Entstehungskontext
Noch im Laufe seiner Arbeit an Die linkshändige Frau ab November 1975 begann Peter Handke in seinen Notizbüchern zu einer »Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen« zu wechseln. Die ab November 1975 geführten Notizbücher wertete Handke für sein Journal Das Gewicht der Welt zwar aus, doch erst das von 17. Jänner bis 22. Februar 1976 entstandene Notizbuch mit dem Titel »Die linkshändige Frau« belegt ein schrittweises Abgehen von einem bis zu diesem Zeitpunkt praktizierten thematischen, werkorientierten Notieren. Diesen Übergang bezeichnete Handke in der Vornotiz zu Das Gewicht der Welt, in der er die Entwicklung des ersten Journalprojekts erklärt, als »Befreiung von gegebenen literarischen Formen und [...] Freiheit in einer mir bis dahin unbekannten literarischen Möglichkeit« (DGW 5).
Die Journaleinträge entstanden parallel zu seiner Arbeit an anderen Werkprojekten und sind daher mit Textelementen aus diesen durchsetzt. So sind etwa Aufzeichnungen für ein noch in den frühen Notizbüchern des Jahres 1975 geplantes stummes Stück und für die Erzählung Die linkshändige Frau im Journal verarbeitet. Darüber hinaus betont Handke in seiner Vornotiz, dass »äußere Ereignisse [...] nie ausgeführt, aber in der Reportage der Sprachreflexe auf solche Ereignisse jedenfalls durchscheinend« seien (DGW 6): in den Entstehungszeitraum der Notizbücher fallen mehrere einschneidende biografische Ereignisse: der Tod Rolf Dieter Brinkmanns 1975, Handkes eigener Krankenhausaufenthalt in der letzten Märzwoche 1976 und sein Umzug nach Clamart im Spätsommer 1976. (vgl. Höller 2007, S. 80-81)
Es ist nicht belegt, wann und unter welchen Voraussetzungen Peter Handke erstmals den Entschluss zur Veröffentlichung seiner Notizen fasste. Da das Notizbuch »Eine Woche im März« vom 5. bis 15. März 1976 formal das erste ist, das er konsequent als Journal des »zweckfreien Wahrnehmens« führte, könnte die Projektidee in diesem zeitlichen Umfeld entstanden sein. Es enthält auch die früheste nachgewiesene Notiz, aus der der Titel des Journals hervorgegangen sein könnte: »Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: "Die konkrete Poesie", "Andy Warhol", und dann Marx & Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr erschüttern als das Gewicht der Welt« (DLA, A: Handke Peter, Notizbuch: 002, S. 8).
Für Das Gewicht der Welt bilden insgesamt 14 Notizbücher beginnend im November 1975 bis zum März 1977 das Ausgangsmaterial, aus dem Handke Journaleinträge gezielt auswählt, vieles weglässt und durch Neuformulierungen abändert. Das vollständige Typoskript, das zugleich erste Textfassung und Satzvorlage für den Verlag war, entstand in zumindest zwei größeren Arbeitsetappen. Für die 89 Blatt umfassende erste Hälfte des an den Residenz-Verlag gesendeten Typoskripts schrieb er Notizen bis inklusive 8. Mai 1976 ab. Die Journaleinträge von 20. Mai 1976 bis 29. März 1977 wählte Handke in einer zweiten Etappe aus, es ist nicht genau belegbar, ob er kontinuierlich aus seinen Notizbüchern abschrieb oder diese Abschriften erst gesammelt im Frühjahr 1977 anfertigte. Nach Vorliegen der ersten Fassung wurden im Juni 1977 die Druckfahnen hergestellt, an denen Handke weitere umfassende Bearbeitungen vornahm. Ein Datumsvermerk »ein: 24.7.1977« auf dem Titelblatt der Druckfahnen bezeichnet wahrscheinlich den Eingang der mit Handkes Anmerkungen versehenen Fahnen beim Verlag.
Als Quellen für die Entwicklung der Journal-Idee liefern publizierte und in Archiven vorhandene Korrespondenzen wertvolle Hinweise. In einem Brief am 30. April 1976 erwähnte Handke das Projekt seinem Verleger Siegfried Unseld gegenüber erstmals: »Ich bin am Abtippen meiner Notizen aus den letzten 2 Monaten; das werden 200 Seiten werden; ich hätte es gern einmal als Taschenbuch publiziert, Titel: "Das Gewicht der Welt"; Untertitel: "Materialien zu nichts Bestimmtem (oder: Besonderem)".« (Handke / Unseld 2012, S. 306-307) Seinem Freund Alfred Kolleritsch sandte er mit ähnlichem Wortlaut am 3. Mai 1976 Teile aus den Notizbuchabschriften zur Veröffentlichung in den manuskripten, die in der Nummer 52 unter dem Titel Auszüge aus: Das Gewicht der Welt. Notizen zu nichts Bestimmtem erschienen: »Was ich Dir schicke, habe ich einfach aus meinen Notizen abgeschrieben, die ich seit über zwei Monaten täglich und sozusagen gewissenhaft mache. Ich möchte sie gern einmal als Taschenbuch erscheinen lassen, und es werden am Schluss so zweihundert Seiten sein. Titel: Das Gewicht der Welt. Untertitel: Materialien zu nichts Bestimmtem. Es ist eine Art Notizbuch, aus dem sich jeder seinen eigenen Lebenslauf zusammenstellen kann [...]« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 98-99).
Einige Monate später, am 4. Oktober 1976, erhielt Kolleritsch weitere Abschriften mit Journalnotizen zusammen mit der Bitte: »Sag mir noch einmal, ob Du es für möglich hältst, daß daraus ein Buch gemacht wird. Ich brauche hier einmal wirklich einen Rat.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 100) Die Notizen erschienen Ende 1976 im Heft manuskripte 54 unter dem Titel Materialien zu nichts Bestimmtem (Folge)). An den Residenz Verlag dürfte Handke mit seiner Buchidee im Herbst 1976 herangetreten sein. Jochen Jung, sein Lektor, bezog sich in einem Brief vom 25. Dezember 1976 auf vorangegangene Briefwechsel sowie auf seine Lektüre der in den manuskripten vorab veröffentlichten Auszüge und bestärkte den Autor auf zwei Seiten ausdrücklich in seinem Buchvorhaben (vgl. ÖLA SPH/LW/Briefe/Jung, Jochen). In einem weiteren Brief vom 23. Februar 1977 hatte Jung das bis dahin vorliegende (Teil-)Manuskript bereits gelesen und bezeichnete es als »AUSSERORDENTLICH. Wenn es Bücher gibt, die einen kalt lassen, oder solche, die einen heiß machen, so ist dies eins, das einen wärmt.« (ÖLA SPH/LW/Briefe/Jung, Jochen) Auf der Rückseite dieses Briefes schrieb Handke seine ersten Stichworte für die dem Journal vorangestellte »Vornotiz«, die er dem vollständigen Typoskript beilegte.
Zum Titel Das Gewicht der Welt verweist Rolf Günter Renner auf eine Formulierung Sartres in Das Sein und das Nichts. (vgl. Renner 1985, S. 154-155) Dort ist die Rede vom Menschen als Atlas, der das Gewicht der ganzen Welt auf seine Schultern nimmt. (Sartre: Das Sein und das Nichts, Rowohlt 1991, S. 696) Der Ausdruck »Das Gewicht der Welt« könnte allerdings auch dem »Tragen des Universums« bei Emmanuel Lévinas entlehnt sein (vgl. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht 1992, S. 257 bzw.: Autrement qu’être ou au‐delà de l’essence 1974, S. 147: »Le Soi est Sub‐jectum: il est sous le poids de l’univers – responsable de tout«), die tatsächliche Genese des Titels ist jedoch nicht eindeutig nachgewiesen.
Die Titelgebung für das Journal variierte im Entstehungszeitraum zwischen 1976 und 1977. Nachdem Handke den Ausdruck Das Gewicht der Welt in einer Notiz vom 5. März 1976 erstmals festhielt, erwähnte er diesen in seinen Briefen an Unseld und Kolleritsch Ende April bzw. Anfang Mai. Zwei Notizbücher von 16. September 1976 bis 10. Jänner 1977 beschriftete Handke mit dem neuen Projekttitel »Phantasien der Ziellosigkeit«. Jochen Jung äußerte sich zu diesem Vorschlag in seinem Brief vom 25. Dezember 1976 ausführlich: »Der neue Titel ist – wie wirklich alle Ihre Titel – sehr schön erfunden; richtiger im Sinne dessen, was ich oben gemeint habe, (und auch sehr schön) scheint mir jedoch der alte Titel "Das Gewicht der Welt". Der neue rückt das Ganze für mich um eine Spur zu sehr ins Unsicher-Unverbindliche, er klingt wie eine Vorsichtsmaßnahme. Der alte hingegen drückte entschiedener das aus, was die Notizen für mich so faszinierend macht, nämlich daß sie nichts Ausgedachtes und Behauptetes sind, sondern Gesehenes, Geschmecktes, Erlittenes.« (ÖLA SPH/LW/Briefe/Jung, Jochen) In der Folge betitelte Handke die nach diesem Brief begonnenen Notizbücher nicht mehr nach dem Journal. Das Deckblatt zur ersten Textfassung war ursprünglich mit »DAS GEWICHT DER WELT [/] Erlebnisse der Ziellosigkeit« beschrieben, eine Art Synthese aus den bis dahin verwendeten Titelentwürfen. Der Untertitel wurde mit Bleistift durchgestrichen. Auf den im Juni 1977 hergestellten Druckfahnen für die im Residenz Verlag erschienene Erstausgabe wurde als neuer Untertitel »Phantasien der Ziellosigkeit« zuerst handschriftlich ergänzt und danach ebenfalls wieder durchgestrichen. Die endgültige Entscheidung für »Das Gewicht der Welt« dauerte demnach bis kurz vor der Drucklegung.
Mit seiner Entscheidung, das Journal im Salzburger Residenz Verlag zu veröffentlichen, sorgte Handke für Verstimmung bei seinem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der am 14. Juni 1977 in einem Brief mitteilte: »Und ich bin zutiefst erschrocken, daß jetzt der Residenz Verlag "Das Gewicht der Welt. Journal 1975-1977" anzeigt. [...] mit Deiner Entscheidung hast Du dem Verlag und mir Schaden zugefügt.« Handkes Vorschlag, eine Gemeinschaftsausgabe von Residenz Verlag und Suhrkamp zu drucken, war zuvor aufgrund gegenseitiger telefonischer Missverständnisse mit Unseld gescheitert. Am 5. Juli 1977 fand zwischen beiden ein klärendes Gespräch in Frankfurt statt. (Handke / Unseld 2012, S. 318-323)
Siegfried Unseld las das Buch, den Aufzeichnungen seiner Chronik zufolge, ab dem 11. September 1977 und teilte Handke am 21. Oktober mit, dass der Suhrkamp Verlag ein Angebot für eine Taschenbuchausgabe in der Startauflage von 50.000 Stück an Wolfgang Schaffler (den Leiter des Residenz Verlags) gerichtet habe. (Handke / Unseld 2012, S. 325 und S. 328). Für die Veröffentlichung des Taschenbuchs wurde März/April 1979 angestrebt und Handke unterstützte diesen Wunsch Unselds durch direkte Interventionen bei Schaffler. (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 334 und S. 337) Dieser stimmte zu unter der Voraussetzung, »daß das Taschenbuch noch nicht in den Herbstbroschüren 1978 angekündigt wird« (Handke / Unseld 2012, S. 340) Für die Taschenbuchausgabe von Das Gewicht der Welt, die 1979 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde, unternahm Handke noch einige Streichungen und Korrekturen in ein Exemplar der Erstausgabe. Dieses übergab er am 15. September 1978 in Frankfurt der Sekretärin Siegfried Unselds, Burgel Zeeh. (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 335) In einem ergänzenden Kommentar bemerkte Handke: »Außerdem: ich hätte das Buch gern in "Phantasie durch Ziellosigkeit" umgetauft, gemäß der Notiz vom 27. Oktober 1976. Wer mag, möge das Buch für sich so nennen.« Dieser Wunschtitel war Handke für die Erstauflage im Residenz Verlag »vom Lektor aber leider ausgeredet« worden, für das Taschenbuch unternahm er am 3. Februar 1978 einen neuen Anlauf: »Ich hätte es vielleicht nur nicht "Journal" nennen sollen im Untertitel, sondern, wie ich es vorhatte, "Phantasie der Ziellosigkeit", was mir als Haupttitel vorschwebte [...]. Ich würd es gern als Untertitel fürs Taschenbuch einsetzen.« (Handke / Unseld 2012, S. 337) – Doch auch für das Taschenbuch lautete der endgültige Untertitel: »Ein Journal (November 1975 – März 1977)«. (ck)
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