|  [3/ S. 93:]  Für welche Objektfelder, d. h. Gegenstandsbereiche (literarhistorische Perioden usw.) und für welche Theorien sowie deren
                           untergeordnete methodischen Ansätze innerhalb der Literaturwissenschaft (im engeren Sinn der Germanistik) halten Sie Literaturarchive
                           für relevant? Da kann ein Literaturwissenschaftler nur antworten: Für alle Objektfelder und für alle Theorien / Methoden. Und wenn man ihn
                           fragt, was ein Literaturarchiv sammeln soll, wird die Antwort unweigerlich lauten: »Alles, was irgendwie mit Literatur zu
                           tun hat! Nichts ist unwichtig!«
                         Damit fangen die Probleme natürlich erst an. Dazu ein paar provisorische Stichworte: Das ideale Literaturarchiv sammelt alle Arten von Dokumenten, die ›Literatur‹ repräsentieren oder das Phänomen ›Literatur‹
                           in irgendeiner Weise umschreiben - und zwar ebenso nach dem Verständnis der Gegenwartskultur wie nach dem Verständnis der
                           historischen Epoche, der die Dokumente ursprünglich angehören. Dazu kommt eine zweite, zunehmend wichtige Funktion: Das Literaturarchiv
                           muß einer ›gebildeten Öffentlichkeit‹ immer von neuem zeigen, was ›Literatur‹ ist und was sie leistet (mittels Ausstellungen
                           und anderer Öffentlichkeitsarbeit). Natürlich kann ein real existierendes Literaturarchiv diese Ansprüche bestenfalls ansatzweise
                           erfüllen.
                         Das gilt vor allem seit dem Zerfall des bildungsbürgerlichen ›Bildungs‹-Paradigmas, das eine klare Vorstellung von ›Literatur‹
                           einschloß. Dieses Grundproblem teilt das Literaturarchiv mit der Literaturwissenschaft: Deren Gegenstandsbereich hat sich
                           ebenfalls extrem ausgeweitet, und parallel dazu haben sich die dazugehörigen Blickwinkel und Methoden extrem vermehrt.
                          [3/ S. 94:]  Aus diesem Grund gerät ein Überblick über wichtige literaturwissenschaftliche Fragestellungen und die dazugehörigen Literaturarchiv-Sammelbereiche
                           recht unübersichtlich. Jede der Varianten rückt eine besondere Vorstellung von ›Literatur‹ in den Vordergrund. Ich versuche
                           das einmal mehr oder weniger systematisch unter sechs Gesichtspunkten aufzufächern:
 
                           Erstens: Wenn ›Literatur‹ als ›literarischer Text‹ verstanden wird (zwangsläufig der Ausgangspunkt ›jeder‹ Beschäftigung mit
                              ›Literatur‹, was auch immer man sonst darunter verstehen mag), ist zwischen einem ›ästhetisch‹ und einem ›kulturwissenschaftlich
                              orientierten‹ Ansatz der Literaturwissenschaft zu unterscheiden: 
                           - Eine ästhetisch orientierte Literaturwissenschaft geht aus von einem nachträglich als ›zeitlos‹ verstandenen Kanon der Höhenkammliteratur
                              und sucht im Literaturarchiv insbesondere schlecht zugängliche Texte und Textausgaben kanonisierter Autoren. (Über den Inhalt
                              des weitgefaßten Kanons herrscht übrigens immer noch ein erstaunlich breiter Konsens - Probleme treten nur in der Lehre auf,
                              wenn daraus ein ›kleiner Kanon‹ destilliert werden muß.)
                           - Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft geht aus von einem weiten Literaturbegriff mit unscharfer
                              Abgrenzung zu anderen kulturellen Texten. Sie sucht im Literaturarchiv zum einen vor allem auch literarische Texte ›unterhalb
                              der Höhenkammliteratur‹ - also etwa solche, die man sehr holzschnitthaft einer ›mittleren‹ bzw. einer ›trivialen Literatur‹
                              zuordnen könnte. Zum anderen gilt ihr Interesse Texten, die aus nicht-ästhetischen Gründen aus dem engen Literaturbegriff
                              ausgeschlossen sind und die man ›semiliterarisch‹ nennen könnte, z. B. Essays, Tagebücher, Reden. Dazu kommen neue nicht-schriftliche
                              Formen, die (wie im Prinzip auch das Theaterstück) literarische Texte voraussetzen: das Drehbuch, das Rundfunkfeature usw.
                            
                           Zweitens: Wenn man die Dimensionen der ›Literatur‹ ins Auge faßt, die ›an die Veröffentlichungsform des Textes‹ gebunden sind
                              - d. h. zum einen die Einbettung des ›eigentlichen literarischen Textes‹ in ›Paratexte‹, zum anderen seine ›materielle Gestalt‹:
                           - Der literarische Text ist mit ›Paratexten‹ verknüpft, d. h. mit Vorworten und Nachworten aller Art, mit Fußnoten, mit Titeln
                              und Untertiteln, mit Klappen- und Umschlagtexten, mit Genre-Bezeichnungen (z.B. Roman), mit dem Autornamen, mit Verlags- und
                              Ortsangabe usw. Deshalb ist streng genommen jede verschiedene Ausgabe des »Werther« (auch der letzte unautorisierte Raubdruck)
                              ein eigenständiger Text und also sammelnswert. [3/ S. 95:] - Der literarische Text ist an einen ›materiellen Träger‹ gebunden, der selbst wieder unweigerlich zusätzliche, nicht-sprachliche
                              ›Botschaften‹ transportiert. Wichtig für eine im umfassenden Sinn semiotisch orientierte Literaturwissenschaft sind also auch
                              die Medien der ›Literatur‹ auf allen Ebenen: das Papier, die Druckfarbe, die Typographie, die Schreib- und Drucktechnik, das
                              gesamte ›Buch‹ (oder Zeitschrift, Flugschrift, Manuskript, Hörbuch ...) usw.
                            Drittens: Wenn man sich für ›Literatur als Schreibprozeß‹ interessiert: Seit ca. 1950 gilt der text in progress als gleichwertig mit dem abgeschlossenen ›Werk‹ (oft sogar als höherwertig). Seitdem
                           müßte das ideale Literaturarchiv, um den ›ganzen literarischen Text‹ bzw. ›das Ganze der Literatur‹ zu dokumentieren, streng
                           genommen jede Stufe eines Manuskripts, jeden Zettelkasten, jedes Notizblatt archivieren - und dazu jedes Dokument, das indirekt
                           über den Schreibprozeß Auskunft gibt.
                         Viertens: Wenn man sich für ›Literatur als Kommunikationsprozeß‹ interessiert, sind alle Dokumente relevant, die Aufschluß
                           geben über die Produktion und Rezeption der ›literarischen Botschaft‹ - zum einen über ›die sozialpsychologischen Bedingungen‹
                           (auf seiten des Autors wie der Leser), zum anderen über ›die diskursiven Bedingungen‹, die zu bestimmten literarischen Codierungen
                           und Decodierungen führen.
                         Fünftens: Wenn man sich für den ›Diskurs über Literatur‹ interessiert, geht es um alle Dokumente. 
                           Sechtens: Wenn man sich für ›Literatur als soziale Praxis‹ interessiert, geht es um alle Dokumente, die Aufschluß geben über- das ›literarische Leben‹: d. h. über Verhalten und Handeln, Habitusformen und über das soziale Geflecht ›Literatur‹, in
                              das alle Beteiligten eingebunden sind;
                           - ›die ökonomische Seite der Literatur‹ (das Verlagswesen, die Marktbedingungen);- ›die Literaturpolitik‹ (Subventionen, Formen der Zensur usw.). Einerseits führt diese enorme Ausweitung des Literaturbegriffs zweifellos zu einer Präzisierung und Erweiterung nicht nur
                           der Erkenntnisse über ›Literatur‹, sondern vor allem auch der Erkenntnisse über die jeweilige Kultur. Denn ›Literatur‹ kann
                           als ein Versuchslabor verstanden werden, in dem eine (Schrift-)Kultur darüber reflektiert, wie sie aus Sprache ›Welt‹ und
                           ›Subjektivität‹ tatsächlich konstruiert und möglicherweise konstruieren könnte.
                         Andererseits entsteht so in der Praxis aber ein fundamentales Problem, das solche Erkenntnisse eher behindert und das wiederum
                           das Literaturarchiv mit der Literaturwissenschaft gemeinsam hat: Wenn man das Ganze der ›Literatur‹ möglichst adäquat dokumentieren
                           und  [3/ S. 96:]  verstehen will, aber die Ressourcen (Geld und Zeit) sehr begrenzt sind - was ist am wichtigsten? Welcher Objektbereich, welche
                           Fragestellung, welche Perspektive? Was soll bevorzugt gesammelt, und was soll bevorzugt untersucht werden? Nötig wäre eine Verständigung darüber, nach welchen Prinzipien ›das Ganze der Literatur‹ wenigstens als möglichst repräsentativer
                           Ausschnitt dokumentiert werden könnte. Dazu bräuchte es eine offene und öffentliche Diskussion, was ›Literatur‹ unter den
                           Bedingungen der Informationsgesellschaft ist und was sie leistet. Diese Diskussion, die mehr wäre als die Summe unsystematischer,
                           im Leeren verhallender Wortmeldungen, hat die Literaturwissenschaft bis jetzt nicht zustande gebracht.
                         
                           Ihre Auffächerung stellt eine in der Tat hohe Leistungsanforderung an die Literaturarchive dar, wobei man - aus unserer Sicht
                           - nur insofern etwas beruhigt sein kann, als sich in den meisten Archiven das Prinzip des Sammelns von kompletten Nachlässen
                           (autorbezogener und institutioneller Provenienz), die in der Regel ein sehr breit gestreutes Material (Werke, Korrespondenzen,
                           Lebensdokumente, Sammlungen) vereinen, durchgesetzt hat. Dies wird ja auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt.
                           Eine Einrichtung wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach dürfte demnach, da es zudem über mannigfache Spezialabteilungen
                           (Zeitungsausschnitt-Sammlung, Mediathek usw.) verfügt und auch auf dem Veranstaltungs- und Publikationssektor recht rege ist,
                           fast schon als vorbildlich angesehen werden. Natürlich bleiben die Fragen nach der Finanzierung und nach dem Diskurs über
                           die Bestimmung des Begriffs ›Literatur‹, denen wir uns später widmen wollen. Wir haken zunächst noch einmal hinsichtlich Ihrer
                           beruflichen Praxis nach: Erläutern Sie uns doch bitte an einem konkreten Beispiel, bei welcher Gelegenheit Ihrer literaturwissenschaftlichen
                           Tätigkeit die Benutzung eines Literaturarchivs wichtig oder unabdingbar war.
                           				
                         Das war erstmals der Fall bei der Arbeit an meiner Dissertation über »Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle
                           Mentalität der klassischen Moderne« (Anm. d. Red.: vgl. Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit
                           und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen,
                           Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart: Metzler 1994).
                         Parallel dazu entstand ein Aufsatz bzw. Rundfunkfeature mit dem Titel »Die verschollene Generation von Weimar.« (Anm. d. Red.:
                           vgl. Martin Lindner: Die verschollene Generation von Weimar. Eine Kultur-Geschichte in vier Lebensläufen [Arnolt Bronnen,
                           Ernst Glaeser, Ernst [3/ S. 97:]  von Salomon und Ernst Erich Noth]. In: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 39 (1992), H. 1). Im Mittelpunkt stehen
                           hier die ›intellektuellen Biographien‹ der Autoren, deren Texte in der Dissertation eingehend analysiert werden: Arnolt Bronnen,
                           Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Diese Verbindung von textanalytischem Ansatz und einer ›Geschichte der intellektuellen Mentalitäten‹ prägte zwei weitere Aufsätze
                           mit verwandter Thematik, die beide im Zusammenhang mit Ausstellungen entstanden: zu den illustrierten Zeitschriften der Münchner
                           Revolution um 1919 (Anm. d. Red. vgl. Martin Lindner: Illustrierte Zeitschriften der Revolution. In: Süddeutsche Freiheit.
                           Kunst der Revolution in München 1919. Katalog zur Ausstellung im Münchner Lenbachhaus [November 1993-Januar 1994]. Hg. von
                           Helmut Friedel, bearb. von Justin Hoffmann. München: Städtische Galerie im Lenbachhaus 1993) und zu den »neusachlichen Alltagsmythen
                           in Erich Kästners ›indirekter Literatur‹« (Anm. d. Red. vgl. Martin Lindner: Unter der gefrorenen Oberfläche. Neusachliche
                           Alltagsmythen in Erich Kästners ›indirekter Literatur‹. In: Katalog zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin
                           (Februar-Mai 1999) und im Münchner Stadtmuseum (Juni-Oktober 1999). Berlin 1999).
                         Für alle diese Untersuchungen benutzte ich intensiv Literaturarchive (in Marbach und München) sowie Autorennachlässe (die
                           fast durchwegs noch nicht in ein Literaturarchiv eingegliedert waren). Die intensive Arbeit mit den Archivmaterialien war
                           in jedem Fall eine großartige, gelegentlich fast schon rauschhafte Erfahrung. Zum einen wegen der ›körperlichen‹ Qualität
                           des zeitgenössischen Materials: Die ›Körper‹ der Texte (im Sinn von Roland Barthes) vermitteln die ganz unmittelbare Erfahrung,
                           daß man es hier mit Sedimenten einer ehemals lebendigen Kultur bzw. eines früheren individuellen Lebens zu tun hat; zum anderen
                           wegen der Fülle und Verschiedenartigkeit des Materials: Die Möglichkeit, spontan und (beinahe) simultan von einem entlegenen
                           Text zum nächsten zu springen, führt zu einer umfassenderen, intuitiveren und anders gar nicht erreichbaren Vorstellung von
                           einem vergangenen, kollektiven oder individuellen Sinn-Horizont.
                         Das intersubjektive Text-Gewebe spiegelt die ›literarische‹ Dimension der ganzen Kultur, d. h. die sprachlich codierten, zum
                           größeren Teil unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegenden Denkmuster und Denkfiguren, die die ›Weltbilder‹ der Zeitgenossen
                           bestimmen und so indirekt auch ihre Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten beeinflussen. Am aufschlußreichsten waren hier
                           für mich vielleicht die kleinen unbekannten ›Zeitgeist‹-Zeitschriften (z. B. »Arminius«, »Der Weg«, »Die Bücherkiste«, diverse
                           Hauszeitschriften von Kabaretts der 20er Jahre).  [3/ S. 98:]  Hier zeigte sich mir am direktesten das Nebeneinander und Miteinander von ideologischen, literarischen und ästhetischen Positionen,
                           die aus heutiger Sicht unvereinbar zu sein scheinen (wobei vor allem auch das Zusammenspiel von Texten und Bildern, das Layout,
                           die Anzeigen und sonstigen Paratexte eine große Rolle spielen). Ebenso wichtig (und schwer zugänglich) waren die seltsamen
                           semiliterarischen und populärwissenschaftlichen Broschüren, in denen nach 1900 unzählige Autoren ihre eigene ›Lebensanschauung‹
                           dokumentierten. Auch und gerade die entlegenen oder ›unwichtigen‹ Texte bilden den Nährboden und Kontext, ohne den die ›Hochkultur‹
                           nicht zu verstehen ist. (Das ist ein ›quasi-freudianischer‹ Analyseansatz, der das ›semantische Unbewußte‹ einer Kultur zu
                           ergründen versucht.) Auch die Nachlässe, die wiederum vor allem aus Texten (und visuellen Zeichen) bestehen, stellen so etwas wie den ›Horizont
                           einer vergangenen Gegenwart‹ dar. Er wölbt sich über der Leerstelle, die das tote Individuum hinterlassen hat. Das Faszinierende
                           ist dabei, wie durch eine Art holographische Spiegelung im Schnittfeld der Texte ein Schemen der abgelebten Subjektivität
                           entsteht.
                         Mein besonderer literaturwissenschaftlicher Ansatz versucht eine Art stereoskopischen Blick, der sich zugleich der kulturhistorischen
                           Makroperspektive und der subjekt- bzw. textorientierten Mikroperspektiven bedient. Dabei geht es nicht um eine Synthese, sondern
                           um die möglichst extreme Betonung der beiden Pole. So entsteht eine Spannung, die katalysatorisch die literatur- und kulturwissenschaftlichen
                           Erkenntnisse befördert, um die es mir geht.
                         Ohne Literaturarchive wäre man auf ›Gesammelte Werke‹ und sonstige kanonische ›Text-Gräber‹ angewiesen und würde sich aus
                           der Befangenheit des altklugen Nachgeborenen, der seinen besserwisserischen anbeterischen Blick auf versunkene Universen wirft,
                           kaum mehr befreien können. Literaturarchive sind die Orte, an denen der »Archäologe des Wissens« einen besonders direkten
                           Zugang zum kulturellen »Archiv« im Sinn Michel Foucaults hat.
                         
                           					Sie haben jetzt sehr überzeugend dargestellt, daß literaturwissenschaftliche Forschung mit komplexem Theorieanspruch
                           bei zahlreichen Frage- und Problemstellungen auf das Material, das von Literaturarchiven verwaltet wird, angewiesen ist. Nun
                           werden aber Literaturarchive von der literaturwissenschaftlichen Forschung im allgemeinen nur äußerst zögerlich wahrgenommen.
                           Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Zusammenarbeit zwischen Literaturarchiven und Literaturwissenschaft zu verbessern? Haben
                           Sie Hinweise für die Literaturarchive, wie sie ihre Funktion [3/ S. 99:]  als Schnittstelle zwischen Material und Forschung optimieren können? Bezüglich der Frage, warum die Archive wenig genutzt werden - und wenn, dann eher als Ausweichmöglichkeit für diejenigen Forscher,
                           die lieber monographische Stoffsammlungen als neue Gedankengänge publizieren -, kann ich nur Mutmaßungen anstellen:
                         Zuerst ist es schlichter Mangel an Zeit. Sich über einen längeren Zeitraum als Archäologe vorbehaltlos mit dem Material auseinanderzusetzen,
                           braucht sehr viel Zeit. Oft zu viel Zeit für die aktivsten Forscher, die noch nicht auf sichere Positionen gelangt sind und
                           darauf angewiesen sind, Projekte zu bearbeiten, die mit möglichst ökonomischen Mitteln die Aufmerksamkeit des Establishments
                           erregen.
                         Die ernsthafte Arbeit mit Archivmaterial ist demgegenüber undankbar: Die Resultate stoßen auf Desinteresse, weil niemand die
                           Texte kennt, um die es geht. Und dazu kommt ein inhaltlicher Grund: Es ist schwierig, in der Fülle des Materials einen roten
                           Faden in der Hand zu behalten und dennoch nicht aus allen Funden immer das herauszulesen, was man immer schon gewußt hat.
                           Das ist das Spannende an einem solchen Unternehmen, aber eben auch das Quälende.
                         Wie kann diese Situation geändert werden? Erstens: Gar nicht. Denn das fundamentale Problem ist eben in der organisatorischen wie inhaltlich unbefriedigenden Situation
                           des Fachs selbst begründet. Wie die geändert werden kann, wüßte ich selbst gern.
                         Zweitens: Die Archive haben ohnehin schon unmerklich die Aufgabe zugeschoben erhalten, ihr Material nicht nur zu sammeln,
                           sondern auch für die Öffentlichkeit zu erschließen. Viele Ausstellungsprojekte etwa in Marbach leisteten Ansätze zu Forschungen,
                           zu denen die universitäre Wissenschaft kaum mehr in der Lage ist. Die Orientierung an einem ›gebildeten Publikum‹ - und nicht
                           an in sich geschlossenen Fachzirkeln - tut der Sache gut. Diese Tendenz gälte es zu verstärken.
                         Meine Wunschvorstellung wäre tatsächlich eine eigene Schaltstelle zwischen dem eigentlichen Archiv einerseits und der Fachwissenschaft
                           andererseits, die sich am Ziel der ›Ausstellung von Literatur‹ orientiert, um überhaupt wieder einen Ort im öffentlichen kulturellen
                           Bewußtsein zu erkämpfen. Sobald das Material unter interessanten und zugleich öffentlichkeitswirksamen Gesichtspunkten organisiert
                           und erschlossen ist, werden sich auch ambitionierte, nicht in Routine erstarrte Forscherinnen und Forscher anschließen.
                          [3/ S. 100:] Das setzt allerdings voraus, daß der Ausstellungsbetrieb nicht - wie es in Marbach trotz aller Verdienste zum Teil der Fall
                           ist - in quasi-akademischer Selbstbezüglichkeit erstarrt.
 Wenn Sie fragen, wie das praktisch gehen soll, fällt mir nur eines ein: Die ›Neuen Medien‹ werden die kulturelle Kommunikation
                           und damit die Kultur selbst grundlegend ändern. Das geschieht zugegebenermaßen erst einmal rein oberflächlich, aber darin
                           liegt eine große Chance: Neue Strukturen entstehen neben den alten, und die neuen Formen werden sich ihre Inhalte suchen.
                           Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, mit dieser an sich unausweichlichen Entwicklung innovative Ansprüche zu verbinden.
                           Gerade für Literaturarchive scheint mir das ›Hypertext‹-Prinzip sehr fruchtbar zu sein: Totes Material kann wieder in den
                           Kreislauf des geistigen Lebens eingespeist werden, im Idealfall ergänzt durch anspruchsvolle multimediale Mittel, d. h. Konstruktion
                           von visuell und interaktiv erfahrbaren ›semantischen Räumen‹, womit ich mich derzeit selbst beschäftige. So könnte ein Sog
                           entstehen, der irgendwann einmal auf die akademische Literaturwissenschaft zurückwirken wird.
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