Die Zeit und die Räume

Notizbuch, 180 Seiten, 24.04.1978 bis 26.08.1978

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Beschreibung

Peter Handkes Notizbuch vom 24. April bis 26. August 1978 befindet sich im Original im Deutschen Literaturarchiv Marbach  und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Es ist ein spiralgebundenes Heft im DIN-A6 Format (10,5 x 16,8 cm) mit 180 karierten Seiten, die von Handke mit verschiedenen Stiften (Fineliner, Bleistift, Kugelschreiber) in mehreren Farben beschrieben und paginiert wurden. Die Paginierung ist allerdings auf den ersten Seiten nicht mehr lesbar. Der gelbe brüchig gewordene Umschlag wurde von Handke mit Tixostreifen, einem Pflaster stabilisiert. Am Umschlag klebt weiters eine nur zweieinhalb mal drei Zentimeter große Kopie eines Portraits (wen es darstellt und von welchem Künstler es stammt, ist nicht mehr erkennbar) und ein von seiner Tochter Amina mit Zeichnungen gestaltetes Klebeetikett. Im Originalnotizbuch sind mehrere getrocknete Pflanzen eingelegt, weiters ein Blatt mit Notizen zum Roman Langsamen Heimkehr (zwischen S. 126 u. 127), ein undatierter Zeitungsausschnitt mit der Abbildung eines kleinen Teiches und der Beschriftung »Il laghetto dove si è uccisco Sebastiano Demuro« (zwischen Seite 66 u. 67). Der Papierstreifen mit der allgemeinen Datierung der Notizen, den Handke für gewöhnlich zur Orientierung auf den Umschlag seine Notizbücher klebte, ist hier dem Buch beigelegt. Das Notizbuch ist sonst mit nur wenigen Datierungen versehen, weshalb eine genaue zeitliche Zuordnung der Einträge und Reisestationen nur schwer möglich ist.

Beschriftungen am Vorsatz

Der vordere Vorsatz wurde von Handke mit vielen Notizen versehen. Zum Einen mit verschiedenen Titeln, Kapitelüberschriften oder Notizen zu seinem Roman Langsame Heimkehr (1979): »"Ohne Schutz des Zeitalters"«, »"D. Versäumnis"«, »Das Augenmaß«, »"Die Abschiedsbilder"«, »"Die Zeit und die Räume"«, »V. Sorger, "Geologe"«. Ob die Einträge wie »Der stolpernde Baum«, »Tiefe Muster« und »Tiefe Ornamente« auch mit dem Schreibprojekt zu tun haben, oder ob »Der stolpernde Baum« mit der Beobachtung eines Baumes (S. 46) in Verbindung steht oder mit dem Film L'albero degli zoccoli (Der Holzschuhbaum) von Ermanno Olmi, der bei den Filmfestspielen in Cannes i1978 mit der Goldenen Palme prämiert wurde, ist nicht eindeutig zu sagen. Zusätzlich zum Wohnort Clamart und Salzburg (mit der Adresse seines Verlegers Wolfgang Schaffler) sind am Vorsatz die Orte Cannes, Cap d’ Antibes, Rom, Siena, Rhodos, Kärnten, Slowenien, Karst, Triest, Venedig, Den Haag, Ischia aufgelistet, wobei nicht alle Orte in den Notizen als Reisestationen nachzuweisen sind.

In den Notizen dokumentierte Reisen

In Cannes besuchte Peter Handke die Filmfestspiele (von 17. bis 29. Mai), wo sein Film Die linkshändige Frau als offizieller Beitrag der Bundesrepublik Deutschland gezeigt wurde. In Siena fand die diesjährige Petrarca-Preis-Verleihung statt. Der Preis ging an Alfred Kolleritsch, für den Handke die Preisrede hielt; sie wurde später unter dem Titel Der tiefe Atem im Sammelband Das Ende des Flanierens abgedruckt (DEF 137-144). Von Anfang bis Ende August machte Handke eine längere Reise, die ihn in einer ersten Etappe von Kärnten (Klagenfurt, Griffen, Leutschach, St. Pongratzen, Eibiswald, Velden, Maria Elend, Rosenbach) nach Slowenien, in den Karst (Bohinska Bistrica, Tolmin, Idija, Postojna, Dutovlje, Pliskovica, Komen, Nova Gorica, Divača, Sežana, Škocjan) und nach Italien (Triest, Miramar, Duino, Gemona, Udine, Gorizia, Venedig/Guidecca) führte, wobei er längere Strecken zu Fuß zurücklegte. Die Reise führte am 31. August wieder zurück nach Österreich (nach Kärnten und Salzburg) – diese Wegstationen sind im Folgenotizbuch dokumentiert.

Notizen und Zeichnungen zu »Ins tiefe Österreich«

Das Notizbuch ist enthält schriftliche und gezeichnete Notizen darunter etliche großflächige Zeichnungen, die im Zusammenhang mit Handkes Recherchen für sein Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« stehen. Darin sollte der Held aus dem hohen Norden Amerikas »auf vielfältigen Wegen, durch verschiedene Staatsformen und auch religiöse Formen« (Handke / Gamper 1987, S. 35 ) nach Europa und auch Osteuropa auf seinen Geburtsort in Österreich zugehen. Der Plan wurde in seiner ursprünglichen Form nicht realisiert; die »Heimkehr« wurde auf die Werke Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte Victoire (1980), Kindergeschichte (1981) und Über die Dörfer (1981) aufgeteilt, die Handke nachträglich zur Tetralogie zusammenschloss, und fünf Jahre später in der Erzählung Die Wiederholung (1986) fortgesetzt.

Dieses Notizbuch enthält wesentliche Aufzeichnungen für die Wiederholung (auch wenn sie von Handke noch dem alten Romanprojekt mit dem Helden Sorger zugeordnet sind) zu Orten in Kärnten, Slowenien und zum Karst, die man in der Erzählung in Filip Kobals Reise wiederfinden kann. Handke reiste die später in der Erzählung beschriebene (wiederholte) Strecke. Auffällig sind sicherlich die vielen Zeichnungen in diesem Notizbuch, denen ein dem Schreiben vergleichbarer Stellenwert zukommt. Sie sind wie auch die schriftlichen Notizen wichtige Vorarbeiten für das Erzählen, etliche der Motive wie etwa die Schuhe einer Kellnerin mit der leuchtendweißen Ferse wurden von Handke zuerst gezeichnet (S. 149) und dann in der Erzählung beschrieben. (DW 19 )

Gerade an der Bedeutung der Zeichnungen wird der Zusammenhang der Werke Langsame Heimkehr und Wiederholung im Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« deutlich. Eine Kopie seiner Zeichnung vom Tisch im Warteraum in Dutovlje (S. 139) im slowenischen Karst schickte Handke mit dem Typoskript der ersten Textfassung von Langsame Heimkehr in einem Brief an Siegfried Unseld – Jahre später wurde die Zeichnung von Handke schließlich an der passenden Stelle am Ende der Erzählung Die Wiederholung (1986), die den eigentlichen Abschluss des Schreibprojekts bildet, abgedruckt. Weitere fünf Jahre später kommt dem Tisch (und auch den anderen Zeichnungen dieses Notizbuchs) noch einmal eine Bedeutung zu: in Handkes Essay Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991) anlässlich der Unabhängigkeitserklärung von Slowenien wurde er erneut abgedruckt. (kp)

Werkbezüge

Langsame Heimkehr

Die Zeichnung des Tisches von Dutovlje ist auch in den Typoskripten für Langsame Heimkehr und Die Wiederholung verwendet. 

Die Wiederholung

Das Notizbuch von 1978 enthält Notizen und Zeichnungen die zentrale Motive und Beobachtungen für seine 1985 geschriebene Erzählung Die Wiederholung beinhalten.

In der Erzählung Die Wiederholung erscheint Filip Kobal etwa die Kellnerin der Bahnhofsgaststätte in Jesenice als seine Mutter: »[...] aus den hohen, hinten offenen Kellnerinnenschuhen leuchteten ihre runden weißen Fersen [...]« (DW 19) – die mit dieser Stelle korrespondierende Zeichnung der Kellnerschuhe findet man im Notizbuch, als Notiz zu einer Beobachtung in Nova Gorica. Handke notiert zur Zeichnung: »In diesen riesigen Gasträumen die aus den Gesundheitsschuhen leuchtenden Fersen der Kellnerinnen“. Ein Pfeil zeigt auf die Ferse: »von hinten Weiß!«; ein weiterer Pfeil auf die Zehen: »(Weiß!?)« (S. 149). Solche Verbindungen findet man viele.

Eine Zeichnung, der Tisches aus dem Warteraum von Dutovlje wurde von Handke auf der letzten Seite der Erzählung abgebildet. (kp)

Abschied des Träumers vom Neunten Land

Diese Notizbuch enthält mehrere ganzseitige Zeichnungen, die von Handke für Abschied des Träumers vom neunten Land verwendet wurden, darunter die Zeichnung des Tisches von Dutovlje. (kp)

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

("Ohne Schutz des Zeitalters"); ("D. Versäumnis"); (Das Augenmaß); "Die Abschiedsbilder"; "Die Zeit und die Räume"; V. Sorger "Geologe"; (Der stolpernde Baum); Tiefe MusterTiefe Ornamente

Entstehungsdatum (laut Vorlage):  24. April 1978 – 26. August 1978 (Bl. I); 24 April 1978 - 16. August 1978 (Papierstreifen am Buchumschlag, im Original als Beilage)
Datum normiert:  24.04.1978 bis 26.08.1978
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

Clamart; Salzburg (Adresse des Verlegers Wolfgang Schaffler); Clamart, Cannes, Cap d’Antibes, Rom, Siena, Rhodos, Kärnten, Slowenien, Karst, Triest, Venedig, Ischia

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Klagenfurt, Griffen, Leutschach, St. Pongratzen, Eibiswald, Velden, Maria Elend, Rosenbach Bohinska Bistrica, Tolmin, Idija, Postojna, Dutovlje, Pliskovica, Komen, Nova Gorica, Divača, Sežana, Škocjan, Triest, Miramar, Duino, Gemona, Udine, Gorizia, Venedig/Guidecca [nicht vollständig ermittelt]

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

1 gelbes Notizbuch, kariert, spiralgebunden, 180 Seiten, I, pag. 1-180, I* (die Paginierung ist auf den ersten Seiten nicht mehr lesbar)

Format:  10,5 x 16,8 cm
Schreibstoff:  Fineliner (blau, schwarz, rot, grün), Bleistift, Kugelschreiber (rot, schwarz, blau, grün)
Weitere Beilagen: 

Mehrere getrocknete Pflanzen (zw. S. 26/27 und S. 66/67) in DLA Marbach aus konservatorischen Gründen separat abgelegt; 1 loses Blatt (Papierstreifen mit Datierung);  1 Beilage, 1 Blatt mit Notizen zur Langsamen Heimkehr, zw. S. 126 u. 127, o. D.; 1 Zeitungsausschnitt (eine Abbildung eines kleinen Teiches mit der Unterschrift »Il laghetto dove si è uccisco Sebastiano Demuro«), zw. Seite 66 u. 67, o. D.

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

Mit mehreren ganzseitigen Zeichnungen; Zeichnungen auch verwendet für Abschied des Träumers vom neunten Land

  • Skizze zweier Bäume (S. 46)
  • Zeichnung eines Zeitungshalters (S. 89)
  • Skizze des »Hotelfrühstückblechs« und des Hotelschlüssels (Hotel Musil in Klagenfurt) (S. 91)
  • Skizze einer Frau am Rad mit Pfeil auf »die Linie eines jungen Körpers« (S. 92)
  • Skizze von Freskenfiguren (S. 93)
  • Details aus einem »"Griffen"-Stich im "Musil"« (S. 94)
  • Umrisszeichnung vom »Felsen von G. [Griffen]« (S. 95)
  • Zeichnung einer Maggi-Flasche und eines Gösser-Bierdeckels (S. 97)
  • Zeichnung eines Zuckerstreuers (S. 99)
  • Umrisszeichnung eines Hirschgeweihs und eines Fliegenfängers (S. 101)
  • große Zeichnung einer Kegelbahn vom »5.8.78« (S. 102)
  • Zeichnung einer Frau mit Kopftuch während der Messe (S. 104)
  • große Zeichnung des Terrassentisches im »Schloßhotel Velden vom 8. August 78«
  • Zeichnung eines gedeckten Tisches auf der Terrasse mit Blick auf den See (S. 109)
  • Skizze eines »Erdäpfelkochkessels« (S. 110)
  • Zeichnung eines Details vom Flügelaltar in Maria Elend (S. 111)
  • Schriftzeichen in der Kirche von Maria Elend (S. 112)
  • Skizze eines Wappens (S. 114)
  • Zeichnung Haferähre (S. 116)
  • Umrisse von Knochen (S. 119)
  • Skizze eines Radständers mit Blitzableiter vor dem Gasthof Crna Prst in Bohinska Bistrica (S. 123)
  • große Zeichnung einer Taube (S. 126)
  • »Fußabstreifer« (S. 127)
  • Zeichnung einer »Buckelwiese« in der Wochein mit Holzhütte und Blick auf den Triglav (S. 128)
  • »Brotkorb, (Tolmein) "Hotel Krn"« (S. 130)
  • Zeichnung einer Kaffeetasse mit »Milchfetzen wie von viel Wasser durchzogene Inseln« in Tolmein (S. 132)
  • Zeichnung der Jukebox im »"Hotel Nanos" Idija (13.8.)« (S. 133)
  • Zeichnung der »geologische Formationen« in der Kaffeetasse mit »Türkischem Kaffee« in »Hotel Kras, Postojna 13.8« (S. 135)
  • große Zeichnung eines »"Steinbruch im Karst" (14.8)« (S. 136)
  • Zeichnung vom »Tisch im Warteraum von Dutovlje«  (S. 139)
  • Zeichnung einer Hornisse am Altartuch in einer Kirche im Karst (S. 145)
  • Skizze der Kellnerinnenschuhe mit weiß leuchtender freier Ferse in Nova Gorica (S. 149)
  • Zeichnung eines Wiesen- oder Wegausschnitts (S. 155)
  • Zeichnung einer Seitenkapelle mit Altar (S. 165)
  • große Zeichnung eines vom Erdbeben zerstörten Stadteils von »Gemona, 20. August 1978 (Friuli) [/] (3-6h)« (S. 167)
  • große Zeichnung »bei Dutovlje/ ob Sežana [/] In der Doline (3h)« (S. 171)
Bemerkungen: 

In der Kopie in der ÖNB/LIT: 1 Beilageblatt in Kopie auf fol. 2; Faksimile in: Cassagnau, Laurent / Le Rider, Jacques / Tunner, Erika (Hg.): Partir – Revenir. En route avec Peter Handke. (= Publications de l’Institut d’Allemand d’Asnières 14) Asnières: P.I.A. 1992, S. 5-7. (Abgedruckte Seiten 126-127; 132-133)