Im Anschluss an seine zweite Reise zur Montagne Sainte-Victoire (10. bis 14. Dezember 1979) setzte Handke am 19. Dezember seine Aufzeichnungen in diesem Notizbuch in Paris fort. Die Einträge decken den Zeitraum bis zum 1. März 1980 ab, das Notizbuch endet somit elf Tage, bevor er begann, die Erstfassung von Die Lehre der Sainte-Victoire zu schreiben.
Die Anmerkungen zur Kunst Cézannes am Beginn des Notizbuchs, die anlässlich eines neuerlichen Besuchs in der Galerie du Jeu de Paume (heute: im Musée d'Orsay) entstanden, sind in der Erzählung wiederzufinden im Kapitel »Das Bild der Bilder«. So wird z.B. aus der Notiz »(Stilleben): wie so "seine" Dinge einen märchenhaften Moment haben, vor allem die Stilleben mit den Zwiebeln, mit dem Birnenkorb: es sind Dinge aus einem Märchen. [...] sie sind bereit - auch durch die verschiedenen Schrägen und Aufblicke?« (S. 2-3) der Satz: »Die Birnen, Pfirsiche, Äpfel und Zwiebeln, die Vasen, Schalen und Flaschen erscheinen, auch durch die leichten Verrückungen und schiefen Ebenen, wie Märchendinge, die gleich zu leben anfangen werden [...]« (DLS 80). Dieses Beispiel zeigt zudem, wie Handke von dem etwa eine Notizbuchseite umfassenden, stichwortartigen Eintrag zu einer sprachlichen Präzisierung in einem einzigen Satz findet. Wenig später im Dezember 1979 besuchte Handke das Kunsthaus Zürich und fügte die dort beschriebene »C.-Wand« mit drei Porträts Cézannes unmittelbar nach der Pariser Notiz in die Erzählung ein. Der Satz »Vergleichbar dann die Wand in einem Museum in der Schweiz. Dort hängen in einer Reihe drei große Porträts: der Maler selber, seine Frau, und der Knabe mit der roten Weste.« (DLS 80) basiert auf der Notiz vom 21. Dezember: »Mann / Frau / Kind – es sind verschiedene Haltungen, in eines; der Junge nach vorn gekrümmt, die Frau leicht zurückgelehnt, der Maler hochaufgerichtet« (S. 12-13).
Seit Dezember 1979 las Handke regelmäßig in Kurt Badts Buch Die Kunst Cézannes, aus dem er zitierte oder exzerpierte (entsprechende Stellen sind oft mit dem Kürzel »B.« gekennzeichnet). Alleine den bei Badt verwendeten Begriff der »Schattenbahnen« findet man in der Erzählung dreifach (DLS 37, 109, 114). Ins Notizbuch übertrug er auch zahlreiche Sekundärzitate aus bei Badt zitierten Quellen. Auffällig ist, dass Handke nicht nur Badts Äußerungen zu Cézanne übernimmt, sondern auch zahlreiche zu anderen Malern wie Delacroix oder Poussin.
Gegen Ende Dezember begann Handke erstmals seine beiden Reisen nach Aix zu reflektieren und lieferte zudem den Hinweis, dass er – im Gegensatz zum Ich-Erzähler – diese Reisen alleine unternommen hatte: »daß ich die Landschaft bei Aix doch für jemanden erkunden wollte, daß ich da der kundige Führer jemandes sein wollte; deswegen allein« (S. 31). Das Zusammentreffen des Erzählers mit der Freundin »D.« in Aix ist die erzählerische Konstruktion einer tatsächlichen Begegnung Handkes mit »D.«[omenika Kaesdorf], die allerdings erst am 4. Jänner 1980 in Salzburg stattgefunden haben dürfte, wie der Notizbucheintrag vom 5. Jänner nahelegt: »Wie gestern [...] Spaziergang mit D.« (S. 50). Dort findet sich auch eine Anmerkung zu den »Übergänge[n] [...] beim Kleidermachen« (S. 52), die in der »Mantel«-Episode im Kapitel »Der Hügel der Kreisel« wiederkehrt (DLS 118-119). Ein Brief von Domenika Kaesdorf vom 23. März 1980 griff diese Begegnung wieder auf und wurde zu einer wichtigen Textquelle für die Erzählung.
Notizen, die – wenn auch nur im weitesten Sinne – mit der Erzählung in Zusammenhang stehen, markierte Handke durch die Beifügung des Werktitels oder einer Abkürzung: »[...] wie auch das Mädchen in dem Laden (Neutor) in der ganzen Welt gestanden hat (Ste Victoire)« (S. II). Ebenso hielt er Überlegungen zur Erzählpoetik fest: »Wie schaffe ich Dramatik und behalte die Ruhe? (Die Lehre der Ste Victoire)« (S. 4) oder formulierte eine präzise Vorstellung am 25. Dezember 1979: »"Die Lehre": Es darf keine Analyse sein, sondern muß die Erzählung einer allmählichen Annäherung (und vielleicht Entfernung) sein, strahlend äußerlich und vor allem, ohne Anspruch – als ginge es um nichts« (S. 29). Am 1. Jänner 1980 wollte er für »die Lehre der Ste Victoire: "homerische Vergleiche"« (S. 45) und am 7. Jänner schloss er seinen Tageseintrag in Versalien: »DER, DER ICH BIN (Held der Geschichte) [Ste. Victoire]« (S. 57). Am 18. Jänner notierte er, »"Die Lehre der Ste Victoire" müßte vor allem eine Geschichte übers Verehren und Verehren-Können werden« (S. 72), sowie am 23. Jänner: »Der Maler und sein Weg der Phantasie (Ste Victoire)« und »die "Sehnsucht" des Zeichners ist die Malerei (Ste Victoire)« (S. 82). Eine Überlegung zum Erzählende enthält der Notizbucheintrag vom 24. Jänner: »Wie aus dem Zeichner und dem Schriftsteller gegen Schluß eine gemeinsame Stimme wird (Die Lehre der Ste Victoire)« (S. 83).
Dass es bei den Notizen von Dezember 1979 bis März 1980 Überschneidungen von Die Lehre der Sainte-Victoire, Über die Dörfer und im weiteren Sinne Die Wiederholung gab, belegt eine Stelle vom 26. Dezember exemplarisch, an der Elemente aller drei Texte aufeinandertreffen: »die Buntheit der Tropfsteinhöhle; ja ich muß mit der Ste Victoire in der Kindheit anfangen (und das farblose Gemälde in der Kirchenkuppel von St. Griffen; der Pflüger) [/] die Geschwister brauchen "mich" (über die Dörfer)« (S. 32). Die Erinnerung an die eigene Kindheit wird in der Lehre der Sainte-Victoire im Kapitel »Der Maulbeerenweg« verarbeitet (DLS 68-69).
Zahlreiche einzelne Detailbeobachtungen tauchen in der Erzählung an verschiedensten Stellen wieder auf, so beispielsweise der »buchenstammfarbene Asphalt« (S. 128) vom 1. März 1980 in dem Satz »Habe ich in dem Graublau des Asphalts nicht gerade einen Buchenhain widerscheinen sehen?« (DLS 82). Oder »Jene einzelne Zimmerpflanze, die ich einmal durch ein Fenster vor der Landschaft als chinesisches Schriftzeichen erblickte« (DLS 78) geht auf eine in Salzburg entstandene Notiz vom 6. Februar 1980 zurück, in der es heißt: »Blick in ein Fenster auf ein andres Fenster; dazwischen nur eine Zimmerpflanze als chinesisches Schriftzeichen (Imbergstraße)« (S. 98). Auch das in der Erzählung beschriebene »Flurwächterhaus« (DLS 122) stammt aus einer einzelnen Notiz vom 8. Februar (S. 101).
In der Buchausgabe nicht realisiert wurde eine Überlegung zum Anfang der Erzählung, die Handke am 23. Dezember 1979 festhielt: »vielleicht mit Courbet und Chr. Wagner überhaupt die "Ste Victoire" anfangen?« (S. 23). Noch in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld vom 22. März 1980 ging Handke davon aus, Die Lehre der Sainte-Victoire als zentralen Text zusammen mit weiteren Essays und Gedichten in einem Sammelband veröffentlichen zu wollen. Sein Essay über Christian Wagner, erstgedruckt am 6. Jänner 1978 in der Zeit, wäre Teil dieser ursprünglich angedachten Zusammenstellung gewesen, die in veränderter Form unter dem Titel Das Ende des Flanierens erschien. Sowohl der Maler Gustave Courbet als auch der Schriftsteller Christian Wagner werden im ersten Kapitel »Der große Bogen« kurz thematisiert, allerdings nicht unmittelbar am Beginn der Erzählung (DLS 30-33 und 45). Verarbeitet für den Anfang der Erzählung wurde hingegen Handkes Lektüre zweier Texte Adalbert Stifters (Bergkristall und Mein Leben), – bereits der zweite Satz bezieht sich auf Bergkristall. Der entsprechende Lektürebezug im Notizbuch datiert relativ spät, am 1. März 1980, also nur wenige Tage vor dem Schreibbeginn.
Gegen Ende des Notizbuchs verstärkt sich der vorbereitend-reflektierende Charakters der Einträge im Hinblick auf das Schreibprojekt. Je näher das Datum der eigentlichen Arbeit an der ersten Fassung rückt, umso allgemeiner formuliert Handke, etwa bezogen auf das Schreiben: »Zum Schreiben muß ich stetig bei den Dingen bleiben, darf nie in der Sprache sein [...]« (22. Februar 1980, S. 116), oder zum Vorgang des Betrachtens: »Sich einlassen auf die Naturvorgänge verlangsamt, auch wenn diese schnell ablaufen (und in der eigenen Verlangsamung wirken auch sie verlangsamt)« (29. Februar 1980, S. 126) und zuletzt: »als Geistesgegenwartssäule durch die Welt sich bewegen, diese so erst überlieferungsfähig machend (mitdenkend mit der Erde die Erde denkend als denkdene Welt ohne Ende)« (1. März, S. I*).
Der mit solchen eher wahrnehmungstheoretischen Überlegungen oft einhergehende, und für die Erzählung zentrale Begriff des »nunc stans« tauchte in Handkes Notizen ab Oktober 1979 auf. Erstmals in diesem Notizbuch erwähnte er ihn am 25. Dezember in Salzburg: »auf der Stiege über der Salzach, Mülln, Abend: Nunc stans, "der Fluß" (ohne Namen)« (S. 29). Es folgte eine Anmerkung über Cézannes Bilder als »Halbschlafbilder« am 27. Dezember (S. 35), tags darauf die Formulierung »Im Reich der Farben« und passend dazu auch fast zwei Monate später »Nunc stans: mit den Farben (mit allen Farben)« (21. Februar 1980, S. 114). »Durch die Halbschlafbilder kriege ich (auch ich) ein Recht auf die Dinge«, bekräftigte er am 31. Jänner 1980 und führte dazu den »Zeitstand« ein (S. 93-94), eine eher freie Übertragung des »nunc stans«-Begriffs. Am 14. Februar deutete er »"Nunc stans" immer auch in einem Moment der Kritikfähigkeit gegen sich selber: man ist fähig, den üblichen Gedankenablauf anzuhalten und sich endlich herauszuhalten« (S. 107). Entscheidend für die Textgenese ist, dass Handke mit diesen Notizen, die – analog zu den Wanderungen auf die Montagne Sainte-Victoire – in der Umgebung des Salzburger Untersbergs entstanden, bereits das Vokabular für den Einstieg zu seiner Erzählung erarbeitet: »Einmal bin ich in den Farben zu Hause gewesen. [...] Naturwelt und Menschenwerk, eins durch das andere, bereiteten mir einen Beseligungsmoment, den ich aus den Halbschlafbildern kenne, und der Nunc stans genannt worden ist [...]« (DLS 9). (ck)
Paris → Genf → Zürich → Winterthur → München → Salzburg
Rue du Maine [Paris] (19.12.1979, S. 3); Genfer See, Lausanne (20.12., S. 5); Bern (20.12., S. 6); Schweiz, Olten (20.12., S. 7), Zürich (20.12., S. 9); Winterthur (21.12., S. 17); Leopoldskron (23.12., S. 23); Mönchsberggarage (24.12., S. 24); Salzach, Mülln (25.12., S. 29); Untersberg (27.12., S. 33); St. Leonhard/Untersberg (28.12., S. 35); Mülln (30.12., S. 40); Rainberg (31.12., S. 41); Bergheim (2.1.1980, S. 46); Maria Plain (2.1., S. 47); Untersberg, Mönchsberg, Hellbrunner Berg, Nonnberg (5.1., S. 51); Leopoldskron (7.1., S. 56); Gaisberg (8.1., S. 58); Mönchsberg, Humboldtterrasse (9.1., S. 62); Gaisberg (12.1., S. 67); Bergheim (13.1., S. 68); Ma. Plain (13.1., S. 69); Morzg (15.1., S. 70); Mülln (19.1., S. 73); Gaisberg, Maria Plain (23.1., S. 81); Mönchsberg Humboldtterrasse (6.2., S. 97); Imbergstraße (6.2., S. 98); Moosstraße (7.2., S. 100); Anif, Morzg (9.2., S. 101); Siezenheim (12.2., S. 105); an der Mur, Lungau (14.2., S. 107); Karneralm, Prebersee (15.2., S. 108); Maria Pfarr (15.2., S. 109); St. Leonhard (16.2., S. 110); Leopoldskron (24.2., S. 119); St. Peter, Nonntal (25.2., S. 121); Morzger Hügel (27.2., S. 124); M.ger Wald, Hellbrunner Hügel (1.3., S. I*), Morzger Hügel, Gneis (1.3., S. II)
1 Notizbuch mit rotbraunem Plastikumschlag, 128 Seiten, I-IV, pag. 2-128, I*-III*
1 getrocknetes Blatt (zw. S. 122/123) im DLA Marbach aus konservatorischen Gründen separat abgelegt; im hinteren Vorsatz: 1 Polaroid, Amina Handke, mit eh. Aufschrift »6. Juli 1980 (vor → Berlin)«; 1 Ausschnitt aus einer Schweizer Zeitung: »H. Mr.: Halbschattenmondfinsternis am 1. März«, ohne Datum; 1 Taxirechnung München, 25.7.1980; 1 Restauranrechnung von Hübner, Hotel Bristol, 7.7.1980; 1 Zeichnung (wahrscheinlich von Amina Handke) mit Peter Handke abgebildet und einem Blumensticker; 1 Antwortschein, 30.5.1980
Bildende Kunst
Literatur