Sinnliche Gewißheit

Foto

Sinnliche Gewißheit. Roman.
Hier abgebildet die 1. Auflage der Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von 1996 (= zweite, revidierte Auflage des 1988 im Rowohlt Verlag erschienenen Romans).

Die Roman-Figur Roman ist Lektor für Germanistik an einer Universität in Sao Paulo. Über seine Erfahrungen heißt es (S. 239f.):

Sind ja alles Deutsche oder Abkömmlinge von Deutschen da am Institut, sagte ich. Und du kannst dir nicht vorstellen, was für ein patziger Herrenmenschenirrsinn da herrscht. Nur um dir ein Beispiel zu geben: ich komm zur Sitzung, und wie wir uns also alle so niedersetzen, seh ich, daß ein Sessel fehlt. Ich sage, daß ich schnell einen holen gehe. Sagt eine andere Professorin: Was holen Sie? Sage ich: Einen Sessel! Darauf sie: Das heißt Stuhl - na ja, Sie werden schon noch Deutsch lernen bei uns!
Norbert lachte.
Verstehst du, sagte ich, für die sind Österreicher ein schlapper Haufen, der nicht einmal richtig Deutsch kann, aber die Deutschen werden sie schon auf Vordermann bringen. Diese Mentalität steckt dahinter.
Das heißt nicht Sessel, das heißt Stuhl. Das ist doch idiotisch, das ist doch dasselbe wie Schlagobers und Schlagsahne, oder Paradeiser und Tomaten.
"Moment mal, da ist schon ein Unterschied", sagte Norbert, "also ein Stuhl, das ist ein Stuhl, nicht wahr, so ein Holzstuhl, verstehste, was Primitives, ein Sessel ist irgendwie bequemer, gepolstert zum Beispiel, also ein Sessel eben, mit Armlehnen, bequemer, alles klar?"
Ich faßte es nicht. Ich war nach Jahren des Studiums zum Sprachlehrer verkommen, und nun wollte mich auch noch ein Import-Export-Kaufmann in die Feinheiten der Sprache einführen. Nein, sagte ich, das verstehe ich nicht. Darum sagt man ja auch Sessellift, weil dieser bekanntlich so gut gepolstert ist, während der Heilige Stuhl hingegen eine besonders dürftige und primitive Sitzgelegenheit ist, oder wie?

Übersicht: Menasse, Robert

[<– Zurück]


last update 29.04.2014