Entstehungskontext

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Kindergeschichte ist der dritte Teil eines ursprünglich unter dem Arbeitstitel »Ins tiefe Österreich« konzipierten Schreibprojekts, aus dem schließlich eine Tetralogie mit Langsame Heimkehr, Die Lehre der Sainte-Victoire, Kindergeschichte und Über die Dörfer hervorging. Der Text schließt inhaltlich an Die Lehre der Sainte-Victoire an, die mit den fragenden Worten endet: »Zu Hause das Augenpaar?« Mit diesem Schlusssatz ist ein Bezug auf das (namenlose) Kind hergestellt, dessen »strahlendes Augenpaar« dann den Mittelpunkt von Kindergeschichte bildet. Der in Salzburg verfasste Text verweist wesentlich auf den Zeitraum von 1969 bis 1979, den Handke zusammen mit seiner Tochter Amina bis 1973 in Deutschland (Kronberg) und danach in Frankreich (Paris) verbrachte, ehe er zusammen mit ihr im August 1979 – nach seiner längeren USA-Reise – dauerhaft nach Salzburg übersiedelte. Einige Projektnotizen, die Handke ab Juli 1979 mit wechselnder Häufigkeit der Kindergeschichte widmet, sind konkret auf seine Tochter bezogen, die in solchen Fällen mit der Abkürzung »A.« bezeichnet wird. Die Geburt und der zehnte Geburtstag des Kindes bilden den zeitlichen Erzählrahmen, für dessen Bewältigung Handke formale Anleihen bei der Geschichtsschreibung des Thukydides (Der Peloponnesische Krieg) nahm, da er nicht, wie in früheren Texten »Tag um Tag erzählen« wollte (vgl. Handke/Gamper 1987, S. 75-76). Doch auch die Beschäftigung mit seiner eigenen Kindheit spielt für die Entwicklung und die Konzeption von Kindergeschichte eine entscheidende Rolle und bleibt prägend für zahlreiche danach entstandene Werke.

Die Erstfassung von Kindergeschichte schrieb Handke im Juni und Juli 1980, der als Buch veröffentlichte Text enthält als Verweis auf den Entstehungszeitraum die Datierung »Salzburg, Frühjahr und Sommer 1980«. Die Entwicklung und die Vorarbeiten zu Kindergeschichte überschneiden sich mit mehreren Werkprojekten in unterschiedlicher Intensität: mit Langsame Heimkehr (erschien am 6. September 1979), mit Die Lehre der Sainte-Victoire (erschien am 15. September 1980), mit den ersten Notizen zu Über die Dörfer (1981) sowie mit den Journaleinträgen für Die Geschichte des Bleistifts, die 1982 veröffentlicht wurde. Handke notiert auch regelmäßig für sein langfristiges Projekt Die Wiederholung. Kindergeschichte erschien 1981 im Suhrkamp Verlag in silbernem Einband mit schwarzer Schrift – in einem Notizbucheintrag vom 6. Juli 1980 hatte Handke noch überlegt: »Einbandtitel der Kg.: Gold (auf Ultramarin)«.
Die derzeit früheste nachweisbare Stelle, an der Handke seine Idee zu dem Schreibprojekt nennt, ist ein Notizbucheintrag vom 2. April 1979, als er sich als Besucher in Salzburg befindet. Erst ab dem Notizbuch, das er von 9. Juli – 6. November 1979 führte, beginnt Handke, lose Aufzeichnungen, Ideen und Beobachtungen zum Kindheits-Thema festzuhalten. Auch in den folgenden beiden Notizbüchern sind kontinuierliche Einträge zu Kindergeschichte zu finden, die am 10. Dezember 1979 für mehrere Monate gänzlich aussetzen, da Handke von Dezember 1979 – März 1980 nahezu ausschließlich zu anderen Werkprojekten (vor allem Die Lehre der Sainte-Victoire, aber auch Über die Dörfer) notiert.
Erst sieben Tage nach Beendigung der Erstfassung von Die Lehre der Sainte-Victoire greift er am 19. April 1980 das Projekt Kindergeschichte wieder auf und notiert: »Ja, und jetzt die Kindergeschichte«. Handke bleibt aber vorerst weiterhin bei der Sammlung von Projektnotizen, die von April bis Juni kontinuierlich mit Korrekturen und Überarbeitungen zu Die Lehre der Sainte-Victoire einhergehen.
Während er am 2. Juni noch notierte: »ich lese die Fahnen der "Sainte-Victoire"«, zeichnete sich eine zunehmende Konkretisierung seiner Vorüberlegungen zu Kindergeschichte ab: »die "Kindergeschichte" muß eine (unauffällige) Dramatik haben, es darf kein Bild sein, sondern muß eben eine Geschichte sein; die Dramatik: die Geschichte muß schwanken zwischen Gefahr und Hoffnung, dem Tragischen und dem Tröstlichen (so wie ich eben von Anbeginn das Kind gesehen habe)« (5. Juni). Nach einer rund einjährigen Zeit des Notierens, am 9. Juni, begann er mit der Niederschrift von Kindergeschichte: »(heute "Kindergeschichte" angefangen)«. Handke befindet während dieser Zeit in Salzburg. Die Notizbucheinträge, die einen expliziten Bezug zu Kindergeschichte aufweisen, nehmen ab Anfang Juni 1980, mit Handkes Arbeitsbeginn an der Erstfassung, signifikant zu.
Am 22. Juli 1980 beendete Handke die Arbeit am Typoskript, indem er auf diesem notierte: »22. Juli 1980, 12h Mittag«. Auch in seinem Notizbuch dokumentierte er den Abschluss der Erstfassung – offenbar eine Stunde verzögert: »"Kindergeschichte" abgeschlossen (13h); und jetzt "Über die Dörfer" (ab Spätherbst?)«. Das Buch erschien laut Verlagsangaben am 17. Februar 1981 bei Suhrkamp. (ck)

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