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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Home > Rezensionen > Fanta: Rez. v. Deubel/Eibl/Jannidis (Hg.), Jahrbuch f. Computerphilologie
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Jahrbuch für Computerphilologie 1. Hg. von Volker Deubel, Karl Eibl und Fotis Jannidis. Paderborn: mentis 1999, 218 S., ISBN 3-205-99282-2, € (A) 78,30 / € (D) 78,30

Rezension

Walter Fanta

Entwicklungssprung
Was ist Computerphilologie?
Feld 1: Die digitale Publikation
Feld 2: Digital Literacy und Hyperfiction-Kritik
Feld 3: Rechnerische Unterwerfung des Literarischen
Resümee

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Sichtungen 3 (2000), S. 122-126
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2002-04-20
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Wir blicken auf drei Phasen zurück. Eine Phase, in der wir von maschinellen Anwendungen in Geisteswissenschaften nur geträumt bzw. solche Experimente auf Großrechenanlagen auch stattgefunden haben, ohne Auswirkungen auf die Wissenschaft (1960-1980). In einer Übergangsphase etwa von 1980 bis 1990 ging man in der Germanistik schrittweise dazu über, bei der Durchführung aufwendiger Editionsvorhaben PCs einzusetzen. In einer dritten Phase seit etwa 1990 wird das digitale Medium mit seinen Möglichkeiten auch Gegenstand der Analyse und Reflexion von Literaturwissenschaftlern. Längst gefordert, längst erwartet, im Internet mit Vorausversionen einzelner Beiträge angekündigt (vgl. http://computerphilologie.uni-muenchen. de), erscheint 1999 schließlich das erste von Germanisten herausgegebene Jahrbuch für Computerphilologie. In dessen bibliographischem Anhang - »Deutschsprachige Literatur zur Computerphilologie« - spiegeln sich die drei Phasen ebenso wider wie die Felder, innerhalb derer sich die neue Subdisziplin bewegt.

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Walter Fanta
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Was ist Computerphilologie? Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Computerphilologie definieren die Herausgeber in Abgrenzung von Kommunikations- und Informationswissenschaften sowie Computerlinguistik als Teilbereich des sogenannten »Humanities Computing«, der sich bei der Untersuchung historischer Sprachstufen und der Edition und Interpretation literarischer Texte des Computers bedient. Die neun Hauptbeiträge des Sammelbandes verdeutlichen in exemplarischer Weise, welche die heutigen Betätigungsfelder der Computerphilologie sind und zeigen zugleich - teilweise ungewollt - auch an, welche Probleme die neue Forschungsrichtung belasten. Allein damit erfüllt das Jahrbuch seinen Zweck. Bei derart rasanten Veränderungen, wie sie sich in der Computerwelt vollziehen, kommt dem Jahrbuch mit der ersten Nummer natürlich schon jetzt der Status einer historischen Publikation zu.

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Feld 1: Die digitale Publikation Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Bereits klassisch ist die Verwendung elektronischer Medien bei der Erfüllung der herkömmlichen philologischen Aufgabe der Textedition. Dabei geht es erstens - seit längerem - um Zuhilfenahme des Computers bei der Vorbereitung einer gedruckten Ausgabe, zweitens um die Veröffentlichung von sogenannten Hybrid-Editionen, bei denen die Buchausgaben durch CD-ROMs ergänzt sind - z. B. die Historisch-Kritische Ausgabe der »Sämtlichen Werke« von Gottfried Keller (vgl. den Beitrag von Walter Morgenthaler, S. 91-100) oder »Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte« (Hg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Gottfried Willems. Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1998), drittens aber um reine CD-Versionen literarischer Quellentexte - wie z. B. die Edition des literarischen Nachlasses von Robert Musil (Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992). Gemeinsames Kennzeichen digitaler Ausgaben ist, daß sie über ein Retrieval (automatische Suchfunktionen) und Hyperlinks (Verknüpfungen zwischen Textstellen bzw. zwischen Quellen- und Kommentartext) verfügen.

Einige der im Jahrbuch versammelten Aufsätze legen übrigens beredt davon Zeugnis ab, wie fast jede neue Edition auch eine neue Editionsphilosophie gebiert. Diese wird zum Teil von einem merkwürdigen Software-Fetischismus bestimmt. Die Schwärmerei für ihre Schriftsteller, von der prä-digitale Literaturforscher noch durchdrungen waren, ist jetzt vielfach ersetzt durch pubertäre Anhänglichkeit an bestimmte elektronische Formate (vgl. die Beiträge über MoveParser 3.1, XML, HTML, PDF). In Verbindung damit kommt es auch im Jahrbuch zu sprachlichen Manifestationen, wie sie bisher in philologischen Publi-Zur vorigen Seite [3/ S. 124:] Zur nächsten Seitekationsorganen noch nicht zu finden waren. Eine Kostprobe: »[Bildschirm-]Ausschnitte, selbst wenn sie, wie im Fall der Verwendung von PDF gelinkt werden können, sind in der Regel zu klein - oder zu groß« (Reuß, S. 105). Natürlich: gelinkt! Aber immerhin nimmt der Autor die stets zu kleinen oder zu großen Bildschirmausschnitte zum Anlaß, um für das Fortbestehen des Buchs zu plädieren, das die CD-Edition nicht ersetzen könne. Ein Leitmotiv, das sich quer durch die Beiträge zieht, ist dieser optimistische Glaube an eine weitere Zukunft des Buchs aller Digitalität zum Trotz - von solchen geäußert, die zugleich ihre elektronische Kompetenz unter Beweis stellen. Was aber die Computer-Editionen betrifft: Tatsächlich scheint bislang noch jedes Programm den literarischen Quellentext in einem mehr oder weniger vertretbaren Ausmaß vergewaltigt zu haben, und besonders beängstigend sind daher die periodisch wiederkehrenden Forderungen nach einem Standardformat für literaturwissenschaftliche Editionen. Ihre Erfüllung würde die speziellen Herausforderungen ignorieren, die praktisch jeder Quellenbestand an eine elektronische Edition richtet, und innovative Einzelunternehmungen in eine unhaltbare Außenseiterstellung verbannen.

Angesichts des allgemeinen Terraingewinns des digitalen Mediums ist mittlerweile freilich klar, daß der literaturwissenschaftliche Forschungsbetrieb als solcher heute am Netz hängt, daß philologische Tätigkeiten wie Bibliographieren und Quellenrecherchen bereits standardmäßig mit elektronischen Hilfsmitteln betrieben werden und Websites als Publikationsforen in absehbarer Zeit den herkömmlichen Zeitschriften den Rang ablaufen werden.

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Feld 2: Digital Literacy und Hyperfiction-Kritik Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Eine neue Aufgabe für die Literaturwissenschaft bildet die Analyse und Reflexion der neuen durch das digitale Medium gegebenen Textsituation. Das beginnt schon damit: Ist Wolframs »Parzival« einmal digitalisiert, dann müßte jeder Provinz-Mediävist, ja jeder Gymnasiallehrer in der Lage sein, die elektronische Ausgabe beurteilen zu können. Die Sinnhaftigkeit von in solche Editionen eingebauten Hyperlinks beispielsweise macht eine Erweiterung philologischer Kritikfähigkeit erforderlich. Einer der Jahrbuch-Beiträge setzt sich gleichsam stellvertretend mit einer der vielen neuen Literatur-CDs auseinander und führt vor, wie berechtigt die ›Sorge um den rechten Text‹ angesichts des Ansturms von weder urheberrechtlich noch philologisch legitimierten kommerziellen elektronischen ›Raubkopien‹ ist (Roland Kamzelak über »Enzyklopädie« von »arte chiffra«). Eine neue Philologen-Rolle? Vielleicht die des Textpolizisten im Netz und am wuchernden CD-Berg?

Zur vorigen Seite [3/ S. 125:] Zur nächsten SeiteDie CD-ROM-Rezensionen im Jahrbuch stellen die wichtigsten aktuellen Neuerscheinungen auf dem Gebiet elektronischer Literatur-Edition in einer Form zur Diskussion, die vor allem für den Literaturunterricht eine wertvolle praktische Hilfestellung sein dürfte. Deutschlehrer mit ihrem Auftrag zur Lese- und Medienerziehung sollten Strukturen der Internet-Kommunikation ebenso reflektieren können wie neue ans digitale Medium gebundene Formen von Literatur. Es ist klar, daß sich durch den Medienwechsel eine Erweiterung der Aufgabenradien von Literaturwissenschaftlern ergeben hat. Das Stichwort dazu: Hyperfiction. Das Jahrbuch trägt diesen Anforderungen durch zwei Beiträge im Aufsatzteil Rechnung (Jürgen Daibler, Roland Kamzelak), die sich der Problematik einführend, Kategorien bildend, nähern, nicht in Form spezialisierter Untersuchungen (die vielleicht heute noch gar nicht möglich sind). Immerhin werden auch in den Rezensionen Veröffentlichungen besprochen, die das Medienwechsel-Theorem, die neue Autorenrolle, Digital Literacy und Hyperkultur zum Thema haben. Wer sich darüber auf dem Laufenden halten will, wie neue Phänomene à la Hyperfiction und Cyberpunk-Literatur poststrukturalistische Texttheorien bestätigen oder widerlegen, wird also auf interessante Hinweise und Verweisungen stoßen.

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Feld 3: Rechnerische Unterwerfung des Literarischen Zum vorigen Abschnitt Zum nächsten Abschnitt

Die im Grund älteste und bis heute heikelste Aufgabe der Computerphilologie betrifft den Einsatz von Rechnern bei der Analyse und Interpretation literarischer Texte. Wie bei Umberto Ecos magischen Maschinen werden Verfahren entwickelt, der ästhetischen Wahrheit rechnerisch zu Leibe zu rücken; das ist, wie Jan Christoph Meister, einer der Apologeten, formuliert, »die Unterwerfung literarischer Texte und Verstehensprozesse unter das digitale Prinzip« (S. 80). Kein Zufall vielleicht, daß das am ausführlichsten dargestellte Projekt dieser Art unter dem Titel »Wie wird Literatur berechenbar« eine rechnergestützte literaturwissenschaftliche Analyse just des Alten Testaments zum Gegenstand hat (Christian Riepl). Ob sich nicht in der radikalen Formalisierbarkeit und Nachprüfbarkeit des im Grund textlinguistischen und nicht - wie behauptet - literaturwissenschaftlichen Ansatzes ein Rest eines ›theologischen‹ Bedürfnisses nach gesicherter Wahrheit versteckt hält? Wie auch immer, ich habe in den Berichten von Meister (literaturwissenschaftliches Programmieren mit MoveParser 3.1) und Riepl auch nicht andeutungsweise genuin literatur- oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen entdecken können. Wird also durch den Computereinsatz nicht die Kluft zwischen immer perfekter formalisierter positivistischer Textbereitstellung und Textaufbereitung undZur vorigen Seite [3/ S. 126:] einer gerade angesichts der unüberschaubaren Textmengen wieder luftig gewordenen Hermeneutik vergrößert?

Und noch eine Frage, die das philologische Selbstverständnis peinlich berührt: Muß eigentlich der Literaturwissenschaftler als Editor oder Analysator selbst programmieren können? Auch diese Frage pflegt um das Stichwort Computerphilologie zu geistern. Eine in den Augen des Rezensenten zu radikale Antwort - programmieren lernen! - findet sich am Ende von Meisters Aufsatz, der im Fall der Verweigerung fürchtet: »Die einen drehen die Hebel - die anderen - stiften den Sinn.« (S. 81; vgl. ergänzend dazu die Ausführungen von Fotis Jannidis in: Sichtungen 2, 1999, S. 196-203).

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Das Jahrbuch hat alle Aussichten, eine Institution zu werden. Dafür steht die breite thematische Streuung der Beiträge im ersten Band, die ›normalen‹ Germanisten den Anschluß erlaubt; dies wird durch die angepeilte Praxis unterstützt, Beiträge via Internet zu sammeln und flexibel vorab zu publizieren. Ein Garant dafür, daß das Unternehmen philologisch bleibt und nicht zu sektiererisch wird, ist wohl auch der im Hintergrund des Jahrbuchs stehende verdiente Goethe- und Musil-Herausgeber Karl Eibl.

Walter Fanta

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