Dieses am Umschlag rot-weiß-karierte, spiralgebundene Notizbuch versammelt Peter Handkes Notizen aus der Zeit von 16. April bis 8. Mai 1976. Es umfasst 96 Seiten, die mit einer Paginierung von 1-96 versehen sind. Der vordere Vorsatz des Notizbuchs enthält diverse Telefonnummern, Handkes damalige Wohnadresse im 16. Pariser Arrondissement, sowie die Angaben »Ambassade d'Autriche« und »Ambassade d'Allemagne« (S. I). Die Notizen beginnen auf der ersten Seite und enden auf Seite 91: die Seiten 92, 93 und 95 sind leer, auf Seite 94, wurden (von fremder Hand) nur die zwei Hotelnamen »Hotel Chateau Marmont« und »Hotel Tropicana« (S. 94) in Los Angeles geschrieben; Seite 96 beinhaltet verschiedene Namen mit Adressen, Telefonnummern und Daten (S. 96) und eine Liste von vierzehn französischen Vokabeln mit ihren deutschen Übersetzungen (S. 96-I*). Am hinteren Vorsatz notierte Handke allerdings noch eine Textergänzung zur Erzählung Die linkshändige Frau (S. I*). Die Notiz ist undatiert, dürfte aber der Entwurf für eine am 20. April 1976 ins Notizbuch eingetragene Beschreibung der Lehrerin Franziska sein (S. 11-13.), die Handke am 26. April seinem Verleger Siegfried Unseld als noch einzufügende Textergänzung schickte. (Handke / Unseld 2012, S. 303f.) Am vorderen Vorsatz des Notizbuchs sind zwischen diversen Telefonnummern seine damalige Wohnadresse im 16. Arrondissement in Paris, Boulevard de Montmorency, sowie die Österreichische und die Deutsche Botschaft ohne Adressangabe, nur als »Ambassade d'Autriche« und »Ambassade d'Allemagne« (S. I) vermerkt. Ein Großteil der Aufzeichnungen dieses Notizbuchs wurde von Handke später in das Journal Das Gewicht der Welt übernommen. (DGW 123-160)
Das Notizbuch wurde von Handke weder einem Schreibprojekt zugeordnet noch mit einem Titel versehen. Man findet darin bis auf einzelne Textergänzungen zur Erzählung Die linkshändige Frau (S. 2, 10, 11, 12, 13, 39, 58, 66, 70, I*) keine dezidiert projektbezogenen Einträge. Man findet dagegen immer wieder Anfänge, Plots, Schlusssequenzen zu möglichen Geschichten (S. 43, 45, 49, oder 56), beispielsweise: »Auf der Straße, im hellen Morgenschein, stand ein leeres Auto dessen Scheibenwischer sich bewegten (Auch so begänne eine Geschichte)« (S. 49) oder »Schlußsatz eines langen Romans: "Das will ich auch hoffen!"« (S. 45). Die meisten Notizen sind spontane Aufzeichnungen von Bewusstseinseindrücken oder auch von Träumen und Erinnerungen an die Kindheit oder die Familie in Kärnten (S. 4, 27, 57, 58, 88). Er beschreibt zum Beispiel die Fahrt des Großvaters mit dem Ochsengespann in den Wald (S. 57) oder seine Verwunderung über die Großeltern, die »nach all der schweren, in dauerndem Bücken und Gebücktsein bestehenden Arbeit, am Abend noch, sich aufrichtend, etwas weiter weg sehen konnten – und doch waren sie es, die mir immer von den Bergen am Horizont erzählten, und von den Bergen hinter diesen Bergen, im anderen Land (Hochobir und Koschutta, Petzen, Triglav)« (S. 58).
In etlichen Notizen reflektiert Handke über das Schreiben und Erzählen. Ein vermutlich am »30. {1.} 77« beim Durcharbeiten des Notizbuchs für das Journal geschriebener Nachtrag fasst die wesentlichen Inhalte der poetologischen Notizen zusammen: »Indem ich das Aufgeschriebene (vor langer Zeit) wiederlese, erle{digt} es meine jetzigen Stimmungen und gibt mir die Phantasie der Dauer, ein durch die Vernunft der Sprache bewirktes Humanitätsgefühl« (S. 91). Es geht Handke in diesen Reflexionen vor allem um das für seine Poetik immer wichtiger werdende Wiederfinden und Wiederholen von Bewusstseinseindrücken und Erlebnissen beim Schreiben oder Lesen, das die »Phantasie der Dauer« bewirkt. Das Wiederholen bezieht er dabei auf die eigenen Wahrnehmungen: »Wenn sich eine Empfindung wiederholt, und zwar WÖRTLICH, dann glaube ich ihr nachträglich« (S. 24), oder auf bereits in der Literatur (der Tradition) beschriebene Erfahrungen: »Als müßte man für sich die vorsichtig schönen Lebensformen der alten Literatur wiederfinden fürs Leben« (S. 65). Als Voraussetzungen für die Wiederholung nennt er etwa »Alleinsein, Allein-Werden«, um »die Bewegung der Kindheit wirder[zu]finden« (S. 4), oder ein Sich-Befreien von der Geschichte, um sie erleben zu können (S. 37). Zu diesen Notizen zum Thema Erzählen gehören auch Handkes Reflexionen über das Aufmerksamwerden für Dinge, das plötzliche Sehen-Können (S. 67) oder das »als Zeuge in Frage zu kommen« (S. 78). Wie der oben zitierte Notizbuchnachtrag andeutet, evoziert die Wiederholung ein »durch Sprache bewirktes Humanitätsgefühl«, das heißt eine mit dem Erzählen miteinhergehende Ethik – Erzählen sei »doch die feierlichste und würdigste, den Leuten ihre Würde gebende Art von Sprache (Die Menschlichkeit der Mitvergangenheit)« (S. 14).
Beim Durchblättern des Buchs fallen mehrere unterschiedlich große Zeichnungen Handkes auf wie zum Beispiel die Umrisse einer Heiligen Geist-Taube (S. 10), der »die Füße mit den drei Krallen auf den Bauch gemalt« [sind] (S. 9), eine wie von einem Bild abgepaust wirkende Zeichnung eines Mannes (bei der Hinrichtung?), mit einem Sack über dem Kopf und einem Seil um den Hals (S. 19), sowie eine wahrscheinlich aus der Erinnerung angefertigte Zeichnung einer kleinen, in einem Antiquitätengeschäft bemerkten Kommode, in der »alle Schubladen offen[stehen], und Schmetterlinge liegen in Längsreihen da aufgespießt, einer mit beiden Flügeln nach einer Seite, zwei Libellen auch, daneben Motten, Kohlweißlinge, Zitronenfalter« (S. 26). Hervorzuheben ist die Zeichnung eines Büffels oder Bisons (S. 59) in einer Reihe anderer, evt. mithilfe einer Schablone angefertigter Tierzeichnungen (S. 60-63), die zum Vorbild für den Umschlag der Erstausgabe von Die linkshändige Frau wurde.
Im Notizbuch findet man mit Namensinitialen versehene Einträge über Personen aus Handkes Umfeld: etwa über »A.« (seine Tochter Amina, sie wird oft auch nur »das Kind« genannt), über »N.« (vermutlich Handkes Freund Nicolas Born), »H. B.« (Hubert Burda) und »B.« (evt. Bazon Brock) sowie über »L.« (vermutlich Libgart Schwarz) und »D.« (die mit ihm befreundete Textilkünstlerin Domenika Kaesdorf, die Handke später in seiner Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire erwähnte). Von »D.« notierte er am 27. April eine Erzählung über ihren toten Großvater (S. 47, DGW 143) sowie ihre Idee, sich ein »Hexenkleid zu schneidern«, da sie »sich zu wohlwollend und milde vorgekommen« (S. 47) sei. Es handelt sich um eine Notiz, die nicht ins Journal übernommen wurde. Weitere Initialien sind: »G.«, »U. G.« und »Frau L.« (sie konnten nicht aufgelöst werden), häufig findet man Einträge zu »Herr G.« und »Frau G.« (Herr und Frau Greinert). Einmal erwähnte er mit ausgeschriebenem Namen »Th. Bernhard« (S. 35) und einmal seinen Übersetzer und Freund Georges-Arthur »Goldschmidt« (S. 61).
Der überwiegende Teil der Notizen enstand vermutlich in Paris. Im Notizbuch lässt sich nur eine Reise Handkes nachweisen. Er verbrachte Ende April ein Wochenende in »Cap d'Antibes« (S. 36) an der französischen Côtes d'Azur. Am 23. April 1976 findet man einen Eintrag, der die Abreise bezeugt: »Und nun sitze ich im Flugzeug und sehe das Krankenhaus, in dem ich noch vor vier Wochen die Flugzeuge durchs Fenster gesehen habe, unten auf der düsteren Erde, eine Schachtel voll zuckender Regenwürmer« (S. 36) Es handelt sich um das Krankenhaus, in dem Handke Ende März 1976 wegen Herzrhythmusstörungen behandelt worden war. In Cap d'Antibes fand die Jurybesprechung des Petrarca-Preises statt. Die anderen Jurymitglieder lassen sich hinter den Namensinitialen zu Einträgen vermuten: Hubert Burda (z. B. S. 39), eventuell Bazon Brock (z. B. S. 40) und Nicolas Born (z. B. S. 44, 45). Das Datum der Rückreise lässt sich anhand der Notizen nicht feststellen, sie könnte aber, einem Brief von Handke an Unseld zufolge, am 26. April erfolgt sein (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 303). Zu einer zehntägigen Reise nach Los Angeles und New York im Mai 1976, die allerdings erst im folgenden Notizbuch dokumentiert ist, sind nur die Namen von zwei kalifornischen Hotels vermerkt und eine Notiz vom 8. Mai, die seine Abreise bestätigt: »12h: Jetzt fahren wir zum Flughafen, um nach L. A. zu fliegen« (S. 91).
Im Notizbuch sind durch Kommentare oder notierte Zitate verschiedene Lektüren vermerkt: Dürrenmatts Das Versprechen (S. 10), Goethes Wahlverwandtschaften (S. 14-15), Briefe von Hesse (S. 27, 28f., 60, 63), die Tagebücher von Hebbel (S. 38-39) und Gedichte von Ernst Meister (S. 31), der im selben Jahr zusammen mit Sarah Kirsch den Petrarca-Preis erhielt. Außerdem dürfte Handke Filme von John Cassavetes gesehen haben, denn danach empfand er, wie er notierte, »eine Erschöpfung, nach der eine neue Menschlichkeit anfängt, wenn auch krebsend« (S. 21). (kp)
Paris [Wohnadresse, S. I]
1 rot-weiß-kariertes Notizbuch mit Spiralbindung, 96 Seiten, I, pag. 1-96, I*; von Handke auf vorderen Buchdeckel geklebter Papierstreifen mit Datierung »April-Mai 1976«; S. 92-93 unbeschriftet
Beilagen (Blätter vom DLA eingelegt mit Hinweisen auf eingelegte Briefe?)
Bücher/Autoren:
Filme/Regisseure/Schauspieler:
Musik/Musiker/Sänger:
Bildende Kunst/Künstler: