Grundeintrag 1999
[3/ S. 245:] Das Fritz-Hüser-Institut entstand aus einer 1923 begründeten Privatsammlung des Stahlarbeiters und späteren Bibliothekars
Fritz Hüser. Er sammelte Bücher, Zeitschriften und Dokumente der gesamten Kultur der Arbeitswelt, besonders aber der sogenannten
Arbeiterliteratur (ab 1848). 1973 stiftete der seit 1945 als Direktor der Dortmunder Stadtbüchereien tätige Hüser diese Privatsammlung
an die Stadt Dortmund, die im Gegenzug daraus ein wissenschaftliches Institut mit festangestellten Mitarbeitern machte.
Das Fritz-Hüser-Institut ist das einzige Archiv Europas (und vermutlich sogar darüber hinaus), das Quellen und Dokumente zur
Literaturgeschichte der Arbeiterbewegung sammelt, erforscht und darstellt.
Allerdings gibt es eine Reihe von Einrichtungen, die Dokumente zur politischen und gewerkschaftlichen Geschichte der Arbeiterbewegung
sammeln und wissenschaftlich erschließen (Amsterdam, Berlin, Bochum, Bonn, Graz, Linz, Wien und Zürich, um nur die Orte der
wichtigsten Spezialinstitute, die deutschsprachige Bestände sammeln, zu nennen). Dieses ungleiche Sammel- und Forschungsinteresse
hat zum Teil wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Die Literaturwissenschaft empfand z. B. die dramatischen Massenspiele der
Arbeiter und ihre Liedtradition als der wissenschaftlichen Untersuchung nicht würdig, weil sie nicht den Höhen kanonisierter
Leistungen, sondern einer sozialspezifischen Literaturkultur zuzurechnen seien. Dieser Ausgrenzung entgegenzuwirken, entstand
die Sammlung des Fritz-Hüser-Instituts.
Das Institut besteht aus den Bereichen Bibliothek, Archiv und Öffentlichkeitsarbeit (Publikationen, Wanderausstellungen).
Die Sammlung umfaßt alle Bereiche der Kulturgeschichte der Arbeit: Literatur, Kunst, Film, Presse bis hin zum Sport. Über
die Hälfte davon besteht aber aus der Literatur der Arbeitswelt aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Anderssprachige
Literaturen sind in der Bibliothek nur in deutschen Übersetzungen sowie in Esperanto (Arbeiteresperanto-Bewegung) vorhanden.
[3/ S. 244:] Sammelschwerpunkte
Literatur der Arbeitswelt meint Dichtung und Autobiographien von, für und über Arbeiter und Angestellte, aber im Bereich der
Ausgrenzung aus der Arbeitswelt auch der Arbeitslosen und Obdachlosen seit 1848: Nachlässe von Schriftstellern und literarischen
Persönlichkeiten der Arbeitswelt des 19. und 20. Jahrhunderts, z. B. Bruno und Helmut Dreßler (Begründer und Geschäftsführer
der Büchergilde Gutenberg), Gregor Gog (Begründer des Verlags und der Zeitschrift der Vagabunden und der »Bruderschaft der
Vagabunden«, 1927-1933) sowie etwa die Arbeiterschriftsteller Erich Grisar, Max von der Grün, Heinrich Lersch, Franz Osterroth,
Ernst Preczang, Bruno Schönlank, Christoph Wieprecht, Hildegard Wohlgemuth und Paul Zech. Außerdem sind vollständige Archive
von Arbeiterschriftstellervereinigungen erhalten: »Gruppe 61« (1961-1973) etwa mit Max von der Grün und Günter Wallraff sowie
»Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« in Deutschland, Österreich und der Schweiz (seit 1970). Aus Österreich sind von den
Schriftstellerwerkstätten des Werkkreises Dokumente aus Graz, Linz und Wien vorhanden.
Große Abteilungen in Bibliothek und Archiv widmen sich der Geschichte des Arbeitertheaters, dem Arbeiterlied, der Bergarbeiterliteratur,
der Kriegsdichtung und pazifistischen Literatur, der Medien der Arbeiterbewegung (Presse, Arbeiterfotografen, Film, Neue Medien),
der Kunst der Arbeiterbewegung, der Arbeiterbildung usw. Für den Bereich der Literaturgeschichte ist das kürzlich übernommene
Altarchiv des »Deutschen Arbeitersängerbundes« (heute »Deutscher Allgemeiner Sängerbund«) mit seinen Dichterhandschriften
der Lieder, mit handschriftlichen Kompositionen wichtiger Komponisten und der großen Sammlung von Partituren, Liederbüchern,
Dokumenten und Zeitschriften seit 1890 besonders aufschlußreich.
Von der österreichischen Literatur der Arbeitswelt existieren die Werke und die Sekundärliteratur zu Einzelautoren wie u.
a. Erich Fried, Jura Soyfer, Alfons Petzold, zum Werkkreis Österreich und Anthologien.
Sekundärliteratur ist vor allem vorhanden zur politischen Lyrik des Vormärz in Österreich und der Literatur von 1848, zum
österreichischen Arbeitertheater zwischen 1898 und 1934, zu christlichen österreichischen Arbeiterdichtern und den Bücherverbrennungen
in Österreich. Dazu kommen zahlreiche Anthologien zur Situation der Arbeiter, darunter Anthologien österreichischer Exilschriftsteller,
der Büchergilde Wien, vom Arbeitskreis Schreibender Frauen in Wien, von Literatur, die in der Strafvollzugsanstalt Graz-Karlau
entstand, usw.
[3/ S. 245:] Die Bibliothek umfaßt ca. 36.000 Bücher und 1.400 Zeitschriften. Das Medienarchiv enthält Schallplatten, Tonbänder, Musikkassetten,
CDs und Videokassetten, das Archiv etwa vierzig Nachlässe, 148 Laufmeter Dokumentmappen zu allen Themen der Literatur der
Arbeitswelt, Teilnachlässe und kleinere Handschriften-Bestände von 170 Autoren, unter anderem von Martin Andersen-Nexö, Bertolt
Brecht, Oskar Maria Graf, Hermann Hesse, Sinclair Lewis, Erich Mühsam, Ernst Toller, Bruno Traven, Josef Winckler, Friedrich
Wolf, Stefan Zweig, sowie von österreichischen Schriftstellern, unter anderem Gerhard Baron, Josef Luitpold Stern und Alfons
Petzold. Das Bildarchiv schließlich umfaßt 538 Themenbereiche mit Grafiken, Fotografien und Plakaten zu allen Gebieten der
Literatur der Arbeitswelt.
Die Archivbestände werden mit der Archivsoftware AUGIAS erschlossen, die Bibliotheksbestände mit der Software HORIZON. Findbücher
existieren zu den Nachlässen von Max Barthel, Gerrit Engelke, Heinrich Lersch, Christoph Wieprecht und Paul Zech sowie zum
Bereich des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und zur Arbeiteresperanto-Bewegung.
Forschungsschwerpunkte
Erforscht wird vornehmlich die Geschichte der Literatur der Arbeitswelt mit den Spezialgebieten Arbeitertheater und Arbeiterlied.
Ein besonderer Forschungsschwerpunkt liegt in der Ermittlung der Funktion von Literatur und Medien in Lebensgeschichten durch
Oral-History-Interviews. In Längsschnittuntersuchungen wurden Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, verschiedenen
Geschlechts und unterschiedlichen Alters interviewt, um die verschiedene Funktion von Literatur und Medien innerhalb ihrer
Vita herauszufinden. Hierzu wurde die Tagung »Lektüre- und Mediengenuß im 20. Jahrhundert. Lebensgeschichtliche Untersuchungen«
veranstaltet und die Wanderausstellung »Alltag, Traum und Utopie. Lesegeschichten - Lebensgeschichten« konzipiert, die an
zahlreichen Orten gezeigt wurde.
Öffentlichkeitsarbeit
Die Ergebnisse der archivarischen und bibliothekarischen Erschließung der Sammlung von Büchern, Zeitschriften, Dokumenten
sowie der Nachlässe zur Literatur der Arbeitswelt werden in der Broschürenreihe »Informationen des Fritz-Hüser-Instituts«
in Form von Bestandsverzeichnissen, verbunden mit Anthologien, veröffentlicht.
[3/ S. 246:] In der Buchreihe »Forschungen zur Arbeiterliteratur« publiziert das Institut Forschungsergebnisse, die aufgrund der wissenschaftlichen
Benutzung der Institutsbestände entstehen. In dieser Reihe wurden vom Institut veröffentlicht Bücher über das Arbeiterlaientheater,
die Arbeitersprechchor-Bewegung, die Bergarbeiterdichtung, das politische Lied, die Immigrationsliteratur, die kommerzielle
Arbeiterkultur der englischen Music-Halls, die Buchgemeinschaften der Arbeiterbewegung, die Presse der sozialen Bewegungen
und Sprache und Literatur des Ruhrgebiets.
Informationen zu den entlehnbaren Ausstellungen, den Ausstellungskatalogen und den vorhandenen Bestandsverzeichnissen sind
auf Anfrage zu erhalten.
Um die Forschungsergebnisse zur Literatur- und Kulturgeschichte der Arbeiter und Angestellten einem weiteren als nur dem engen
wissenschaftlichen Publikum bekanntzumachen, veranstaltet das Fritz-Hüser-Institut Wanderausstellungen, die von 1980 bis 2000
in 144 Städten in Europa, Asien und Amerika gezeigt wurden. Die Hauptthemen dieser Ausstellungen sind die Bedeutung der Medien
in den Lebensgeschichten der Menschen, die Geschichte der Arbeiterchöre und die Geschichte des Arbeiterjugendtheaters »Der
Rote Kasper«, mit Figuren- und Theaterstücken, insbesondere aus dem Österreich der Jahre 1918 bis 1933, sowie »Kultur selber
machen! Bildung und Unterhaltung im Arbeiterleben, 19. und 20. Jahrhundert« und »Gibt es ein Leben ohne Arbeit? Arbeitslosigkeit
in Kunst und Medien - Mangel und Hoffnung«. Parallel dazu erscheinen die »Ausstellungskataloge zur Arbeiterkultur«, die Forschungsbeiträge
von auswärtigen Wissenschaftlern und den Angehörigen des Fritz-Hüser-Instituts enthalten.
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