Grundeintrag 1999
[3/ S. 262:] Das Bedürfnis nach speziellen Einrichtungen, die neben der konservatorischen Aufgabe im Hinblick auf literarische Manuskripte
auch eine museale oder dokumentarische Funktion besitzen, ist erst um die letzte Jahrhundertwende entstanden. Die Literaturmuseen
in den Niederlanden und in Flandern sind jüngeren Datums: Das Archiv und Museum für das flämische Kulturleben (AMVC) wurde
1933 in Antwerpen errichtet, zwanzig Jahre später wurde in Den Haag das Nederlands Letterkundig Museum en Documentatiecentrum
(NLMD) gegründet, während in Leeuwarden, der Hauptstadt Frieslands, ab 1959 das Frysk Letterkundich Museum en Dokumintaesjesintrum
(FLMD) eingerich- [3/ S. 263:] tet wurde. Es ist in dem Haus untergebracht, in dem die berühmte Spionin Mata Hari ihre Jugendjahre verlebte.
Im Jahr 1923 schmiedete der damalige Gemeindearchivar von Den Haag, Willem Moll, den Plan, in seinem Archiv eine literarische
Sammlung zusammenzuführen. Dreißig Jahre später hatte er 360 Kartons, gefüllt mit Dokumenten von ungefähr 1.500 niederländischen
Schriftstellern ab 1750, zu verwalten. Diese Sammlung, die freilich nicht in ein Gemeindearchiv gehört, wurde 1954 im ehemaligen
Rathaus in Den Haag untergebracht, wo wiederum Platzmangel das Durchführen von Ausstellungen verhinderte. Dies änderte sich
erst 1982, als sich das Literaturmuseum in einem Teil des Komplexes der Königlichen Bibliothek neben dem Hauptbahnhof einquartieren
konnte. Dort verfügt das Museum über einen großen Ausstellungssaal (700 Quadratmeter), worin seit 1985 die ständige Ausstellung
der niederländischen Literatur nach 1750 untergebracht ist. Daneben gibt es einige kleinere Säle für Wechselausstellungen
und das Foyer mit Wandmalereien des Schriftstellers und Malers Lucebert. Im ersten Stock befinden sich kleine Ausstellungsräume,
in denen seit 1994 das Kinderbuchmuseum untergebracht ist, im zweiten Stock die Lesesäle und die Abteilungen Dokumente und
Porträts, Bild und Ton.
Bis heute wurden dem Museum mehr als 12.000 Schenkungen und Leihgaben anvertraut, tausende niederländischsprachige Autoren
betreffend, aber auch ihre ausländischen Korrespondenzpartner, wie etwa André Gide, D. H. Lawrence, Rainer Maria Rilke, Jules
Verne und Emile Zola. Die Erwerbungen reichen von den mehr oder weniger vollständigen Nachlässen der wichtigsten niederländischen
Autoren - darunter Louis Couperus, Adriaan Roland Holst, Nescio (d. i. Jan Gröhloh), Arthur van Schendel und Simon Vestdijk
- bis hin zu einem nebensächlichen Brief eines nicht sehr bedeutenden Schriftstellers. Das einzige Kriterium, das die Aufnahme
in die Sammlung bestimmt, ist, daß der Brief, das Manuskript, die Fotografie, das Gemälde von einem Autor nach 1750 stammen
muß. Der Schwerpunkt der Sammlung des Literaturmuseums liegt im Zeitraum von 1880 bis 1950, und zwar hauptsächlich in der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Aber der Gegenstand darf nicht von einem flämischen Autor herrühren. Für Hugo Claus,
Guido Gezelle und Paul van Ostaijen etwa ist das bereits erwähnte Archiv und Museum für das flämische Kulturleben in Antwerpen
zuständig.
Zusätzlich zu den Autographen werden noch gesammelt: Abschriften, korrigierte Fahnen, Widmungsexemplare, Verlagsverträge,
mit Unterschriften versehene Menükarten, Zeitungsausschnitte, Porträts, Fotografien, Buchillustrationen, Plakate, Büsten,
Schallplatten, Videobän- [3/ S. 264:] der usw. Die Bestände des Literaturmuseums sollen Forschern die Gelegenheit bieten, in die Werkstatt der Autoren zu blicken,
aber freilich nur dann, wenn der Autor oder der Inhaber des Urheberrechts damit einverstanden ist. Letzteres gilt selbstverständlich
auch für die Veröffentlichung von Briefen, Varianten und anderer in erster Linie nicht für den Druck bestimmter Arbeiten.
Eine weitere wichtige Aufgabe des Literaturmuseums besteht in der Organisation von »Schriftsteller-Bilderbüchern«: literarische
Ausstellungen in Buchform, die jeweils einem Autor oder einer literarischen Strömung gewidmet sind. Inzwischen sind 46 solcher
»Bilderbücher« erschienen. In der Regel begleiten sie eine vom Museum eingerichtete Ausstellung. Kürzlich erschienen Bände
über Cees Nooteboom (1997), Frans Kellendonk (1998), Godfried Bomans, Simon Carmiggelt, Kees van Kooten und Kees Stip, die
›leichte Kavalerie‹ unserer Nachkriegsliteratur (1999) und Remco Campert (2000). In der Reihe »Achter het Boek« (Hinter dem
Buch), die auf ein weniger breites Publikum zielt, werden meist Briefwechsel zwischen bedeutenden Schriftstellern editorisch
erschlossen und mit einem ausführlichen Kommentar herausgegeben. Von dieser Zeitschriftenausgabe in Buchform sind bisher 34
Jahrgänge erschienen, zuletzt zu Paul Citroen und der Briefwechsel zwischen Adriaan Roland Holst und Hendrik Marsman. Daneben
bringt das Museum regelmäßig Ansichtskarten mit Reproduktionen von Schriftstellerporträts und -handschriften auf den Markt
und gibt ein Jahrbuch heraus. In der Reihe »Schriftsteller im Bild« produziert es seit einigen Jahren auch Videoporträts (z.
B. über Maarten ’t Hart, Harry Mulisch und Jan Wolkers).
Schließlich werden, wie schon angedeutet, auch Ausstellungen veranstaltet. Die Dauerausstellung, die unsere Literatur nach
1750 präsentiert, »Gaan waar de woorden gaan« (Gehen, wo die Wörter gehen), bietet einen chronologisch-thematischen Grundriß
der niederländischen Literatur ab 1750. Daneben werden regelmäßig Wechselausstellungen gezeigt. Ausgangspunkt ist dabei, daß
neben Ausstellungen für einen kleinen Kennerkreis auch Ausstellungen eingerichtet werden, von denen man erwarten kann, daß
sie ein breites Publikum ansprechen. Es wurde übrigens die Erfahrung gemacht, daß insbesondere Ausstellungen über beliebte
Kinder- und Jugendbuchschriftsteller viel mehr Besucher anziehen als Ausstellungen über ›Schriftsteller für Erwachsene‹. 1999
wurden die Ausstellungen von fast 40.000 Personen besucht; 3.000 Personen benützten die Sammlungen.
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