[3/ S. 27:]  Gertrud Fussenegger[1]

im Dezember 77
Liebe und verehrte gnädige Frau Jenka Sperber,
lieber und hochgeehrter Manès Sperber,
Sie verzeihen, daß ich mit der Maschine schreibe, aber meine Handschrift ist schon seit Jahren unzumutbar.
Wir haben uns das letztemal in Wien gesehen und leider nur ganz kurz persönlich miteinander sprechen können. Lange Telephonate
schlossen sich an; über ihren Inhalt, zu ihrem Inhalt werde ich in diesem Brief ausführlich schreiben.
Heute und augenblicklich nur so viel: von Klagenfurt erfolgte wieder eine Einladung, eine Aufforderung, bei der Jury für den
Bachmann-Preis mitzuwirken. Ich habe zugesagt, vor allem weil ich hoffe, Sie beide wieder dort zu treffen.
Von Wien sind Sie nach Rom gefahren und haben dort ein Sperber-Symposion bestanden. Ich habe darüber Rühmendes in der Presse
gelesen. Meine deutschen Freunde schicken mir auch immer wieder große Artikel über M. S. - eine halbe oder dreiviertel Zeitungsseite,
gewaltiges Echo also. Die Zeit wird reif für Ihre Stimme, und: Wer noch Ohren hat zu hören, der hört.
Bei uns: alles munter, beschäftigt, einigermaßen vergnügt. Zu Weihnachten erwarten wir zwei Töchter mit ihren Familien. Danach
sind wir einige Tage in Tirol. Und dann fängt - wie man sagt: so Gott will - wieder ein arbeitsreiches Jahr an.
Nun aber zu den Themen unserer Wiener Telephongespräche: In diesen Gesprächen haben Sie, lieber Manès Sperber, mir etliche
Probleme geklärt, die mich nach der Lektüre Ihres letzten Buches »Bis man mir Scherben auf die Augen legt ...«[2] beschäftigt, ja, die mir zugesetzt haben. Ich bräuchte eigentlich auf diese Fragen nicht mehr zurückzukommen.
Aber da ich Ihrer Freundschaft sicher bin, möchte ich doch einiges sagen.
Dieses letzte Buch hat mir noch deutlicher als alle Ihre anderen Bücher (auf eher schmerzliche Weise) zu Bewußtsein gebracht,
daß wir die Weltgeschichte, die sich in unserer Lebenszeit abspielte, auf so verschiedene Weise erlebt haben, als hätten wir
uns auf verschiedenen Seiten eines Gestirns befunden. (Immerhin noch auf demselben Gestirn!)
[3/ S. 28:] Freilich: von allen Menschen, die auf der anderen Seite des Gestirns gelebt haben, sei es in einer ehemaligen »Feindnation«,
sei es in der Emigration, im Exil, ist mir keiner untergekommen, der genauer gewußt hätte, wie es auf der ihm abgewandten,
also unserer Seite ausgesehen hat - als Sie; der eine tiefere Einsicht gehabt hätte für die, die in Deutschland blieben und
für die nie etwas anderes in Frage gekommen wäre als hierzubleiben, auf Gedeih oder Verderb. Sie, Manès Sperber, haben die
Lage der Deutschen genauer durchschaut, und ich glaube, Sie wissen viel mehr von dieser Lage als die allermeisten, die sie
am eigenen Leib verspürten.
Ich habe sehr viel über dieses Stück Geschichte nachgedacht, über die Vorkriegsgeschichte und über die Nachkriegszeit. Ich
habe auch die Elemente zu analysieren versucht, die sich in meiner Person dazu verhielten. Manchmal hatte ich vor, daß alles
aufzuschreiben als eine Art Rechenschaftsbericht. Aber er würde sehr unsensationell ausfallen, eine lange und langweilige
Geschichte, die sich eher solipsistisch mit Innenschau als mit politischen Realitäten befaßte. Was also solls?
Mir kommt vor: das deutsche Volk befand sich schon seit 1917 (spätestens 1917) in einer Art Angstneurose. Man war daran den
Krieg zu verlieren, verlor ihn auch, verfehlte aber dann auch die neue republikanische und demokratische Neuordnung, das neue
Zu-Sich-Selbst-Kommen. Was waren die roaring twentys anderes als eine zwar kulturell kreative, doch für die Masse des Volkes
eher fieber- also krankhaft aufgeheizte Phase, Schüttelfrost, Veitstanz, so sah es aus für die meisten, die zusahen - und ihre Angst stieg.
Dann: die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit, Bürgerkrieg - denn anders konnte man damals die innenpolitischen Auseinandersetzungen
nicht mehr nennen. Also noch mehr Beängstigung und Nicht-mehr-wissen-wohin. Ich glaube, der Vergleich stimmt: ein Häuflein
Verirrter in Nebel und Schnee - und da kommt einer und behauptet im Brustton der Überzeugung, er wüßte wo hinaus und, man
solle ihm nur folgen. Und obgleich einen gerade dieser Brustton der Überzeugung zur Vorsicht mahnen müßte und obgleich sich
eigene Zweifel melden, - man sagt sich: einpaar [sic] Schritte kannst du ja mitgehen und zusehen, einmal kannst du es probieren,
zur Umkehr ist immer noch Zeit. Und dann ist es schon passiert. Man hat sich ausgeliefert.
Und da waren ja auch wirklich erste Erfolge.
Sie haben darüber in Ihrem Buch geschrieben: nur von der anderen Seite aus gesehen: das Saarland etwa, die Abstimmung dort;
und die Arbeitslosenzahlen sinken - oder werden als sinkend gemeldet. Und so scheint es denen, die so lange im Nebel und Schneetreiben
herum- [3/ S. 29:] geirrt sind, es habe sich wirklich vor ihnen etwas wie eine Tür geöffnet, in eine passable Unterkunft, in eine rettende Hütte,
und so tritt man ein und merkt es nicht, daß die Tür schon hinten zugefallen ist - und daß man sich in eine Räuberhöhle verirrt
hat.
Man hat von Hitler das Ende des materiellen Elends erwartet - und dafür das moralische Elend eingetauscht.
Jeder erkannte das irgendwann einmal, der eine früher, der andere später. Jeder also für sich, isoliert.
Sie haben den Tatbestand ganz eindeutig schon 1933 am eigenen Leib bitterst erfahren.
Für andere war die Lage nicht so eindeutig oder wurde erst später eindeutig, die Informationen widersprachen einander. Man
lebte wie in einem Dickicht, immer nur das Nächste vor Augen. So unmöglich es schien, zu Rohheit [sic] und Gewalttat ja zu
sagen, es schien fast noch unmöglicher zu wünschen, daß das Regime von außen weggefegt und der Totalruin der Nation besiegelt
würde. So blieb nur eine - inständige - Hoffnung übrig: Daß sich bessere Einsichten durchsetzen, daß eine für alle erträgliche
Ordnung etabliert werden würde. Eine blinde, eine blöde idiotische Hoffnung.
Aber hinter ihr wirkte die Schubkraft eines mächtigen Triebes.
Ich sehe das so:
In der Nachkriegszeit schien es in Deutschland (und in Österreich noch viel länger) irgendwie aussichtslos, neues Leben gründen
zu wollen. Neues Leben, das heißt doch für junge Menschen unabweisbar: eine Ehe schließen, Kinder haben; der in jedem normalen
Menschen mächtige Nestbautrieb war durch die Verhältnisse lahmgelegt. Es galt besonders im Mittelstand für nahezu verrückt, eine Familie zu gründen. So staute sich ein Verlangen auf, das Hitler zugute kam. Und so verlogen der Optimismus war, den
er propagierte: plötzlich wurde geheiratet, Kinder kamen zur Welt. Es war wie eine Epidemie, man konnte freundlicher sagen:
ein Naturereignis. Geschäftigkeit der Natur ... mag sein, die allgemeine Propaganda tat das Ihre dazu. Andernteils gehörte
der Drang zur Familie zu den allgemeinsten und unschuldigsten Motivationen des Menschen. Daß sie in diesem Falle dazu beitrug,
die politische Moral zu ruinieren, scheint mir einen tragischen Aspekt zu liefern.
Dennoch waren es, glaube ich, nicht einmal so sehr die jungen Leute, die das N.S.-Regime unterstützten; es war - vermutlich
doch - vor allem die ältere Generation, diejenigen also, die im ersten Weltkrieg gewesen waren und diesen Krieg verloren hatten
- und die es nicht ertrugen, diesen Krieg verloren zu haben; jetzt, so mochte es manchen von ihnen scheinen, konnte er nachträglich noch korrigiert werden. [3/ S. 30:] (Und das erklärt auch den Umstand, daß, wenn es in Deutschland zwischen 1939 und dem Ende irgendwann einmal eine euphorische
Stimmung gab, irgendetwas, was sich nur von ferne mit »Begeisterung« bezeichnen ließe, so war das absolut nicht beim Überfall
auf Polen, geschweige denn etwa, wie es gegen Rußland losging, sondern nur im Mai und Juni 1940, als Frankreich fiel - und
dabei war man keineswegs der Meinung, daß man dieses Land jemals behalten oder beherrschen könnte, man dachte auch nicht politisch
und in die Zukunft, sondern nur retrospektiv - als Aufrechnung für die eigene verlorene Runde.)
In summa: So formierte sich die Katastrophe.
Lieber Manès Sperber, Sie schreiben ganz richtig in Ihrem Buch: Nach dem Ende 45 wollte in Deutschland niemand ein Nazi gewesen
sein. Andere Emigranten haben das bei ihrer Rückkehr auch bemerkt und vielfach härter, schärfer, voll Verachtung formuliert.
Ich habe Sie in Wien auf diese Ihre Beobachtung angesprochen. Und Sie sagten mir: Die Deutschen fühlten sich damals durch
die furchtbare Niederlage und deren Folgen schon genügend bestraft - und so lehnten sie es ab, die Schuld auf sich zu nehmen.
Plötzlich wollte keiner es gewesen sein.
Das ist sicherlich richtig.
Trotzdem, so meine ich, könnten auch andere Gründe mitgespielt haben.
1. War der Nationalsozialismus ein sehr komplexes Phänomen, ein Sammelbecken für die verschiedensten Meinungen, Gesinnungen
und Motive. Die allermeisten Menschen in Deutschland (und Österreich) waren zu irgendeiner Zeit aus irgendeinem Motiv mindestens
augenblicksweise Parteigänger des Regimes. Zu viele Vorteile, auch solche sozialer, kulturpolitischer, technischer Natur waren
von dieser Begegnung angeboten worden (dasselbe ist ja auch in den kommunistischen Ländern der Fall). Aber wenn viele auch
nur für Augenblicke »schwach« geworden waren, so gab es doch auch massenhaft echte Parteigänger, wenn auch mit jeweils recht
verschiedenen Beweggründen: der eine brachte seinen Antisemitismus ein, der andere (ganz anders geartete) seinen romantischen
»Reichsgedanken«; der dritte - wie oben schon erwähnt - seinen Nestbautrieb, der vierte seine rabiate Tatkraft, die nach irgendeinem
Betätigungsfeld verlangte; andere ihr tiefwurzelndes Mißtrauen gegen alles Moderne, also auch gegen moderne, lies demokratische
Staatsformen, andere ihre Unfähigkeit der legalen oder sich als legal anbietenden Staatsmacht Böses zuzutrauen - und über
allen diesen Motiven die oben beschriebene dumpfe Lebensangst: Wo soll es mit uns hinaus?
[3/ S. 31:] Nun, da der Spuk zu Ende war, der Zusammenbruch da, das höllische Jahr 45 - und als dann noch dazu die grauenhaften Nachrichten
aus den Lagern eintrafen, da besann sich jeder Parteigänger nur seiner eigenen Motive; und keiner glaubte, daß sein Motiv
das ausschlaggebende, das für das Unheil verantwortliche Motiv gewesen sei. Immer also hatten die anderen die Schuld.
Sogar die Antisemiten salvierten sich: man habe doch nur eine Beschneidung des jüdischen Einflusses angestrebt, aber an Ausrottung
habe man nie gedacht.
Und so fand wohl jeder sein Privatwaschbecken, über dem er sich die Hände waschen konnte.
2. Wäre zu dem Umstand, daß »keiner ein Nazi sein wollte« noch zu sagen, daß der Nationalsozialismus - im Gegensatz etwa zum
Sozialismus - doch nur eine sehr dürftige ideologische Basis entwickelt hatte. Hitlers »Mein Kampf« wurde kaum gelesen, es
war, als H. zur Macht kam, ein altes, überholtes, ein langweilendes Buch. Man tat es gern als »Frühwerk« ab, als Zeugnis der
Unreife, man nahm es nicht so genau damit. (Womit nimmt man es heute denn so genau?) - Rosenberg[3] galt selbst für Parteileute als »Spinner«. So war es jedenfalls in Süddeutschland. Hier war man doch so tief katholisch infiltriert,
daß man die Lehre vom nordischen Edelmenschen eher für eine etwas lächerliche Marotte »derer nördlich des Mains« hielt.
Natürlich bediente sich die Propaganda eines bestimmten blonden und blauäugigen Leitbildes, aber das nahm man nicht so ernst,
so wenig wie heute die Werbung und auf Titelseiten promulgierten Typen ernst genommen werden (sie gefallen mir auch nicht
sehr!). Und überhaupt: dem Nationalsozialismus haftete noch der Geruch bayrischer Bierkeller an, was wollte der mit »elitärer
Rasse«?
So argumentierte man. Die entsetzliche Ernsthaftigkeit dieser Wahnsinnslehre trat erst im Osten zutage. Überhaupt trat erst
dort hervor, was sich im Kern verbarg; vorher war der Nationalsozialismus eine mitteleuropäische Tyrannis gewesen; dort enthüllte
er sich als infernalische Despotie.
Was dort geschah, entglitt jeder Kontrolle. Der Schrecken wuchs ins Inkommensurable.
Da gab es bestimmt nur wenige, die nicht selbst, wenn vielleicht auch nur für Augenblicke, vor Entsetzen erstarrten.
Dann schlugen sie wieder um sich.
Am Ende wollte keiner der Täter gewesen sein.
Die Niederlage war bitter, das Elend - auch in Westdeutschland - nicht gering.
[3/ S. 32:] Aber ich denke oft, daß der miese Zustand, in dem sich heute die Bundesrepublik befindet, im Grunde damit zusammenhängt, daß
sich in vielen das Gefühl einnistete, man sei zwar bestraft, aber vielleicht doch nicht genug bestraft worden; denn man fand
sich nach etlichen Jahren schon wieder recht behaglich - und behaglicher als je zuvor - in hübschen Häusern, dicken Autos
und, wohin man sich früher nicht einmal geträumt hätte, als Tourist in allen glänzenden Gegenden dieser Erde.
Da stellte sich dann das blöde, aber nicht ganz unrichtige (leider nicht ganz unrichtige) Wort ein: Nun haben wir den Krieg
doch gewonnen. Es wurde mit einer Art Galgenhumor ausgesprochen, der nichts Gutes versprach. Der Wurm sitzt drin.
Ja, der Wurm sitzt drin. (Das ließe sich freilich von allem sagen.)
Man redete - vor allem in der Literatur - viel und lang von der »Bewältigung der Vergangenheit«. Nun, ich wüßte keine Möglichkeit,
diese Vergangenheit zu bewältigen. (Vielleicht haben sie die am besten bewältigt, die sich in den ersten Maitagen 45 umbrachten.)
Solange wir leben, werden wir daran zu tragen, werden wir an diesen Wunden zu lecken haben. Dennoch werden wir mit unverheilten
Wunden ins Grab gelegt werden. Nur aktuelles Leiden gibt etwas wie ein Recht, Vergangenes zu vergessen. Doch statt zu leiden
haben wir genießen gelernt. (Der Wurm!)
Bei den Ostdeutschen lagen die Dinge anders. Sie haben lange und gründlich gelitten, sie haben die Suppe ausgelöffelt bis
auf den Grund. Sie haben also »gebüßt«, aber so, daß sie wieder die eigenen Leute (und dann auch die Tschechen) in eine Räuberhöhle
brachten, sie zur Unfreiheit verurteilten, zur Heuchelei erzogen ...
Wieviele Böden hat eigentlich der Topf der Geschichte?
In Österreich.
Ein Kapitel für sich.
Aber davon fange ich nicht an. Sonst wird der Brief noch einmal so lang.
Er ist ohnehin schon viel zu lang geworden.
Ich hoffe, er findet sie und Frau Jenka bei guter Gesundheit, und ich hoffe auch ein wenig, daß diese Epistel Sie nicht, sei
es durch ihre Länge, sei es durch ihren Inhalt, allzu ungeduldig stimmt.
Löwe Alois grüßt mit mir.
Ich wünsche Ihnen ein gutes Fest und ein glückliches gesundes Neues Jahr.
Ihre
Gertrud Fussenegger-Dorn
[3/ S. 33:] ANMERKUNGEN
1]
Gertrud Fussenegger (eigentl. Gertrud Dietz, geb. Pilsen 8. Mai 1912), österreichische Schriftstellerin, verbrachte die Kindheit
in Böhmen, zog 1921 mit ihren Eltern nach Telfs in Tirol, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München
und Innsbruck, Promotion 1934, begrüßte 1938 den Anschluß an das Deutsche Reich, distanzierte sich aber nach dem Krieg vom
Nationalsozialismus; vgl. dazu ihre Autobiographie »Ein Spiegelbild mit Feuersäule« (1979). Seit den 40er Jahren schreibt
sie Geschichts- und Zeitromane, Novellen, Erzählungen, Lyrik und Dramen.
2]
Der letzte, dritte Teil der Autobiographie Sperbers, 1977 in Wien beim Europaverlag erschienen.
3]
Alfred Rosenberg (Reval 12. Januar 1893 - Nürnberg 16. Oktober 1946, hingerichtet), deutscher Publizist und Politiker. Nachdem
er 1919 der NSDAP beigetreten war, leitete er deren Parteiorgan, »Völkischer Beobachter«, ab 1925 als Chefredakteur. Er trat
vehement gegen Judentum, Marxismus, Liberalismus und Demokratie ein.
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