Dieses hellbraune Notizbuch enthält Peter Handkes Aufzeichnungen aus der Zeit von 8. Mai bis 13. Juni 1976. Es umfasst 125 Seiten, die Handke von 1-121 paginierte, wobei er auf vier Seiten, die er bei der Zählung übersehen hatte, nachträglich die Paginierungen 95a und 95b sowie 109a und 109b einfügte. Der vordere Vorsatz des Notizbuchs besteht aus drei unpaginierten Seiten: Auf der ersten Vorsatzseite notierte Handke neben seiner Pariser Adresse am Boulevard Montmorency die Hotelnamen – »Hotel Ambassador, Hotel Château Marmont« – sowie den Projekttitel »Ins tiefe Österreich« (S. I), auf der zweiten vermerkte er seine Reisen: »U.S. (L. A., New York) 8.5.-19.5.1976 [/] PARIS (19.5.- [/] (Cannes, Frankfurt, Salzburg, Tamsweg, Graz, Brunnsee)« und »Paris« (S. II) sowie eine Adresse in Frankreich. Die dritte Vorsatzseite ist leer. Der hintere Vorsatz zählt vier unpaginierte Seiten, die vor allem Adressen, Telefonnummern und verschiedene Lektürezitate enthalten. Von einer dieser Seiten wurde ein Teil herausgerissen (S. II*-III*), der übriggebliebene schmale Papierstreifen wurde von Handke aber noch beschrieben.
Das erste Drittel der Notizen entstand während Handkes Reise nach Los Angeles und New York. Anlass der Reise war die Einladung zu einer Veranstaltung an einer Universität in Los Angeles, wobei weder aus den Notizbucheinträgen noch aus anderen bekannten Quellen hervorgeht, um welche Veranstaltung und um welche Universität es sich dabei handelte, vielleicht ging es auch um mehrere Veranstaltungen an verschiedenen Universitäten. Die University of California Los Angeles (UCLA) wird in einer Notiz als »Konkurrenzuniversität« (S. 26) bezeichnet; das Hotel Château Marmont am Sunset Boulevard in West Hollywood, in dem Handke übernachtete, befindet sich allerdings in der Nähe. Gemeint sein könnte aber auch die California State University Los Angeles oder die Universität Berkeley bei San Francisco mit dem von Handke in den Notizen erwähnten »Schuppen«, in welchem Oppenheimer die erste Atombombe entwickelt hatte (S. 21). Auf der Reise begleitete ihn seine siebenjährige Tochter Amina.
Bei den Reiseaufzeichnungen handelt es sich um Gegenüberstellungen von Amerika und Europa (z. B. S. 8, 14), um Notizen zu Filmen und amerikanischen Fernsehsendungen (z. B. S. 8, 24, 32), zu verschiedenen Menschen, denen er begegnete, (z. B. S. 7, 26), besonders zu Frauen, vor allem aber um Beschreibungen der Universität (oder der Universitäten) – eines Campus, von Hörsälen und eines Erdbebeninstituts mit seinem Labor (S. 15-29). Handke besuchte mit seiner Tochter auch Disneyland, wie zwei kleinere Einträge zeigen (S. 32, 33). Die letzten zwei Tage der Reise verbrachte er in New York (S. 36ff.). Fotoaufnahmen der Reise befinden sich in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA SPH/LW/S110/164-184).
Die Reiseaufzeichnungen sind undatiert – den einzigen Hinweis auf die Entstehungszeit gibt das neben die Zeichnung eines Blattes vermerkte Datum »12/5/76« (S. 15). Erste Notizen zum Flug findet man im vorangehenden Notizbuch unter dem Datum des 8. Mai: »12h: Jetzt fahren wir zum Flughafen, um nach L. A. zu fliegen« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch 004, S. 91). Eine genaue Bestimmung der Reisedauer erlaubt jedoch Handkes Vermerk am Vorsatz (S. II). Die Reise dauerte demnach elf Tage – von 8. bis 19. Mai 1976. Eine Postkarte, die Handke am 17. Mai 1976 aus New York an seinen Freund Alfred Kolleritsch geschickt hat, bestätigen die Reisezeiten: »Lieber Fredy, ich bin für 10 Tage mit Amina in Los Angeles, wo ich mich dem Universitätsstumpfsinn gestellt habe (ohne viel Erfolg). Seit gestern sind wir in New York, das mir, mit einem Kind zu Füßen und den im Nebel stehenden Wolkenkratzern darüber, diesmal doch sehr bedrückend und überflüssig als Menschensiedlung erscheint.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 99)
Die erste journalartige Datierung findet man nach Handkes Rückkehr in Paris: »19.5.76 [/] Den ersten Tag in Europa zurück. Das Gefühl, für alles richtige, einfache Handgriffe zu haben« (S. 40). Danach sind die Einträge durchgängig von 19. Mai bis 13. Juni 1976 datiert. Die weiteren, am Vorsatzblatt vermerkten Reisen nach »Cannes, Frankfurt, Salzburg, Tamsweg, Graz, und Brunnsee« (Bl. II) lassen sich in den Notizen nur indirekt erschließen, denn die Orte werden namentlich nicht erwähnt. So dürfte er um den 26. Mai Wim Wenders' Film Der Lauf der Zeit (S. 66) bei den Filmfestspielen in Cannes gesehen haben, der dort den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritik gewonnen hat. Notizen über Siegfried Unseld könnten Hinweise auf einen Frankfurt-Besuch sein (S. 73, 74 u. 95b) ein Eintrag über Wolfgang Schaffler (S. 100) dagegen deutet wohl auf seinen Salzburg-Aufenthalt hin. Bis auf eine kleine, am 5. Juni 1976 geschriebene Bemerkung über »[d]ie schwarze Muttergottes« (S. 96) in der Kirche des Burgenländischen Loretto (Handke musste auf seiner Reise dort vorbeigekommen sein) verraten die Notizbucheinträge nichts über den Reiseverlauf.
Ebenfalls am 5. Juni 1976 notierte Handke: »In die österreichische Landschaft stieren: Bilder noch + noch (die junge Frau als Beifahrerin unter der Plane des Traktors und ihr Blick unter dieser Düsterkeit heraus, die jungen Lärchennadeln usw. usw. – und der Anblick dieser Dinge, als ob man Wörter einer fremden Sprache hört: man könnte sie kurz nach dem Hören noch wiedergeben, aber gleich danach nicht mehr. So sieht man auch diese Dinge und könnte kurz darauf nicht mehr sagen, was man gesehen hat (Kleeblattlandschaft) – das Ausgeschlossensein von dieser Landschaft, die man nicht bearbeitet.« (S. 97) Diese Notiz lässt an das Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« denken, dem Handke das gesamte Notizbuch zugeordnet hat und aus dem später die Tetralogie Langsame Heimkehr wurde. Konkrete Projektzuweisungen von Einträgen findet man dabei im Notizbuch nicht: einige Notate wurden mit den Initialen »V. S.« versehen, die für Valentin Sorger, den Protagonisten der Erzählung Langsame Heimkehr, stehen. Handke muss sich zu dieser Zeit bereits so intensiv mit seinem Romanprojekt beschäftigt haben, dass er den Namen seines Helden kannte (S. 21, 30f., 47). Die Aufzeichnungen der Los Angeles-Reise verarbeitete er in seiner Beschreibung von Sorgers Universitätscampus in Langsame Heimkehr (LH 130ff.).
Manche Einträge erinnern an Motive, die Handke in späteren Projekten wie Kindergeschichte (1981), Die Wiederholung (1986) oder Versuch über die Müdigkeit (1989) wieder aufnahm, etwa die Notizen über Müdigkeit (z. B. S. 61, 105, 106, 109b), über sein Kind, über Erinnerungen an die eigene Kindheit (z. B. S. 42, 75, 83) oder an Angehörige der Familie (z. B. S. 79, 80, 85). »Ich: jemand ohne Geschichte aus einer Familie ohne Geschichte (kein Stolz dieser Art ist möglich – gut so)« (S. 105f.) Einträge aus dem hinteren Teil des Notizbuchs, in denen Handke etwa das Filmen mit dem Schreiben vergleicht (S. 115) oder über Schauspieler nachdenkt (S. 118) sowie ein Zitat von Yasujirō Ozu stehen vermutlich schon im Zusammenhang mit Handkes Vorbereitungen für die Dreharbeiten zu Die linkshändige Frau, die im Frühjahr 1977 begannen.
In den Notizen, die nach der Reise entstanden, beschäftigte sich Handke immer wieder mit den Voraussetzungen für das Schreiben – mit dem Notieren, Beobachten und Erfahren (S. 41, 58, 59), mit dem Wissen von sich und der Welt (S. 57) und dem Welt-Werden (S. 84) – oder er bekümmert sich um das »tägliche, ewige ärgerliche Vergessen, schon 1 Moment nach dem Wahrnehmen« (S. 63) sowie um die Ziele seiner schriftstellerischen Arbeit: »Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu schaffen, die mit den abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben. Wir brauchen neue Mythen, unschuldige: mit denen wir etwas anfangen können (keine Mythenspiele mehr wie bei Joyce und Beckett)« (S. 103). Viele Notizen halten Geräusche, Stimmungen und Naturbeobachtungen (der Wolken, des Himmels) fest. In den Notizen werden auch Personen aus Handkes Umfeld erwähnt, wobei diese meist nur mit Initialen genannt werden, zum Beispiel: »A.« (Amina), »Frau G.« (Frau Greinert), »Sch.« oder »W. Sch.« (Wolfgang Schaffler), »S.« oder »S. U.« (Siegfried Unseld), »G.« (Georges-Arthur Goldschmidt, S. 85, 86), »W.« (evt. Wim Wenders), »D.«, »L.«, »K.«, »J.« »Herr M.« oder »V.«. Nicht alle dieser Kürzel konnten entschlüsselt werden. Ein großer Teil der nach der Amerikareise entstandenen Notizen wurde von Handke (meist leicht überarbeitet) in sein Journal Das Gewicht der Welt übernommen (DGW 161-186).
Das Notizbuch enthält mehrere kleine Zeichnungen oder schnell hingekritzelte Skizzen, die in der Regel Notizen bzw. Beobachtungen verdeutlichen: zum Beispiel ein Blatt (S. 15), eine seismographische Anzeigenkurve (S. 17), Zäune mit einer Wiese (S. 32), eine Fieberkurve (S. 33), einen Wirbelsturm (S. 38), eine gemusterte Gartentischplatte »mit dem Loch für die Sonnenschirmstange und dem Muster« (S. 58), Straßburger Steinmetzzeichen (S. 98) oder ägyptische Symbole bzw. Hieroglyphen (S. 111 und 113). Etliche Zeichnungen (vor allem jene mit Tiermotiven) dürften von seiner Tochter Amina stammen.
Lektüren vermerkte Handke in diesem Notizbuch nur wenige: Er las in der Zeit nachweislich Wolfgang Koeppens Der Tod in Rom (S. 40, 46), Heimito von Doderers Die Strudelhofstiege (S. 59, 68f., 77, 107), über dessen Arbeitsweise er im Vergleich zu Hermann Lenz meinte: »Doderer (:H. Lenz): Es ist vielleicht ganz gut, wenn jemand beim Schreiben nicht mehr viel Sehnsucht spürt, sondern nur die Erinnerung daran als Energie für seine Figuren verwendet.« (S. 84) Ein Zitat stammt aus dem Gespräch von Martin Heidegger mit dem Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein vom 23. September 1966, das erst nach Heideggers Tod (26. Mai 1976) unter dem Titel "Nur noch ein Gott kann uns retten" am 31. Mai 1976 im Spiegel veröffentlicht wurde: »Heidegger: "Vorbereitung der Bereitschaft des Sich-Offen-Haltens für die Ankunft oder das Ausbleiben des Gottes. Auch die Erfahrung dieses Ausbleibens ist nicht nichts, sondern eine Befreiung des Menschen von der Verfallenheit an das Seiende." ("Das andere Denken")« (S. 84) Auf den letzten Seiten und am hinteren Vorsatz schrieb Handke mehrere Zitate aus Novalis' Blüthenstaub-Fragmenten (S. 116, 120-121, I*-II*, IV*) und einen Satz von Yasujirō Ozu – wobei die Quelle nicht eruiert werden konnte. Zum Bestand der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich zählt jedoch ein von Handke annotiertes Buch über Ozu, das er bei seinem Aufenthalt in Kalifornien erstanden haben könnte (Donald Richie: Ozu. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1974.). (kp)
Ins tiefe Österreich
U.S. (L.A., New York) (8.5.1976 – 19.5.1976); Paris (19.5.- ); (Cannes; Frankfurt; Salzburg; Tamsweg; Graz; Brunnsee); Paris [Bl. II]
Grönland (aus dem Flugzeug, S. 1); US (S. 1); L. A. (S. 1); U.S. (S. 7); L. A. (S. 9); Universität (welche Universität ist unklar, S. 11); Campus (S. 11); L. A. am Sunset Boulevard (S. 12); L. A. (S. 13, 14); Hörsaal (S. 15); Erdbebeninstitut (S. 18); Schuppen ohne Fenster, wo Oppenheimer die erste Atombombe entwickelt hat (S. 21); U. S. (S. 24); Hörsaal (S. 25f.); Geologiehörsäle (S. 27); Campus (S. 27); L. A. (S. 27); Los Angeles (S. 29); Amerika (S. 31); Wüste (S. 31); U.S. (S. 31); Disneyland (S. 32, 33); Canyons (aus dem Flugzeug, S. 34); New York (S. 36); U.S.A. (S. 37); Brooklyn Hights (S. 37); 5th Ave (S. 37); N.Y. City (S. 38); über Europa (im Flugzeug, S. 39); Europa (S. 39); Europa (aus der Luft, S. 40); den ersten Tag in Europa zurück (S. 40); St. Germain (Saint Germain des Prés in Paris, S. 45); Europa (S. 47); Bois de Boulogne (S. 54); amerikanische Kirche von Paris (S. 62); Südfrankreich (S. 64); Österreich (S. 95b); Loretto (S. 96); österreichische Landschaft (S. 96); Österreich (S. 103)
1 hellbraunes Notizbuch, 125 Seiten, I-III, pag. 1-95, 95a-95b, 96-109, 109a-109b, 110-121, I*-VI*
1 Papierstreifen mit Datumsangabe »Mai-Juni 1976« (1 Blatt)
Literatur:
über H. v. Doderer und Hermann Lenz (S. 84)
Martin Heidegger: "Nur noch ein Gott kann uns retten". Spiegel-Interview mit Rudolf Augstein vom 23.9.1966. In: Der Spiegel, 31.5.1976 (S. 84)
James Joyce und Samuel Beckett (Erwähnung, S. 103)
Novalis: Blüthenstaub (S. 116, 120-121, I*-II*, IV*)
Milovan Djilas (S. 121)
Film:
Wim Wenders: Im Lauf der Zeit (S. 66)
mit den Kindern im Film: Der sechste Kontinent, Angriff der Dinosaurier (S. 109a)
Yasujirō Ozu (S. IV*)
Musik:
Bobby Bare: Singin' in the kitchen (S. 33)