Tanzenberg, Internat (1954-1959)
Während seines zweiten Hauptschuljahrs in Griffen wechselte Peter Handke 1954 »auf eigenen Wunsch« und nach bestandener Aufnahmeprüfung in das bischöfliche Knabenseminar des humanistischen Gymnasiums Tanzenberg mit dem Marianum, einem katholischen Knabeninternat für die Priesterzöglinge bei Maria Saal in Kärnten. Er wohnte dort fünf Jahre lang bis er 1959 mitten im Schuljahr in ein Gymnasium in Klagenfurt wechselte. Im Internat gab es keine Privatsphäre, »in den Schlafsälen standen damals noch fünfzig Betten, kein Platz für sich, sogar das gemeinsame Ausgehen wurde bewacht.« (Höller 2007, S. 22) Die Internatszeit findet sich in vielen Werken Handkes, auch bereits in den frühen Erzählungen oder Theaterstücken. In Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) heißt es: »Im Internatssystem war man von der Außenwelt fast abgeschnitten, und doch brachte es mir gerade durch die Vielzahl der Verbote und Verneinungen weit mehr Erlebnismöglichkeiten bei, als ich in der Außenwelt, in einer üblichen Umgebung, hätte lernen können. So fing die Phantasie zu plappern an, bis ich fast idiotisch wurde.« (DBA 34) In der biographischen Erzählung Die Wiederholung (1986) sind dem Erzähler Filip Kobal »[d]ie fünf Jahre im Internat […] eine Erzählung nicht wert. Es genügen die Wörter Heimweh, Unterdrückung, Kälte, Gemeinschaftshaft.« (DW 33) Auch indirekt findet sich das Internat bei Handke immer wieder: in der Rebellion gegen die Bevormundung und Unterdrückung im bäuerlich-katholischen Milieu in Das Mündel will Vormund sein (1968) oder im Theaterstück Das Spiel vom Fragen (1989), wo der Einheimische sein Fremdsein auf die »fünf Jahre, zwei Monate und drei Tage« in der »Jugendstrafanstalt« (DSF 57) zurückführt. In seinem Journal Gestern unterwegs (2005) schrieb Handke dazu am 24. Dezember 1987: »Oft, daß ich denke: "Im Internat bin ich vernichtet worden" (sind wir alle vernichtet worden)« (GU 57). Zuletzt erwähnte Handke das Internat in seinem Versuch über den Stillen Ort (2012) – wo er das »Klosett« als einzigen Platz im Internat beschreibt, an welchem er für sich sein konnte: »Das Klosett, und nicht nur dies eine in dem Gelände, bedeutete für mich während der Jahre im geistlichen Internat einen möglichen Asylort, wenn ich mich zu dem auch mehr geflüchtet habe.« (VSO, 21)
Im Internat begann nicht nur seine »Phantasie zu plappern«, Handke schrieb und veröffentlichte auch seine ersten literarischen Texte in der von Hans Widrich gegründeten deutschsprachigen Schülerzeitschrift Fackel. In seinem frühen Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms erklärt er: »Die scheinbare AUSSENWELT, in der ich lebte, das Internat, war eigentlich INTERN, eine äußerlich gewendete INNENWELT, und das eigene Innere war die einzige Möglichkeit, ein wenig an die AUSSENWELT zu gelangen.« (IBE 16) »In einem Turmzimmer des Stifts soll Handke auf einer alten Schreibmaschine seine ersten Texte getippt haben.« (Höller 2007, S. 23; siehe auch Haslinger 1992, S. 37) Zwei dieser Texte wurden 1959 auch, nachdem sie bei einem Schülerwettbewerb ausgezeichnet wurden, in der Klagenfurter Volkszeitung veröffentlicht. Über diesem Turmzimmer gab es eine Terrasse, wo einzelne Schüler, denen der Zugang erlaubt war, lesen konnten. (kp)