[2/ S. 255:] Im November 1988 verstarb Erich Fried, dessen Nachlaß im ÖLA aufgearbeitet wird. Anläßlich des zehnten Todestages dieses bedeutenden
Schriftstellers und Übersetzers hat sich eine Reihe von Institutionen, darunter das Bezirksmuseum Alsergrund, das Bundesrealgymnasium
IX Glasergasse (in Frieds Heimatbezirk, aus dem er 1938 vor den Nazis nach England floh) und das ÖLA, zusammengeschlossen,
um vom 18. bis 21. November 1998 im Rahmen eines breiten Gedenkprogramms zahlreiche Veranstaltungen wie Lesungen, Schülerdiskussionen
und ein wissenschaftliches Symposion auszurichten.
Eröffnet wurde die Veranstaltungsreihe am Abend des 18. November im Literaturhaus Wien, wo die Schauspielerin Anne Bennent
aus Texten Frieds las. Einen besonderen Akzent setzte am Nachmittag des Folgetages (19. November) die Schulgemeinde des Bundesrealgymnasiums
IX, das sich in Anwesenheit und mit Grußadressen von zahlrei- [2/ S. 256:] chen Gästen aus dem In- und Ausland (unter anderem der Witwe Catherine Fried-Boswell aus London und verschiedenen Vertretern
deutscher Erich Fried-Schulen) nach Erich Fried benannte. Eine der ersten Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler des ›neuen‹
Erich Fried Realgymnasiums war es, im inneren Eingangsbereich der Schule eine Erinnerungstafel anzubringen, die ehemaligen
Schülern gewidmet ist, die zwischen 1938 und 1945 vertrieben oder ermordet worden sind. Enthüllt wurde die Tafel durch den
Präsidenten des Österreichischen Nationalrats Heinz Fischer. Ein großer Festakt folgte am Abend im Bezirksmuseum Alsergrund,
wo zwischen den Musikeinlagen der Linzer Gruppe »10 saiten 1 bogen« unter anderem sprachen: Catherine Fried-Boswell, Wolfgang
G. Fischer (Präsident des Österreichischen P.E.N.-Zentrums), Peter Marboe (Kulturstadtrat der Stadt Wien), Madeleine Petrovic
(Die Grünen), Kurt Scholz (Präsident des Wiener Stadtschulrates), Heide Schmidt (Liberales Forum), Wendelin Schmidt-Dengler
(ÖLA) und Arthur West (Jura Soyfer Gesellschaft). Die Festlesung mit Gedichten von Fried bestritt der Schauspieler Erwin Steinhauer.
Abschließend wurde von der Schule die »Festschrift des RG IX. Aus Anlaß der Benennung nach Erich Fried. Hg. von Volker Kaukoreit
und Wilhelm Urbanek. Wien: Museumsverein Alsergrund 1998 (= Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Alsergrundes 134)« verteilt.
Abb. 1. Schriftsteller diskutieren mit Schülerinnen und Schülern des Erich Fried Realgymnasiums »Über Literatur und die Realität,
Schreiben zum Beruf zu haben«. V. r. n. l.: Wolfgang G. Fischer (Präsident des Österreichischen P.E.N.), Barbara Neuwirth
(Schriftstellerin), Peter Huemer (Moderator), Evelyn Schlag (Schriftstellerin), Arthur West (Schriftsteller) und zwei Schüler-Vertreter. Foto: Gloria Pettermann, Wien [2/ S. 255] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [64,8KB]
Am Vormittag des nächsten Tages (20. November) trafen sich in der mittlerweile prächtig (unter anderem mit künstlerisch umgesetzten
Fried-Gedichten) geschmückten Fried-Schule vier österreichische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, um mit Schülerinnen
und Schülern »Über Literatur und die Realität, Schreiben zum Beruf zu haben« zu diskutieren: Wolfgang G. Fischer, Barbara
Neuwirth, Evelyn Schlag und Arthur West (Moderation: Peter Huemer). Den Übergang zum wissenschaftlichen Teil der Gedenkaktivitäten
schaffte am Freitagnachmittag in der ÖNB der Berliner Verleger Klaus Wagenbach, der (zusammen mit Volker Kaukoreit, ÖLA) neue
Fried-Publikationen präsentierte und von seinen persönlichen Erfahrungen mit dem politischen Schriftsteller, dem Liebeslyriker
und dem Shakespeare-Übersetzer berichtete. Am gleichen Ort, im Oratorium der ÖNB, wurde danach das Symposion »In Memorian
Erich Fried« abgehalten, auf dem einleitend Johann Holzner (Universität Innsbruck) über »Das Domizil Erich Frieds in der Geschichte
der österreichischen Literatur« sprach. Konstantin Kaiser (Theodor Kramer-Gesellschaft) beschäftigte sich mit Frieds Zeit
im englischen Exil und beleuchtete insbesondere Frieds Beziehung zu dem ebenfalls noch sehr jungen österreichischen Exilschriftsteller
Hans Schmeier, der sich im Herbst 1943 das Leben [2/ S. 257:] nahm, woran Fried in vielen, auch noch späteren seiner Texte erinnerte. Daß der Lyriker Fried keineswegs nur als (vor allem
politischer) ›Programmdichter‹ verstanden werden darf, belegte Wendelin Schmidt-Dengler mit einer Interpretation des Gedichts
»Die Treppen von Graz«, das den von seinem Verfasser erwarteten politischen Zugriff gewissermaßen bewußt verweigert. Mit der
Vielschichtigkeit der Friedschen Lyrik setzte sich auch Volker Kaukoreit auseinander, der durch die Datierung eines bereits
in den 50er Jahren entstandenen Textes des Bandes »und Vietnam und« (1966) nachzuweisen versuchte, wie die Kontextuierung
eines Gedichts dessen vielfältige Interpretationsmöglichkeiten beeinflußen, im konkreten Fall sogar einschränken kann. Werner
Rotter (ÖLA) untersuchte dagegen die Vorbildfunktion Bertolt Brechts für Fried, die sich innerhalb von 30 Jahren fundamental
änderte und in gelungenen Fällen eine autonome Weiterentwicklung des politischen Ansatzes Brechts zeitigte. Das Symposion
endete mit einem Vortrag von Sabine E. Selzer über Erich Fried und Ernst Fischer, letzterer ein wichtiger Ansprech- und Korrespondenzpartner
Frieds in Sachen unorthodox aufgefaßter marxistischer Theorie und der damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Funktionsbestimmung
von Literatur. Die Vorträge werden Ende 1999 in einem Sammelband der Reihe »ÖLA - Forschung« im Wiener Verlag Turia + Kant
erscheinen.
Schauplatz der Einzelveranstaltungen am Samstag, den 21. November 1998, war erneut Frieds Heimatbezirk, und zwar das Erich
Fried Realgymnasium, an dessem »Tag der offenen Tür« unter anderem Video-Filme über Fried in Großprojektion gezeigt wurden,
und am Abend die Markthalle Alsergrund. Mit einer Lesung von Brecht- und Fried-Texten durch die Schauspieler Cécile Cordon
und Karl Menrad (beide Wien) wurde hier mit den Schülern, den ausländischen Gästen und vielen der künstlerisch, wissenschaftlich
oder sonstig Beteiligten das Abschlußfest ausgerichtet.
Volker Kaukoreit / Wilhelm Urbanek
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