Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung
Zum 75. Jahrestag des  „Anschlusses“ zeichnet die Österreichische Nationalbibliothek in der Ausstellung  „Nacht über Österreich“ eine Chronologie der damaligen Ereignisse. Gezeigt  werden eindrückliche Fotos, persönliche  Erinnerungen und literarische Reaktionen derjenigen, die – wie der  Schriftsteller Ernst Jandl – den Einmarsch Hitlers 1938 miterleben mussten.  Demgegenüber stehen die Lebensgeschichten jener jüdischen KünstlerInnen, die  rechtzeitig ins rettende Exil fliehen konnten, unter ihnen die Autoren Albert  Drach und Erich Fried, der Schönberg-Schüler Egon Wellesz, die Malerin Soshana und  die Salonière Berta Zuckerkandl, deren „Fluchttagebuch”  erstmals öffentlich zu sehen ist.
              Zusammengetragen  aus den einzigartigen Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek,  dokumentiert „Nacht über Österreich“ mit rund 200 Exponaten umfassend und  materialreich eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Landes. 
Heim ins Reich:  Propagandaschlacht am Heldenplatz
                Am 15. März 1938  hielt Adolf Hitler seine berühmt-berüchtigte „Anschluss”-Rede. Und zwar auf  jenem Balkon am Wiener Heldenplatz, unter dem sich heute der Haupteingang zur  Österreichischen Nationalbibliothek befindet. Der Fotograf Herbert Glöckler  befand sich damals inmitten der Menge, er hatte die zum „Hitlergruß”  ausgestreckten Hände direkt vor seinem Objektiv. Sein Foto – es ist das  Plakatmotiv von „Nacht über Österreich” – erweckt den Anschein, als befände  sich der Bildbetrachter auf Augenhöhe mit den begeisterten Anhängern Hitlers.  Es zählt zu jenen verstörenden  Fotografien dieser Ausstellung, die den „Anschluss” aus der selten gesehenen Perspektive  der jubelnden Menge zeigen. 
                250.000  Menschen hörten an diesem 15. März ihrem neuen Führer zu, wie er mit sich  überschlagender Stimme „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich”  verkündete.
                Ein  dokumentarisch anmutender Wochenschau-Bericht zeugt in „Nacht über Österreich”  von den hochgepeitschten Emotionen, aber auch von einer durchinszenierten  Massenveranstaltung der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. Eine  Propaganda, die zum Ziel hatte, den „Anschluss” als eine freiwillige  Volksbewegung von unten darzustellen. Zeitgeschichtliche Hintergünde wie die  innenpolitischen Krisen der Ersten Republik, der politische Druck Deutschlands  oder Versuche, die Eigenständigkeit Österreichs zu bewahren, kamen in der  medialen Inszenierung des „Anschlusses” selbstverständlich nicht vor. Ein bewusster  blinder Fleck der nationalsozialistischen Propaganda, der durch Presse- und  Dokumentarfotografien aus der Zeit von 1918 bis 1938 in der Ausstellung schlaglichtartig  sichtbar gemacht wird.
              Die  Anschlusspropaganda veränderte Österreich. Hakenkreuzfahnen, Hitlerbilder,  Plakate und Parolen sowie eine gleichgeschaltete Presse schufen eine  allgegenwärtige Sichtbarkeit des neuen Regimes. Im Vorfeld der für den 10.  April angesetzten Volksabstimmung, die den Einmarsch Hitlers legitimieren  sollte, wurden allein in Wien 120  Wahlveranstaltungen abgehalten und in  ganz Österreich mehr als 12 Millionen Reichsmark (ca. 53 Millionen Euro) für  Wahlwerbung ausgegeben. Auch viele KünstlerInnen beteiligten sich an der  Propaganda mit Bekenntnissen, Lobgedichten oder Huldigungskompositionen. Die  Propagandaschlacht hatte Erfolg: 99,73 Prozent stimmten für den „Anschluss”.  Doch acht Prozent der Wahlberechtigten hatten keine Stimme: Jüdinnen und Juden,  sogenannte „Mischlinge” und politisch Inhaftierte.
Flucht ins Ungewisse: 15  Wege ins Exil
                Unmittelbar nach  dem „Anschluss” begannen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung  Österreichs. Jüdinnen und Juden wurden öffentlich beschimpft, Geschäfte mit dem  Davidstern bemalt, es kam zu Plünderungen, Beschädigungen und Raub von jüdischem  Eigentum. Die Kamera war oftmals Teil dieser Demütigungen, die gezielt für den  Fotografen in Szene gesetzt wurden. Albert Hilschers Foto eines Jugendlichen,  der von einem zufrieden grinsenden SA-Mann gezwungen wird, das Wort „Jud” an  eine Hauswand zu schreiben, ist eines dieser erschütternden Bilddokumente der  Ausstellung. 
                Wer konnte, wagte die Flucht. „Nacht über Österreich” zeichnet anhand  einzigartiger Originaldokumente 15 exemplarische Wege ins Exil detailliert  nach. Elazar Benyoëtz, Käthe Braun-Prager, Dol und Robert Dauber, Albert Drach,  Bruno Frei, Egon Friedell, Erich Fried, Hans Gál, Erich Wolfgang Korngold,  Robert Neumann, Hertha Pauli, Adolf Placzek, Soshana, Egon Wellesz und Berta  Zuckerkandl – diese jüdischen MusikerInnen, SchriftstellerInnen und  WissenschaftlerInnen stehen für die vielen anderen, die fliehen konnten, deren  Einzelschicksale aber kaum mehr rekonstruierbar sind. 
                Für alle von ihnen war der „Anschluss” ein  traumatisches Erlebnis. „Kalt wurde es mir, und ich bekam furchtbare Angst”, erinnert sich die damals elfjährige Soshana  an den Anblick Hitlers und der fanatisierten Massen. Diese Kälte sollte sie  ein Leben lang begleiten: Auf ihrer Flucht und späteren Reisen hatte sie stets  mehrere Wolldecken bei sich. Ihre erhalten gebliebenen Kinderzeichnungen von  1938 zeigen auf erschreckende Weise, wie die Angst vor Hitler ihre Kindheit  bestimmte. 
                Flucht bedeutete Rettung, aber auch  Verlust: von Eigentum, Heimat und von geliebten Menschen. Entsetzt schreibt der 17-jährige Erich Fried 1938 im Londoner  Exil in das Familienalbum: „Vater tot, Mutter im Kerker und ich im nebligen  England / Großmama blind in Wien,  rechtlos, arm, alt, gejagt / Seht, das ist Hitlers Werk, das ist das neue  Jahrhundert”. Frieds Albumeintrag ist in „Nacht über Österreich” ebenso  nachzulesen wie der naiv anmutende Tagebucheintrag  des späteren Architekturhistorikers Adolf Placzek, der kurz vor dem „Anschluss”  noch mit seiner Freundin den Opernball besuchte: „Nur einen Wunsch: diese Frau  zu heiraten” – erst bei den Vorbereitungen zu seiner Flucht wird ihm bewusst,  dass er sie nie wiedersehen wird. Die ausgestellten Opernballkarten hat er sein  Leben lang aufbewahrt.
                Wer  flüchtete, begab sich auf eine lebensgefährliche Reise ins Ungewisse. Außergewöhnliche  Dokumente der Ausstellung belegen dies auf eindrückliche Weise: wie der Fluchtplan der Schauspielerin Hertha Pauli,  die den Nazis auf Schmuggelrouten über die Pyrenäen entkommen konnte; oder der Heimatschein des Schriftstellers Albert Drach, der für sein  Überleben mitentscheidend war. Drach gelangte über die Stationen Split, Triest  und Paris 1939 nach Nizza. 1942 war er im Lager Rivesaltes interniert. „Hier  werden”, so schrieb er später, „alle Krematoriumsanwärter gesammelt, sondiert  und exportiert.” Um nicht deportiert zu werden, ging Drach in die Offensive: Er  sei gar kein Jude, sondern Katholik. Zum Beweis legt er einen Heimatschein der  Gemeinde Wien vor, auf dem sich die Abkürzung „I.K.G.” für „Israelitische  Kultusgemeinde” findet. Drach übersetzte sie mit „Im Katholischen Glauben” –  und wurde letztlich aus dem Lager entlassen. Unter aberwitzigen Umständen, als  Eislauflehrer, Pilzesammler und Übersetzer überlebte er den Krieg in der  südfranzösischen Provinz.
                Von  den abenteuerlichen Wendungen einer Flucht berichtet auch das eindrucksvollste  Dokument der Ausstellung: das  handschriftlich verfasste „Fluchttagebuch” der Wiener Journalistin und Salonière  Berta Zuckerkandl. Es wurde der Österreichischen Nationalbibliothek erst  vor Kurzem von Zuckerkandls in den USA lebendem Enkel Emile übergeben und wird  nun zum ersten Mal der Öffentlichkeit  präsentiert. Auf 32 Manuskriptseiten beschreibt die 76-jährige Zuckerkandl  eindringlich und berührend die Stadien und Strapazen ihrer Flucht, die sie  schließlich ins nordafrikanische Algier führte. 
                Doch  nicht allen gelang die Flucht. Dies zeigt ein weiteres, beklemmendes Original,  das im die Ausstellung begleitenden Katalog zu finden ist. In behördlicher  Maschinenschrift notierte ein SS-Hauptsturmführer am 23. Mai 1938: „Friedell, Jude, hat in   Wien Selbstmord begangen.” Der Schriftsteller, den Berta  Zuckerkandl als ihren besten Freund bezeichnete, hörte an der Türschwelle die  Frage, ob hier der Jude Friedell wohne – und stürzte sich aus dem Fenster. Friedells  Abreißkalender mit seinem Todesdatum erinnert in „Nacht über Österreich” an  diesen tragischen Tag.
Heldenplatz revisited: Ernst  Jandl und Thomas Bernhard
                Durch Flucht,  Vertreibung und Ermordung Tausender vor allem jüdischer Bürgerinnen und Bürger  erlitt Österreich einen kulturellen Rückschlag, von dem es sich nie wieder ganz  erholen konnte. Gleichzeitig wurden der begeisterte Empfang, der Hitler im März  1938 von allzuvielen bereitet wurde, sowie die Mitschuld von Österreicherinnen  und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus über Jahrzehnte  verdrängt.
                Es waren vor allem die österreichischen  SchriftstellerInnen, die sich mit diesem dunklen Kapitel in der Geschichte des  Landes und dem als bequeme Entschuldigung vorgeschobenen „Opfermythos”  auseinandergesetzt haben. „Nacht über  Österreich” lässt zwei der bekanntesten Kritiker einer fehlenden  Geschichtsaufarbeitung zu Wort kommen: Ernst Jandl und Thomas Bernhard. 
                Der  Dichter Ernst Jandl, im März 1938 selbst Ohrenzeuge des Chors fanatischer  Stimmen, antwortete in seinem berühmtesten Gedicht „wien : heldenplatz” auf die  hysterischen Verkündigungen des Führers mit den Mitteln experimenteller Poesie.  Jandl spricht von einer „aufs bluten feilzer stimme” und einem „hünig sprenken  stimmstummel”. Er ist in der Ausstellung zu hören und zu sehen, wie er sein  Gedicht in einem TV-Beitrag vorträgt und kommentiert.
                Ebenfalls  zu sehen: Ausschnitte aus Thomas Bernhards Drama „Heldenplatz”, das bei seiner  Uraufführung 1988 im Wiener Burgtheater einen in der österreichischen  Theatergeschichte einzigartigen Skandal auslöste. Das Stück über einen  jüdischen Gelehrten, der kurz vor seiner neuerlichen Emigration Selbstmord  begeht, konnte nur unter Polizeischutz aufgeführt werden und rechtsgerichtete  Demonstranten luden einen Misthaufen vor der ausverkauften Burg ab. 
                Doch  auch viele der vertriebenen KünstlerInnen meldeten sich zu Wort. Die Malerin  Soshana fertigte Ende der 1980er Jahre Collagen an, in die sie, beeinflusst von  der Waldheim-Affäre,  nationalsozialistische Propagandatexte einbaute. Käthe Braun-Prager und Robert  Neumann verarbeiteten ihre Emigration mehrfach literarisch, Albert Drach sorgte  1966 mit seinem autobiografischen Roman „Unsentimentale Reise” für Aufsehen,  Adolf Placzek schrieb in „Wiener Gespenster”über das Fremdsein im Exil und Hertha Paulis „Der Riss der Zeit geht durch  mein Herz” gilt als eines der besten Bücher über den „Anschluss” Österreichs. 
Wer heute, 75 Jahre nach Hitlers Rede, den Eingang der Österreichischen Nationalbibliothek am Heldenplatz betritt, kann hier diese zentralen Werke der Exilliteratur nachlesen. „Nacht über Österreich” macht die Lebensgeschichten und Schicksale dahinter wieder lebendig – und erinnert die Gegenwart daran, sie nicht zu vergessen.
Ort
Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek 
		          Josefsplatz 1, 1010 Wien
Dauer
7. März – 28. April 2013
Öffnungszeiten
Dienstag – Sonntag 10 – 18 Uhr
		          Donnerstag 10 – 21 Uhr
Eintritt
€ 7,–
                Ermäßigungen siehe hier
Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre haben freien Eintritt in alle musealen Bereiche. 
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Führungen
Prunksaal und Ausstellung:
		          Zum Preis von € 4,– jeden Donnerstag um 18 Uhr sowie 
		          nach Vereinbarung unter
		          Tel.: (+43 1) 534 10-464, -261
		          Treffpunkt an der Prunksaalkasse 
Katalog
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog: € 19,90
Erhältlich an der Prunksaalkasse



