Aktualisierung 2000
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Erwerbung
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Aus dem Nachlaß des britischen Philosophen Rush Rhees (1905–1989), der vor allem als Mitherausgeber der Schriften Ludwig Wittgensteins
auch hierzulande Bekanntheit erlangte, konnte die »Forschungsstelle« (FDÖP) eine kleine Sammlung erwerben, die die bisher
weitgehend unbekannten Kontakte zwischen Rhees und der Brentano-Schule in der Person des Innsbrucker Philosophieprofessors
Alfred Kastil dokumentiert. Rhees dürfte sich vor allem in den frühen 30er Jahren längere Zeit in Innsbruck aufgehalten und
dabei mit Kastil die Philosophie Franz Brentanos ausführlich diskutiert haben. Die kleine Sammlung enthält neben philosophischen
Manuskripten von Rhees auch Briefe und vor allem Bearbeitungen, die Kastil als Brentano-Herausgeber von dessen Manuskripten
angefertigt und Rhees zur Verfügung gestellt hat.
Roderick M. Chisholm (1916–1999) war – laut Rudolf Haller – einer der herausragendsten Philosophen der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts. Aufbauend auf den philosophischen Überlegungen u. a. von Franz Brentano und Alexius Meinong leitete er in
den 50er Jahren eine Gegenbewegung gegen die sich auf Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« berufende ›ordinary language
philosophy‹ ein, die zu einer Neubelebung der Philosophie des Geistes und zur Entstehung einer analytischen Metaphysik führten.
1997 widerfuhr ihm durch die Aufnahme in Paul A. Schilpps »Library of Living Philosophers« noch eine ganz besondere Würdigung.
Zugleich war Chisholm auf spezielle Weise mit Graz und der FDÖP verbunden: Bereits 1956 kam er zum ersten Mal nach Graz, um
in der Philosophischen Gesellschaft einen Vortrag zu halten; danach kehrte er immer wieder zurück, unter anderem um den Nachlaß
Meinongs an der Grazer Universitätsbibliothek zu studieren und regelmäßig Seminare abzuhalten; 1972 wurde ihm das Ehrendoktorat
der Universität Graz verliehen. Mit der Übersiedlung der Materialien der ehemaligen Prager Brentano-Gesellschaft von der Brown
University (Chisholms Heimatuniversität) nach Graz schuf er den Grundstock der FDÖP-Sammlungen. Die Witwe des Philosophen
überließ der FDÖP nunmehr umfangreiches Material, das die andauernde Beschäftigung Chisholms mit der philosophischen Tradition
Brentanos und sein Engagement für sie dokumentiert. Es handelt sich vor allem um Materialien, die durch Chisholms Tätigkeit
als Herausgeber und Übersetzer der Werke Brentanos und Meinongs entstanden sind.
Ende des Jahres 2000 gelang es der FDÖP, Kontakt mit dem Sohn des Philosophen Walter Del-Negro (1898–1984) aufzunehmen. Del-Negro
studierte in Innsbruck Geschichte und Geographie, unter anderem bei dem Historiker Harold Steinacker, danach Philosophie bei
Alfred Kastil. 1920 dissertierte er mit einer Arbeit zum Thema »Raum und Zeit und der transzendentale Idealismus bei Kant,
Fries und dessen Nachfolgern« – man könnte ihn also im allerweitesten Sinn noch zur Brentano-Schule zählen, obwohl er 1921
nach Salzburg ging und eine zunehmende Distanz zu Kastil entwickelte, während er sich zugleich Hans Vaihingers »Philosophie
des Als-Ob« annäherte. In den 30er Jahren entwickelte Del-Negro eine gewisse Sympathie für den Nationalsozialismus, was unter
anderem 1942 zur Publikation seines Werkes »Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland« führte. 1945 wurde er von seiner
Lehrtätigkeit entbunden, schrieb aber bald wieder in renommierten philosophischen Zeitschriften (z. B. in der »Zeitschrift
für philosophische Forschung«). 1965 erlangte er wieder eine Dozentur, diesmal für Geologie. Es stellte sich heraus, daß noch
einige Manuskripte und Briefe des Philosophen vorhanden waren, ebenso wie ein Teil der Bibliothek und eine Sammlung von Sonderdrucken.
Diese Materialien wurden der FDÖP von seinem Sohn Karl-Ludwig Del-Negro als Geschenk überlassen.
Als weiterer und besonders wertvoller Zugang ist der Nachlaß von Robert Reininger (1869–1955) zu bewerten, der der FDÖP von
der Witwe des jüngst verstorbenen Wiener Philosophen Erich Heintel übergeben wurde. Der aus Linz gebürtige Reininger begann
1888 in Bonn mit dem Studium der Philosophie und der Naturwissenschaften, kehrte aber bald wieder nach Österreich zurück,
wo er 1893 an der Wiener Universität zum Doktor der Philosophie promovierte. Danach betrieb er weitere Studien in Jena, Leipzig,
Berlin und Halle. Der damals in Wien wirkende und weit über die Grenzen Österreichs hinaus bekannte Franz Brentano übte auf
die philosophische Ausbildung Reiningers jedoch keinen Einfluß aus; vielmehr war es der junge Dozent Adolf Stöhr, von dessen
Vorträgen Reininger wesentliche Anstöße empfing und mit dem er auch später freundschaftlich verbunden blieb. Das Vermögen
aus dem väterlichen Erbe ermöglichte es Reininger, sich als Privatgelehrter ganz der philosophischen Forschung zu widmen.
Aus der ausführlichen Beschäftigung mit dem Kantischen Werk ging sein erstes Buch »Kants Lehre vom inneren Sinn und seine
Theorie der Erfahrung« hervor, mit dem er sich auf Stöhrs Rat 1903 für den gesamten Bereich der Geschichte der Philosophie
an der Universität Wien habilitierte. Zehn Jahre später erlangte er die Stellung eines außerordentlichen Professors, mußte
aber im wesentlichen schon die Aufgaben eines Ordinarius versehen, da die Professoren Laurenz Müllner (1848–1911) und Friedrich
Jodl (1849–1914) in kurzer Folge gestorben waren. Offiziell wurde ihm 1922 der Lehrstuhl für Philosophie übertragen. Obwohl
1939 emeritiert, hielt er sein letztes Kolleg kriegsbedingt noch im Wintersemester 1939/40 ab. Noch zu Reiningers Lebzeiten
konstituierte sich aus der großen Hörerschaft der sogenannte »Reiningerkreis«, dessen Mitglieder sich bis 1977 zu regelmäßigen
Vorträgen und Diskussionen in Wien zusammenfanden.
Zu Reiningers Nachlaß läßt sich folgender Überblick geben: (1) Werkmanuskripte: Jugendschriften, Abhandlungen und Aufsätze
(zu Themen der Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik, wie auch zu Kant, Nietzsche, Schopenhauer usw.), Entwürfe, Aphorismen
und zahlreiche Notizen, zum Teil in Form von philosophischen Tagebüchern; (2) Vorlesungen und Vorträge: Geschichte der abendländischen
Philosophie von den Griechen bis zum Positivismus, indische Philosophie, Einführung in die Philosophie; (3) Lebensdokumente:
persönliche Urkunden, autobiographische Aufzeichnungen, Familienbriefe und -dokumente, Foto-Sammlungen; (4) Universitäts-
und Akademieangelegenheiten: Gutachten, Besetzungsangelegenheiten, Kommissionsberichte; (5) Briefwechsel (noch weitgehend
ungeordnet): Korrespondenzen mit Karl Bühler, Elisabeth Förster-Nietzsche, Arnold Gehlen, Heinrich Gomperz, Wilhelm Jerusalem,
Friedrich Jodl, Erwin Guido Kolbenheyer, Fritz Mauthner, Richard Meister, Karl Roretz, Moritz Schlick, Adolf Stöhr, Hans Vaihinger,
Richard Wahle usw.; (6) Kryptonachlässe: kleinere Bestände von Nachlässen fremder Provenienz, wie z. B. von Franz Wolfgang
Garbeis, Heinrich und Theodor Gomperz; (7) Publikationen: Handexemplare von Reiningers Werken, Sekundärliteratur.
Veröffentlichungen
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Unter den Publikationen der FDÖP sei ganz besonders auf den umfangreichen Sammelband »Bausteine zu einer Geschichte der Philosophie
an der Universität Graz« (Hg. von Thomas Binder, Reinhard Fabian, Ulf Höfer und Jutta Valent. Amsterdam / Atlanta: Rodopi
2001 [= Studien zur Österreichischen Philosophie 33]) hingewiesen. Die Beiträge dieses Bandes versuchen erstmals, die gesamte
Geschichte der Philosophie an der Universität Graz beginnend mit der Gründung der Jesuitenuniversität 1585 bis in die unmittelbare
Gegenwart zu explorieren und zu rekonstruieren. Dabei wird nicht nur die jesuitische Philosophie einer genaueren Betrachtung
unterzogen, sondern neben einer breiten Darstellung der unterschiedlichen Aspekte und Nachwirkungen von Meinongs »Grazer Schule«
werden auch weniger bekannte Philosophen wie Joseph Klemens Kreibig, Franz Kröner, Hans Pichler oder Konstantin Radakovic
berücksichtigt.
Projekte
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Zwei Projekte, an denen die FDÖP teilnimmt bzw. sie durchführt, verdienen besondere Erwähnung.
Mit der Unterstützung des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank und der Kulturabteilung des Landes Niederösterreich
ist es der FDÖP möglich geworden, den Nachlaß des Innsbrucker Philosophieprofessors Alfred Kastil (1874–1950), der sich im
ehemaligen Sommerhaus Franz Brentanos in Schönbühel an der Donau befindet, zu erfassen und zu einem großen Teil zu digitalisieren
und damit auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieser Nachlaß enthält nicht nur zahlreiche Manuskripte, Briefe und
Lebensdokumente von Kastil selbst, sondern darüber hinaus bedeutende Sammlungen zu Franz Brentano, seinem philosophischen
Lehrer Anton Marty, zu Oskar Kraus und zu Rush Rhees. Neben ca. 20.000 Manuskriptseiten befinden sich in Schönbühel auch eine
große Anzahl von zum Teil seltenen Sonderdrucken und eine umfangreiche philosophische Bibliothek.
Nachdem die FDÖP schon an dem Projekt MALVINE (Manuscripts and Letters via Integrated Networks in Europe) teilgenommen hat,
das die Europäische Kommission im Vierten Rahmenprogramm genehmigt hatte, ist sie auch im Nachfolgeprojekt LEAF (Linking and
Exploring Authority Files) vertreten. Dieses Projekt, das die in MALVINE für moderne Manuskripte und Briefe entwickelte WWW-Suchmaschine
mit der Problematik übernationaler Normdaten verknüpft, wird im Fünften Rahmenprogramm IST gefördert. Die Aufgabe der FDÖP
innerhalb dieses Projektes wird darin bestehen, nachzuweisen, daß auch kleinere Archive von der Arbeit mit Normdaten profitieren
und durch ihr Spezialistentum auch zu deren Qualität beitragen können.
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