Chaville bei Paris
Seit Sommer 1990 lebt Peter Handke in einem Haus in Chaville, südwestlich von Paris, in der Nähe des Vorortes Clamart, wo er bereits in den Jahren 1976 bis 1978 gewohnt hatte. Es ist sein insgesamt vierter Wohnsitz in oder in der Umgebung von Paris und zugleich seine erste Niederlassung, seit er 1987 die Wohnung auf dem Salzburger Mönchsberg aufgegeben und sich danach für rund drei Jahre nahezu durchgehend auf Reisen befunden hatte. Siegfried Unseld gegenüber kommentiert er diese Veränderung mit den Worten: »Und ich hause, seit etwa 9. November 1987 erstmals wieder, und staune. Aber habe ich nicht dazwischen auch gehaust, im Gehen und Schreiben?« (Handke / Unseld 2012, S. 563)
Seine Bewegung aus dem Zentrum in die Vorstadt vor Paris zeichnet er im Gespräch mit Peter Hamm nach: »[...] irgendeinmal [...] hatte ich von der Stadtmitte genug [...] und dann hatte ich von den Zwischenbezirken genug [...]. Und dann fand ich den Rand am schönsten [...]. Und dann irgendeinmal kam ich zufällig in die Vorstadt, die mich immer, eigentlich in allen Städten der Welt [...] sehr befremdet hat; irgendeinmal kam ich auf Wohnungssuche in die Vorstadt und dachte: warum nicht einmal da nachschauen zumindest, wie das aussieht [...] und bin dahin gekommen und habe gedacht: Ja!« (Handke / Hamm 2006, S. 24-25) Leopold Federmair beschreibt Handkes Wohnort in seinem Essay Die Apfelbäume von Chaville als »Enklave«: »Die Straße zu Handkes Haus ist schmal, schnurgerade, nicht steil, aber merklich ansteigend, der Autorverkehr ziemlich dicht. Linker Hand geht ein Privatweg ab, eine Allee von Nadelbäumen neben den hohen Gartenmauern. Schon am Abend ist es hier stockdunkel. Der Weg endet an einem Tor, dichtes Blattwerk dahinter, Sträucher, Gebüsch, die Ahnung eines Hauses. Kein Schild, kein Namenszug, kein Klingelknopf an der verschlossenen Tür daneben. Ab und zu Vogelzwitschern, sonst keine Geräusche.« (Federmair 2012, S. 5)
Das Haus kaufte Handke im März 1990, der Einzug erfolgte ein paar Monate später im Juli (Im Briefwechsel mit Siegfried Unseld wird der 1. Juli als Bezugsdatum genannt, vgl. Handke / Unseld 2012, S. 562, Raimund Fellinger erwähnt hingegen den 12. Juli, vgl. Fellinger 2009, S. 136). Peter Hamm beschreibt das Gebäude als »hinter einer großen Hecke verborgenes und fast hundert Jahre altes unverputztes Sandsteinhaus, auf das eine kleine Allee zuführt, ein Haus "weder zu groß noch zu klein"« (Hamm 2011, unpag.). Seinem Freund und Kollegen Hermann Lenz berichtete Handke am 3. August 1990: »[...] seit drei Wochen beginne ich, stotternd, wieder mit einer Art Seßhaftigkeit; ein Fauteuil habe ich schon in das sonst leere Haus gestellt [...]. Meist halte ich mich im weiten Garten auf, bei einem Baumstrunk, auf dem ich Bücher, Schriften, die Tasse, abstelle. Und so versuche ich, jetzt Dir und der Hanne, als die Seßhaftigkeit Probierenden, Lebenszeichen zu geben [...] Das Haus ist, scheint mir, geradezu repräsentativ für mich [...]« (Handke / Lenz 2006, S. 246-247). »Ich bin seit ein paar Wochen tatsächlich im Haus, dem "meinen" [...]« schrieb er wenige Tage darauf am 9. August an Alfred Kolleritsch. Einen Tag nach dem Kauf des Hauses im März lernte er seine spätere zweite Ehefrau, Sophie Semin, kennen, mit der er in den ersten Jahren dort auch zusammen lebte (Pichler 2002, S. 162), und die er 1995 heiratete (Höller 2007, S. 109). Einige Jahre später übersiedelte Sophie Semin wieder nach Paris, Handke blieb mit seiner zweiten, 1991 geborenen Tochter Leocadie in Chaville.
Noch im selben Jahr, in dem Handke sich in Chaville niederließ, entstand zwischen 12. November und 8. Dezember 1990 sein dritter »Versuch«, Versuch über den geglückten Tag. (Pichler 2002, S. 164-165), einige Jahre später, geschrieben von Jänner bis Dezember 1993, wurde die reale Gegend zwischen dem Bahnhof Chaville-Vélizy und dem Forêt de Meudon zum fiktiven Ort der Erzählung in Mein Jahr in der Niemandsbucht. (Pichler 2002, S. 166) Das Haus und die unmittelbare Nachbarschaft spielen darin eine zentrale Rolle: »Ich hatte in den letzten Jahren einige neue Nachbarn bekommen. Durch die vielen Bäume und dichten Hecken sah ich sie kaum, hörte bloß, wegen der Unsichtbarkeit noch deutlicher, wie abgerissen, gebaut, umgebaut wurde. [...] Im Abstand von den Silhouetten kleiner Häuser, kaum die Dächer sichtbar zwischen den Baumkronen, umgeben zu sein, war etwas Schönes. Es war, als sei um mein Anwesen herum ein Dorf entstanden, oder eine Wagenburg.« (MJN 800) Im Manuskript zur Niemandsbucht registriert er am 11. Juli auch den Jahrestag seiner Niederlassung: »3 Jahre in Chaville« (ÖLA 326/W7).
Auch die Verfilmung von Die Abwesenheit wurde großteils in den angrenzenden Wäldern gedreht. Der nahe Wald und die Vorstadt spielen als Schauplätze in Handkes seit 1990 entstandenen Werken – abgesehen von den »Jugoslawien-Texten« – immer wieder eine Rolle, besonders jedoch in Lucie im Wald mit den Dingsda, Der Große Fall sowie Versuch über den Pilznarren. (ck)