Ins tiefe Österreich

Notizbuch, 88 Seiten, 09.08.1976 bis 15.09.1976

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Beschreibung

Peter Handkes Notizbuch mit Einträgen aus der Zeit von 9. August bis 15. September 1976 ist ein spiralgebundenes Heft im DIN A6-Format mit karierten Blättern. Es ist eines von insgesamt acht Notizbüchern, die er dem Romanprojekt »Ins tiefe Österreich« (aus dem später die Tetralogie Langsame Heimkehr wurde) zugeordnet hat – den Titel schrieb er auf den Umschlag. Die Seiten wurden von Handke beidseitig eng (in der Größe der Karos) beschrieben und von 1-88 paginiert. Am vorderen Vorsatz vermerkte Handke die Adresse des Residenz Verlages in Salzburg sowie zwei Datierungen: »(Kärnten) 9.8.-14.8« und »(Paris) 7.9.-15.9.« Das Notizbuch enthält nur Aufzeichnungen von diesen beiden Zeitabschnitten. Die Tage zwischen 15. August und 6. September sind darin nicht durch Notizen dokumentiert. Handke dürfte sich in Italien aufgehalten haben, denn sein letzter Eintrag am 14. August lautet »( Venedig)« (S. 61).

Zuvor war Handke bereits fünf Tage in Kärnten und reiste durch die kleinen Dörfer seiner Heimatgegend in Unterkärnten, wobei er, wie die Aufzeichnungen zeigen, mit dem Bus unterwegs war, aber auch lange Fußwege zurücklegte. »(Es waren 35 km heute) – "Mein Siebenmeilenstiefeltag"« (S. 10). Die im Notizbuch eingetragenen Ortsnamen lauten: Ferlach (S. 1), Zell-Pfarre (S. 5), Kühnsdorf (S. 6), Eberndorf (S. 11), Globasnitz (S. 13), Bleiburg (S. 15), Lippitzbach (S. 28), Griffen-Ruden (S. 30), Gletschach (S. 50), Haimburg (S. 51), Völkermarkt (S. 52), Hörtendorf (S. 53) oder Karnburg (S. 59). Am 7. September 1976 notierte er in Paris rückblickend: »"Über die Dörfer" (Titel einer Geschichte)« (S. 61). In den besuchten Orten machte er Aufzeichnungen zur Atmosphäre in den Kirchen, Geschäften, Wirtshäusern und Gasthöfen am Land und beobachtete die Leute und ihre Gespräche – die Wirte, Kellnerinnen, Kartenspieler, einen Bildstockmaler oder die Frauen vor den Häusern: »Nicht vergessen: die Haltung, in der ein Mädchen mit weggewandtem Gesicht vor der Haustür im vergessenen Tal steht«. (S. 9) Auffällig sind die zahlreichen Einträge zur Sprache – zum Kärntner Dialekt, zum Slowenischen und Windischen. »Der Busfahrer, der slowenisch sprach« (S. 6), »das kleine Kind das mit Pfeil + Bogen dasteht und mit sich selber windisch redet« (S. 7). Das Notizbuch enthält etliche ausführliche Beschreibungen von den Altären, Kruzifixen, Kreuzwegbildern, Marienstatuen sowie von den slowenischen Beschriftungen auf Altartüchern und Bildern der von Handke besuchten Kirchen. Hervorzuheben ist eine mehrere Seiten umfassende Beschreibung von Stift Griffen, den Heiligenbildern und -statuen in den beiden Kirchen und dem Friedhof (ab S. 39).

Dem Datumseintrag am Notizbuchvorsatz nach dürfte Handke am 7. September 1976 wieder zurück nach Paris gekommen sein, wo er sich mit seiner Tochter auf Wohnungssuche begab. Als Ort eingetragen wurde Paris erst am 8. September. Ab da betreffen viele Notizen die ihn umgebenden Leute: »A« (Amina), »Herrn G.« und »Frau G.« (Herr und Frau Greinert) und andere, mit ihrem Anfangsbuchstaben nicht identifizierbare Personen oder ihm unbekannte Frauen auf der Straße. Handke unternimmt Wanderungen in Paris (dokumentiert ist die Rue Rivoli) oder an die Stadtränder, wobei er feststellt: »Ich habe ein Ideal: die Vorstadt!« (S. 69). Wiederholt beschreibt er Wolken, Wolkenformationen und erklärt ihre Bedeutung für ihn, z.B.: »(Meine Identifikation mit den geschichtslos ziehenden Wolken)« (S. 72).

Lektürehinweise sind selten, nur ab und zu notierte Handke einen Gedanken in Verbindung mit einem Autor, wobei nicht immer klar ist, ob es sich dabei um ein Zitat handelt: »Goethe: Wenn man heutzutage sich veräußern will in Aufmerksamkeit, statt auf seine Empfindungen + Vorstellungen zu achten, landet man bei Wirtshausgesprächen + -leuten« (S. 58) Zweimal erwähnt er Nô-Spiele, wobei unklar ist, in welcher Form er sich damit beschäftigte.

Nur kleiner Teil der in Paris entstandenen Einträge wurde (stark überarbeitet) in das Journal Das Gewicht der Welt übernommen; die Kärnten-Aufzeichnungen fehlen. Die Aufzeichnungen zu Stift Griffen und den Dörfern um seinen Heimatort Griffen könnten für das dramatische Gedicht Über die Dörfer (den letzten Teil der »Heimkehr-Tetralogie«) Vorbild gewesen sein. Sie beschreiben aber auch Gebiete, die in Handkes autobiografischer Erzählung Die Wiederholung (die sich ebenfalls aus dem Schreibprojekt »Ins tiefe Österreich« generiert hat) eine zentrale Rolle spielen. (kp)

Ein Gesamtfaksimile ist bei HandkeOnline abrufbar.

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

Ins tiefe Österreich

Entstehungsdatum (laut Vorlage):  9.8. bis 15.9.
Datum normiert:  09.08.1976 bis 15.09.1976
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

Kärnten (9.8.-14.8.), Paris (7.9.-15.9.)

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Ferlach (S. 1), Zell-Pfarre (S. 5), Kühnsdorf (S. 6), Jauntal (S. 7), Eberndorf (S. 11), Globasnitz (S. 13), Bleiburg (S. 15), Lippitzbach (S. 28), Griffen-Ruden (S. 30), Stift. G.[Griffen] (S. 39), Gletschach (S. 50), Haimburg (S. 51), Völkermarkt (S. 52), Hörtendorf (S. 53), Karnburg (S. 59), Venedig (S. 61), Paris (S. 62), Neuilly (S. 68)

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek
Art, Umfang, Anzahl: 

1 Notizbuch (Spiralbindung), 88 Seiten, fol. I, 1-88, I*

Format:  7 x 10 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, schwarz)
Weitere Beilagen: 

ein eingelegtes Blatt (S. 41)

Nachweisbare Lektüren

Delph. Orakel (S. 1), Kleine Zeitung (S. 3), Goethe (S. 5, 58), Malreaux (S. 68), Nô-Spiel (S. 70, 76), Biedenkopf (S. 72), Doderer (S. 74), Sartre (S. 77)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • Skizze eines Kreuzgewölbes (S. 34)
  • Skizze eines Totenkopfes mit überkreuzten Knochen von einem Grabstein am Friedhof Stift Griffen (S. 42)
  • Skizze eines Bilddetails (die über das Kreuz verrenkten Beine eines Schächers) der 12. Kreuzweg-Station im Stift Griffen (S. 43)
  • Skizze mit der Beschriftung: »die dickwangige St. [Statue] hält etwas in der Hand: Ist das ihre abgeschnittene Brust« (S. 45)
  • Skizze der Oberlippe Marias (S. 46)
  • Skizze des Kirchturms von Gletschach (S. 50)
  • Skizze eines Fischgrätmusters (S. 57)