1920 | Die Hofbibliothek wird Nationalbibliothek

Durch die Kriegswirren des Ersten Weltkrieges wurden die Arbeiten an der Hofbibliothek empfindlich erschwert, die Lesesäle mussten zeitweise geschlossen werden, Ankäufe konnten nicht mehr getätigt werden, Personal fehlte, da es zum Militärdienst einberufen worden war. Trotzdem konnte Direktor Karabacek wichtige bauliche und strukturelle Maßnahmen umsetzen, neue Magazine schaffen und mitten im Krieg, im April 1916, sogar noch eine große Prunksaal-Ausstellung zum Thema Buchkunst eröffnen.

1918 ging mit dem alten Österreich auch ein Teil europäischer Geschichte zu Ende, und während man auf den Pariser Friedenskonferenzen versuchte, die politischen Grundlagen für ein "Neues Europa" zu schaffen, ging es in Wien um die Neuordnung der staatlichen Sammlungen und im höheren Sinne und jenseits aller rechtlichen Fragen, die einer Klärung bedurften, um die demokratische Aneignung des kulturellen Erbes. Die Hofbibliothek führte seit 1920 den Namen "Nationalbibliothek", dies sollte ihrem "Wesen" und "Charakter" am besten entsprechen, wobei "andererseits durch diesen Namen jeder staatsrechtliche Hinweis vermieden und lediglich die Zugehörigkeit zur Allgemeinheit ausgedrückt" werden sollte. Aber was im Großen, in der politischen Geschichte, nicht gelang, wiederholte sich im Kleinen. Die Diskussion um die Namensgebung zeigt die politische Brisanz des Themas. Der damalige Direktor der Bibliothek, Josef Donabaum, begründete in einer offiziellen Eingabe die Entscheidung der Direktion für den Namen "Nationalbibliothek": Es hätte zwar Einwände seitens einiger Beamter der Bibliothek gegeben, die darauf hingewiesen hätten, "daß eine 'österreichische Nation' nicht existiere, ja daß dieser Name sogar den künftigen Anschluß an Deutschland hemmen könnte". Solche Befürchtungen seien aber zu weit gehend. Denn: "Daß keine besondere österreichische Nation existiert, darf ja wohl als weltbekannt angenommen werden." Aus dieser Begründung wird dann die neue Funktion der Bibliothek "als Sammelpunkt für die nationale Literatur jener deutschen Stämme, die jetzt unter fremdnationale Herrschaft gekommen sind", abgeleitet. Dies sei "dann 'nationale' Arbeit im eigentlichen Sinne des Wortes".

Nach dem Ende der Monarchie suchte man die nationale Identität nicht in Österreich, sondern in Deutschland. Es ist bezeichnend, dass man in der Sammlungspolitik mit den mittel- und osteuropäischen Ländern sich in der Zwischenkriegszeit auf die deutschen Publikationen konzentrieren wollte und damit im Grunde vollkommen gegen die Tradition und die Bestände der Nationalbibliothek des Kaisertums agierte.

Im Laufe ihrer Geschichte wirkten Gelehrte aus den verschiedensten europäischen Ländern an der Bibliothek: Holländer, Italiener, Deutsche, Slowenen, Tschechen, Polen, Kroaten, Österreicher. Die Geschichte der Bibliothek und ihrer Bestände ist ein Spiegelbild der geschichtlichen Vielfalt und des multinationalen Erbes Österreichs. Aber gerade die Anerkennung der Pluralität als identitätsstiftendem Merkmal ist eine schwierige Kulturarbeit und ein langer Prozess der Bewusstseinsbildung.

Josef Donabaum

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last update 03.10.2014