Entstehungskontext

DruckversionPDF-Version

In der 2011 erschienenen Erzählung Der Große Fall schildert Peter Handke einen Tag im Leben eines schon etwas älteren Schauspielers – vom Aufwachen morgens im Haus einer Frau, die ihn liebt, seinem Weg in die nahe Großstadt durch Wiesen, Wälder und kleine Vorstadtorte über den Stadtautobahngürtel bis ins Zentrum der »Kapitale«, wo er abends einen Preis erhalten soll und die Frau wiedersehen möchte. Beides kommt nicht zustande, dagegen ereignet sich während er am Platz vor einer Kathedrale steht und die ihn erwartende Frau betrachtet der »Große Fall« (DGF 279). Auf ihn steuert der Tag von Anfang an erzählerisch zu, seine Bedeutung bleibt jedoch offen. Der Begriff könnte aus dem christlich-mataphysischen Kontext entlehnt sein und auf die Verlorenheit der Menschen und den Tod verweisen oder das Leben als Tragödie umschreiben. Handke verwendete die Bezeichnung »Großer Fall« bereits im Zusammenhang mit dem Suizid der Mutter in Wunschloses Unglück und dem Schicksal der Familie und des slowenischen Volkes in Immer noch Sturm (WU 85, IS 20f.). Vielleicht spielte er mit dem Titel Der Große Fall auch auf Camus' Erzählung Der Fall an. Unter dem letzten Satz »Statt dessen der Große Fall.« legte Handke jedenfalls eine weitere Fährte, indem er als (vermeintlichen) Entstehungsort der der Erzählung, »Great Falls, Montana« (DGW 279), nennt.

Die Erzählsituation ist komplex gestaltet: Die Geschichte wird von einem Erzähler berichtet, der sich wie mittelalterliche Epensänger immer wieder an seine Leser oder Zuhörer wendet. An manchen Stellen scheint sich die Figur des Erzählers mit der des Schauspielers zu überschneiden. Angeregt, begleitet oder sogar vorgegeben wird der Weg des Schauspielers von dem morgens beim Frühstück gelesenen Drehbuch für seinen nächsten Film, in dem er einen Amokläufer darstellen soll. Die erzählten Erlebnisse und Beobachtungen des Schauspielers sind vielfältig assoziativ verknüpft mit Kunstwerken aus Literatur, Film, Musik und mit zahlreichen Anspielungen auf Handkes eigene Werke (K, DRB, WU, DF, DGW, LH, NS, DSF, DSE, MJN, LWD, SV, IS, DTA) versehen. Dazu mischt Handke verschiedene Sprachebenen (Hochdeutsch und von Phrasen bzw. Bildern bestimmte Alltagssprache) sowie unterschiedliche Erzählformen (Märchen, Epos, Novelle), wodurch eine ungewöhnliche Bedeutungsdichte und -vielfalt entsteht.

Werkentstehung

Aller Wahrscheinlichkeit nach waren Handkes Wege von seinem Haus in Chaville nach Paris Vorlage für den Plot von Der Große Fall – das Haus der Frau in der Nähe der »Megacity« erinnert zumindest an seines. Seine Wege könnten Handke auf die Idee zur Erzählung gebracht und dann der Recherche für den Großen Fall gedient haben. Die lückenhafte Quellenlage gestattet über diese Spekulationen hinaus keine weitern Aussagen – weder über die Konzeption der Geschichte, noch über die Produktion bzw. Herstellung des Buches im Suhrkamp Verlag. Relevante Materialien wie die Notizbücher mit möglichen projektbezogenen Aufzeichnungen (zum Helden, zur Handlung, zu einzelnen Szenen oder zur komplexen Erzählsituation) sowie die im Suhrkamp Verlag aufbewahrten Arbeitsmittel (Typoskripte, Druckfahnen oder Korrespondenz) der Forschung bislang noch nicht zugänglich. Handke äußerte sich auch nicht wie bei anderen Werken in Interviews über die Hintergründe und Entwicklung der Erzählung.

Textfassung 1

Ungefähr nachvollziehen und skizzieren lässt sich die Entstehung von Der Große Fall erst ab Handkes Arbeit an der ersten Textfassung. Er begann mit dem Schreiben des Bleistiftmanuskripts am 12. Juli 2010 in seinem Haus in Chaville, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch mit der Arbeit an zwei anderen Werken beschäftigt war. Erst drei Tage zuvor hatte er die Korrekturen am Vor-Umbruch von Immer noch Sturm abgeschlossen. In den folgenden zwei Juliwochen korrigierte er parallel zu seiner Arbeit am Großen Fall die Druckfahnen des Stücks und die Fahnen seines im April 2010 zusammengestellten Traum-Wach-Journals Ein Jahr aus der Nacht gesprochen. Beide Werke erschienen noch während seiner Arbeit an der ersten Textfassung vom Großen Fall im Sommer 2010. In der insgesamt zweieinhalb Monate dauernden Schreibzeit am Bleistiftmanuskript unterbrach Handke seine tägliche Arbeit vier Mal: für einen viertägigen Aufenthalt in Bauvais bei Paris Ende Juli (27.-31.7.), eine achttägige Reise nach Österreich und Norditalien Mitte August, auf der ihn seine Tochter Léocadie und seine Frau Sophie Semin begleiteten (14.-22.8.), weitere drei Tage in Venedig Ende August (28.8.-1.9.), wo seine Tochter Geburtstag feierte, und schließlich einen Tag in Saarbrücken (8.9.) (DLA, A: Handke, Peter, HS 11.100.1, S. 27, 52, 65). Er beendete die erste Niederschrift der Erzählung am 20. September 2010 nach insgesamt 55 Tagen konkreter Schreibzeit, fügte aber zwei Tage nach Abschluss, am 22. September, eine neue Schlussvariante hinzu. 

Textfassung 2

Eine Kopie des Manuskripts dürfte Handke noch im September nach Berlin an den Suhrkamp Verlag geschickt haben, denn sein Lektor, Raimund Fellinger, übermittelte Gudrun Weidner, der ehemaligen Sekretärin Siegfried Unselds, die heute in Frankfurt ein eigenes Schreibüro betreibt, ein Kopieexemplar mit dem Auftrag zur Abschrift. Das genaue Datum des Auftrags wie auch des Empfangs der Kopie lässt sich zwar nicht mehr eruieren, da Weidner ihren Stundenaufzeichnungen nach am 6. Oktober 2010 mit der Arbeit begann, muss sie das Manuskript jedoch kurz zuvor erhalten haben. Weidner beendete die Computerabschrift der zweiten Textfassung am 20. November 2010 und schickte den Ausdruck zusammen mit einer Liste ihrer Anmerkungen und Fragen gleich am nächsten Tag an Peter Handke nach Chaville. Vielleicht hatte Peter Handke sie nach dem Verbleib des Ausdrucks gefragt, denn am 23. November 2010 faxte Weidner den Internetausdruck der DHL-Sendungsverfolgung an ihn mit dem Kommentar: »Ihre Manuskript-Kopie und das Typoskript sind auf dem Weg nach Chaville. – Elektronisch ist es schon nach Berlin gegangen. Es war mir wie immer eine große Freude. Gerne übernehme ich auch noch den Korrekturgang, bitte entscheiden Sie, evtl. zusammen mit Herrn Fellinger. Bleiben Sie gesund. Ihre Gudrun Weidner« (Privatarchiv Gudrun Weidner).

Handke antwortete Weidner erst ein Monat später. Er schrieb ihr am 23. Dezember 2010 eine Postkarte aus La bei de Saint Brieuc in der Bretagne, auf der er sich für ihre Arbeit bedankte und anmerkte »Ich werde mich meinerseits Anfang des neuen (!) Jahres an die Arbeit machen.« (Privatarchiv Gudrun Weidner) Handke hatte vermutlich gar nicht vor, Weidners Computerabschrift zu überarbeiten, sondern dachte gleich an die Korrektur der am 10. Jänner 2011 hergestellten Druckfahnen. Weidners Computerabschrift der zweiten Textfassung, die sie als elektronische Datei im November an den Verlag gemailt hatte, dürfte als Satzvorlage gedient haben. Ein Vergleich von Computerdatei und Druckfahnen bekräftigt diese Annahme.

Druckfahnen und Erstausgabe

Die Fahnen des ersten Laufs von Der Große Fall bearbeite Handke den Angaben auf seinem Exemplar zufolge im Jänner und Februar 2011. Dem Suhrkamp Verlag schickte er vermutlich eine Kopie seiner Korrekturfahnen, denn das Original befindet sich im Privatarchiv von Hans Widrich. Zur Vorbereitung der Überarbeitung sammelte Handke noch im Jänner listenartig angeordnete und durchnummerierte Notizen zu Korrekturen und Textergänzungen. Die eigentliche Fahnenkorrektur dürfte er aber erst Ende Jänner in Angriff genommen haben, da er von 10. bis 23. Jänner die kurze Geschichte des Dragoljub Milanović schrieb. Ein ebenfalls im Privatarchiv von Hans Widrich aufbewahrtes Konvolut von fünf unterschiedlich langen Listen enthält Datierungen von 2. und 25. Februar 2011, wobei die längste Liste undatiert ist; sie dürfte bereits im Jänner enstanden sein – vor und während der Arbeit an Dragoljub Milanović. Alle gesammelten Korrektur- und Textergänzungsnotizen beziehen sich wie es scheint auf die Überarbeitung des ersten Laufs der Druckfahnen. Ein weiterer Korrekturlauf ließ sich noch nicht nachweisen, die Druckfahnen könnten sich aber noch bei den Verlagsmaterialien in Berlin befinden. Die Erzählung Der Große Fall erschien nach einer vergleichsweise kurzen Herstellungszeit von insgesamt zwei Monaten (inklusive Druck) am 19. März 2011 im Suhrkamp Verlag. Am Buchumschlag ist eine Zeichnung Handkes von einem männlichen Gesicht aus seinem Notizbuch abgebildet.

Anzumerken ist ein kleine Fehler, der bei der Übertragung von Handkes Korrekturen und Ergänzungen aus den Druckfahnen 1. Lauf passierte und der die Rezensenten später deutlich verwirrte: Statt des von Handke eingefügten Entstehungszeitraums »Juni-August 2010« (Druckfahnen 1. Lauf, S. 282, Privatarchiv Hans Widrich) wurde versehentlich »Juni-August 2011« gedruckt. Da das Buch im März 2011 veröffentlicht wurde, überlegte man, warum die Geschichte, die ohnehin schon sehr rätselhaft endet, erst in der Zukunft und noch dazu in der nahen Zukunft geschrieben worden sein sollte. (kp)