[3/ S. 207:] Seit Juni 1989 hat »SYNEMA - Gesellschaft für Film und Medien« (vormals »Gesellschaft für Filmtheorie«, Wien) ihren vielseitigen
Aktivitäten als wissenschaftliche Forschungsstätte einen weiteren Akzent verliehen. Sie übernahm den Nachlaß des am 9. Februar
1988 verstorbenen österreichischen Filmemachers und Filmpublizisten Ernst Schmidt jr. Mit der Archivierung des Nachlasses
in den Räumen der Gesellschaft verpflichtete man sich zur wissenschaftlichen Sichtung und Aufarbeitung des äußerst umfangreichen
Materials sowie zur Auswahl und Vorbereitung etwaiger Publikationen.
Ernst Schmidt jr. wurde am 28. November 1938 in Hadersdorf am Kamp in Niederösterreich geboren. Nach zweieinhalbjährigem Besuch [3/ S. 208:] der Wiener Filmakademie arbeitete er seit 1963 als unabhängiger Filmemacher, vor allem im experimentellen Bereich. Sein filmisches
Gesamtwerk umfaßt vier Langfilme und etwa fünfzig Kurzfilme. Darüber hinaus fungierte Schmidt als Herausgeber von zwei Nummern
der Filmzeitschrift »Caligari« und belieferte weitere einschlägige Zeitschriften (»Film«, »Kino«, »Kinema«, »Supervisuell«)
mit zahlreichen Beiträgen. Als Gründungsmitglied der »Austria Filmmakers Cooperative« erhielt er 1968 den Förderungspreis
des Wiener Kunstfonds. Danach folgten noch die Schriften »Das andere Kino - ein Lexikon des neuen europäischen Films« (1968)
und »Die Entwicklung des österreichischen Films« (1970) sowie ein »Filmtext« in der Sammlung »Avantgardistischer Film 1951-1971:
Theorie« (1973).
Ernst Schmidt jr. arbeitete zeit seines Lebens an einem umfassenden Lexikon über den Film. Nach vorläufigen Schätzungen erbrachte
diese Tätigkeit letztlich ein Korpus von 82.000 bis 90.000 Archivalien verschiedener Art und Herkunft, die den Kern des von
»SYNEMA« übernommenen Nachlasses darstellen, zu dem aber auch ein Teil der persönlichen Bibliothek Schmidts im Umfang von
etwa 1.400 Büchern gehört.
Für die Bearbeiter des Nachlasses wurde zunächst ein erster Überblick erstellt, um eine systematische Zugänglichkeit zu dem
vorhandenen Material sicherzustellen. Schon beim Sammeln und Zusammenstellen der Informationen hielt sich Schmidt an ein alphabetisches
Grundmuster, was die wissenschaftliche Auswertung erleichtert. Daher war eine Inventarisierung des Nachlasses notwendig, die
eine umfassende Bestandsaufnahme bzw. Identifizierung jedes einzelnen Teils ermöglicht und Ordnungsvorgaben hinsichtlich der
konkreten Lagerung im Depot bereitstellt.
Die hauptverantwortlichen Betreiber des Projekts, Georg Haberl und Gottfried Schlemmer, einigten sich nach Absprache mit Arno
Rußegger (als philologischer Berater fungierend) aus Zeitgründen darauf, im Hinblick auf eine möglichst rasche wie praktische
Benützbarkeit des Nachlasses bereits bei der Inventarisierung bestimmte formale und inhaltliche Kriterien mitzubedenken und
zu erfassen. Daraus ergab sich ein Arbeitsgang mit parallellaufender Inventarisierung und Katalogisierung. Das Projekt wurde
deshalb von allem Anfang an auf der Basis der Erstellung einer Datenbank konzipiert und durchgeführt. Folgende Kategorien-Struktur
wurde für die Datenbank festgelegt:
- »Laufende Nummer«: Diese wird für jede Archivalie nach dem Zeitpunkt ihrer Erfassung vergeben.
- [3/ S. 209:] »Inventarnummer«: Diese erscheint durch Punkte gegliedert und wird nach Maßgabe bestimmter physischer Relationen von Archivalien
wie Schachteln, Mappen, Heften usw. vergeben. Jeder Punkt signalisiert dabei weitere Einheiten von Mappen, Konvoluten und
Einzelblättern. Die Gliederung hat den Zweck, jederzeit den Befund des Nachlasses als Ausgangsbasis sämtlicher Bearbeitungsschritte
rekonstruieren zu können. Außerdem erlaubt sie eine Inventarisierung mit stufenweise zunehmender Erfassungsgenauigkeit: Zuerst
erhält man einen raschen Überblick über das Gesamtmaterial, dann wird die Feingliederung der Nachlaßstruktur transparent.
- »Werkzuordnung«: Im Regelfall: in bezug auf das von Schmidt jr. geplante »Lexikon«.
- »Sachzuordnung«: Inhaltliche Zuordnungen und Oberbegriffe wie z. B. »Valie Export« oder »Österreichischer Experimentalfilm«
usw.
- »Titel«: Die meisten Blätter, Umschläge usw. sind von Schmidt jr. eigens benannt und einander zugeordnet; relevant auch bei
Büchern, Zeitungsartikeln, Programmen usw.
- »Klassifikation«: Bezieht sich auf verschiedene Text- bzw. Materialarten wie z. B. Handschrift, Typoskript, Kopie, Zeitungsausschnitt,
Programmheft, Fotografie, Dokument, Brief.
- »Code«: Falls vorhanden ist dies eine besondere Kennzeichnung oder eine Ordnungschiffre von Schmidt jr.
- »Verfasser«: Falls eruierbar bei: Zeitungsausschnitten, Briefen und Büchern.
- »Beschreibung«: Kurzer, beschreibender Text mit möglichst standardisierten Formulierungen; genaue Zitate usw.
Mit der entsprechenden Aufarbeitung von 72.792 Dokumenten des Nachlasses ist ein wissenschaftliches Instrumentarium entstanden,
das die an ein Archiv gestellten Anforderungen adäquat erfüllt. Man kann jetzt den Inhalt der Mappen nicht nur über die Datenbank
recherchieren, sondern sie stehen nunmehr selbst für die wissenschaftliche Recherche Außenstehender zu Verfügung, allerdings
unter Berücksichtigung der jeweiligen finanziellen und personellen Ressourcen von »SYNEMA«.
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß Schmidt jr. sehr viele Dokumente über österreichische Filmschaffende
gesammelt hat, die nicht mehr leicht zugänglich sind, und gerade dieser Aspekt zeigt die Wichtigkeit der Datenbank für die
österreichische Filmforschung.
Weiters läßt die Aufarbeitung der Dokumente Schmidts Arbeitsweise soweit erkennen, als man jetzt auch wertvolle Rückschlüsse
auf seine Methode der Materialbeschaffung und -auswertung ziehen kann. Da- [3/ S. 210:] durch wird die Beschäftigung mit einem Lebenswerk, das allein schon durch die lexikalische Fülle von personen- und filmbezogenen
Daten beeindruckt, um einen nicht unwesentlichen Aspekt erweitert.
Nach einer ersten Bearbeitungsphase mit finanzieller Unterstützung durch das Land Niederösterreich wurde die Aufarbeitung
des Nachlasses von Ernst Schmidt jr. seit 1995 durch »hundertjahrekino. ein projekt des bm:wvk« finanziert.
Georg Haberl / Gottfried Schlemmer
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