[1/ S. 151:] Friedrich Dürrenmatt verdankt das Schweizerische Literaturarchiv in Bern seine Entstehung. Die wohl überlegten Bedingungen,
die er an die Stiftung seines Archivs knüpfte, wurden zur Voraussetzung für die Gründung eines eigenständigen Archivs, das
in ähnlicher Weise wie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach die Sammlung literarischer und geisteswissenschaftlicher Nachlässe
und Dokumente, von Tagebüchern und Briefen, ja auch den Hinterlassenschaften literarischer Verlage mit einem intensiven Erschließungsprogramm,
mit Ausstellungen, Vorträgen und Forschungen verbindet.
Schon wenige Jahre nach der offiziellen Konstituierung des Archivs zu Beginn des Jahres 1991 bestätigen überraschende Sammelerfolge
Sinn und Notwendigkeit der neuen Einrichtung, die sich unter der engagierten Leitung von Thomas Feitknecht zu einer überaus
lebendigen literarischen Sammel-, Bildungs- und Forschungsstätte entwickelte, und die seit 1993 auch in einer eigenen, ein
bis zwei Mal im Jahr erscheinenden Quarto genannten Zeitschrift, über ihre Arbeit Rechenschaft ablegt, vor allem die Ergebnisse
ihrer sammelnden Tätigkeit offen darlegt. Nicht ohne Stolz konnte bisher in jedem Heft von großzügigen Stiftungen berichtet
werden.
Die zwischen 1993 und 1997 unter wechselnder Herausgeberschaft vorgelegten sieben Nummern der Zeitschrift, die sich für alle
vier Landessprachen zuständig weiß, bietet eine Fülle literarischer Informationen. Die einzelnen
[1/ S. 152:] Bände sind abwechslungsreich gestaltet, interessant illustriert und keineswegs nur auf ein fachorientiertes Publikum ausgerichtet.
lm Mittelpunkt jeder Nummer steht jeweils ein Autor, und das ihm gewidmete »Dossier«, veranlaßt in der Regel durch eine besondere
Erwerbung oder ein bestimmtes Ereignis, bildet den thematischen Schwerpunkt, dem die einzelnen Beiträge zugeordnet sind, dem
sich dann aber auch weitere Beiträge anschließen. Giovanni Orelli, Otto F. Walter, Andre Peer, Carl Spitteler, S. Corinna
Bille und Friedrich Dürrenmatt galten die »Titelgeschichten« der ersten Hefte. Das jüngst erschienene, achte Heft, für das
Thomas Feitknecht verantwortlich zeichnet, ist Hermann Hesse gewidmet, dessen »Berner Jahre« Feitknecht kürzlich auch in einem
reizvollen Bändchen des Hans Huber-Verlags beschrieben hat.
Da Hesse einen großen Teil der an ihn gerichteten Briefe schon zu Lebzeiten jahrelang der Schweizerischen Landesbibliothek
zugeleitet hat, nach seinem Tod als Depositum der Hermann Hesse-Stiftung erhebliche Bestände seiner Bibliothek und auch Teile
seines Nachlasses, sowie später wertvolle persönliche Sammlungen, zumeist als Stiftungen, zur Anreicherung des Archivs übernommen
werden konnten, verfügt das Archiv heute über eine höchst beachtliche und auch lebhaft frequentierte Hesse-Sammlung. Über
sie wird berichtet, aber darüber hinaus enthält das anschaulich gestaltete »Dossier Hesse« eilte Reihe kleinerer Forschungsbeiträge,
die einzelne Phasen seiner Lebens- und Werkgeschichte erhellen. Über die Rolle des Dichters im Berner Kulturleben berichtet
Rätus Luck, vor allem durch eine minutiöse Darstellung seiner öffentlichen Leseabende. Feitknecht gibt einen kundigen Überblick
über die Berner Freunde und Gönner Hesses und schildert freundschaftliche und auch mäzenatische Verbindungen, die für Hesse
besondere Bedeutung gewonnen haben. In einer sorgfältigen, die Überlieferung kritisch auswertenden Studie beschreibt Franziska
Rogger die Geschichte von Hesses Berner Ehrendoktorwürde und erschließt damit ein kaum bekanntes Kapitel Berner Universitätsgeschichte.
Die Erwerbung eines Steppenwolf-Typoskripts gab für Rudolf Probst den Anlaß, die Entstehungsgeschichte dieses Romans, vor
allem durch den Vergleich der Krisis-Geschichte mit den beiden Typoskripten in eindringlicher Weise zu analysieren. Eine ausgewogene
Betrachtung über das komplizierte Verhältnis zwischen Robert Walser und Hesse aus der Feder des vielkundigen Hesse-Spezialisten
Volker Michels sowie einige kleinere Beiträge runden das Hesse-Kapitel insgesamt ab.
Darüber hinaus reichen geistvolle Überlegungen von Hugo Loetscher zum Thema »Was hinterlasse ich?« und dann vor allem ein
offener und klarer Bericht Thomas Feitknechts über die Erwerbungspolitik des Schweizer Literaturarchivs, grundsätzliche Ausführungen,
in denen die Kriterien und die Methodik der Arbeit des Archivs angesprochen werden.
Die Bilanz ist bewundernswert, und es bleibt nur zu wünschen, daß zu der Bearbeitung und lebendigen Erschließung der reichen
Erträge, die in die Scheunen des Archivs eingebracht werden konnten, auch die notwendigen personellen Kräfte zur Verfügung
stehen.
Bernhard Zeller
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