am Abend beim Anblick der kleinen weiß erleuchteten Salute-Haltestelle dem Gritti gegenüber, ein Moment der Verwachsenheit kurz mit der Welt, der Seligkeit, etwas Hosenträgerhaftes, blöd gesagt« (16.8., S. 56f.) oder »Die Leute im hellen Boot gedrängt und gedrückt wie beim Höllensturz – diese schmutzige, {plätschernde} Einöde« (S. 57).
Der Ende August entstandene Teil des Notizbuchs dokumentiert die Rückreise Handkes und seiner Tochter nach Paris mit einem längeren Zwischenstopp von 18. bis 22. August in Frankfurt bzw. Hotel Sonnhof in Königstein im Taunus (S. 59-67), wo er Siegfried Unseld und dessen Sohn Joachim traf und mit Unseld die letzten Korrekturen am Umschlag von Die linkshändige Frau vornahm, den der Verlag während Handkes Reise gestaltet hatte. (Handke / Unseld 2012, S. 310)
Am 23. August 1976 kam Handke nach seiner langen Reise wieder nach Paris zurück und begab sich am nächsten Tag, wie er notierte, »auf Wohnungssuche« (S. 70). Er hatte vor Beginn seiner Reise, am 21. Juni 1976, die Wohnung im 16. Pariser Arrondissement aufgelöst und suchte nun eine Wohnung am Stadtrand von Paris. Man findet etliche Notizen zu den Wohnungen oder den Maklern und Hausbesitzern, zum Beispiel: »Eine Selbstmörderwohnung, und ein Frauenboudoir, und eine Wohnung mit nichts als Schrankkammern voll Wäsche (und der schmutzige Toilettenhocker, in der Selbstmörderwohnung)« (S. 71); »Den ganzen Tag mit Raffzähnen zusammen (Maklern): endlich geht man ins Kino, wo man sich wieder kompetent fühlt« (S. 71) oder »Im Wohnraum saß eine Frau schluchzend, und ich ging wieder hinaus mit meinen lauten Schuhen, im Korridor« (S. 78). Während seiner Suche dürfte ihn Alfred Kolleritsch mit seiner Freundin (S. 71-72) besucht haben.
Die Reise durch Österreich diente der Recherche für sein geplantes Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« (S. I), aus dem später die Tetralogie Langsame Heimkehr wurde, wobei Handke aber bis auf zwei Einträge, die mit dem Namen Valentin Sorger gekennzeichnet sind (6.8., S. 34 und 8.8., S. 45), keine Zuordnungen von Notizen zu einer Figur oder einem Schauplatz vorgenommen hat. Vermutlich waren jene in der dritten Person (in Er-Form) formulierten Aufzeichnungen bereits für das Projekt gedacht. (z.B. 22.7., S. 4) Die während des Aufenthalts in Kärnten gemachten Notizen könnten später in das Stück Über die Dörfer oder in die Erzählung Die Wiederholung eingeflossen sein. Ein Zitat von Yasujirō Ozu (S. 76) könnte man als Hinweis auf Handkes Vorbereitungen der Filmdreharbeiten von Die linkshändige Frau deuten.
Einen Teil der Recherchenotizen für »Ins tiefe Österreich« hat Handke in sein 1982 erschienenes Journal Die Geschichte des Bleistifts aufgenommen, wobei er die Einträge aus diesem Notizblock mit denen des vorangehenden Notizbuchs vom 5. bis 21. Juli 1976 (Notizbuch 007) vermischte (vgl. DGB 5, 8-10). Einige der ab seiner Rückkehr nach Paris entstandenen Notizen findet man wiederum im Journal Das Gewicht der Welt (DGW 207-211).
Während seiner Reise las Handke seinen Lektürenotizen zufolge vor allem Goethes Italienische Reise, woraus er etliche Sätze exzerpierte (S. 7, 39). Er kommentierte Goethe und verglich sich auch mit ihm: »Sogar Goethe betet die Geschichte an« (S. 1); »bei Goethe: das bewundernde (auch doch leicht angewiderte) Gefühl, daß er immerzu aufmerksam sein konnte \(zumindest täuscht dieser wunderbare Schurke diese ungebrochene Fähigkeit vor)/« (S. 7) oder »Goethe, der von allem das Material weiß und davon einen "Vorsprung in der Kunst" hat (und ich mit meiner Schwierigkeit, selbst den Stuckschmuck in der Kollegienkirche zu erkennen)« (S. 31). Sonst findet man nur noch den Hinweis auf ein Interview von Walter Kempowski mit Helmut Kohl, das Handke vermutlich auf seinem Weg von Deutschland nach Frankreich im Spiegel gelesen hat.
Der Notizblock enthält acht kleinere Zeichnungen, wobei zwei davon vermutlich von seiner Tochter Amina stammen: die Zeichnung eines Notizblocks auf dem eine Zeichnung eines Notizblocks zu sehen ist, der die Zeichnung eines Notizblocks enthält (S. 17) sowie die Zeichnung eines Stierkopfbildes neben einem Fernseher, in dem sich das Stierkopfbild und der Fernseher mit Stierkopfbild und Fernseher spiegeln (S. 17). Handke skizzierte ein Fenster der Dornbirner Kirche (S. 3), Mondstrahlen am Nachthimmel (S. 42) und den durch einen Bogen angedeuteten Nabel von Figuren in den Mosaiken der Kirche von Torcello (S. 55); er fertigte im Hotel in Venedig eine kleine Zeichnung einer »in einem Ständer aufgestellte[n] Zeitung«, einer Kaffeetasse mit Löffel (S. 58) und eine Skizze, deren Motiv unklar ist (S. 55), an. Im hinteren Teil des Notizblocks befindet sich ein Rätsel oder Wortspiel (von Amina Handke) (S. 59). (kp)
Ins tiefe Österreich
Innsbruck (21.7., S. 1); Fahrt nach Feldkirch (22.7., S. 1); Innsbruck (22.7., S. 2); Dornbirner Kirche (22.7., S. 3); Standlhof [Hof von Wolfgang Schaffler; vermutlich nachträgliche Notiz] (22.7., S. 5); nach Zirl (22.7., S. 5); Hotel Tyrol (22.7., S. 6); "Rotes Haus" Dornbirn (22.7., S. 7); Bahnhof [Innsbruck] (23.7., S. 10); im Zug an der Grenze von Deutschland (23.7., S. 12); Arlbergtunnel [nachträgliche Notiz] (24.7., S. 15); S. [Salzburg] (28.7., S. 21); Gaisberg (28.7., S. 22); Müllner Kirche (30.7., S. 25); Getreidegasse (2.8., S. 29); Salzburg (3.8., S. 29); Kollegienkirche (3.8., S. 31); Von Salzburg nach Kärnten (6.8., S. 34); Kärnten (6.8., S. 34); Landesmuseum [Klagenfurt] (7.8., S. 36); Friedhof [in Griffen oder Klagenfurt] (8.8., S. 44); Friedhof, wo M. begraben ist [vermutlich St. Griffen] (9.8., S. 48); Venedig (14.8., S. 49); Gritti [Hotel] (14.8., S. 49); San Giorgio [Kirche in Venedig] (15.8., S. 51); Cipriani [Hotel/Restaurant in Venedig] (15.8., S. 53); Torcello (16.8., S. 54); Gritti (16.8., S. 56); Hotel Gritti (17.8., S. 57); Sonnenhof [Hotel in Königstein im Taunus] (18.8., S. 59); Deutschland (20.8., S. 65); P. [Paris] (23.8., S. 69); rue de Rennes [Paris] (28.8., S. 72)
1 Notizblock (Spiralbindung), 82 Seiten, I, fol. 1-82, I*
1 Kalenderblatt mit Notizen, eingelegt bei S. 56/57
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