Graz

Foto
Graz von innen. Grazer Autoren über ihre Stadt. Graz: Droschl 1985. Die Anthologie enthält auf S. 92-100 Peter Glasers Text "Stadt zu gehen" (siehe unten).

© PETER GLASER
Stadt zu gehen WIE AN EINEM SEELISCHEN FLUSS UFER lebt man in Graz am Rand eines leicht und unendlich hinströmenden Seufzens. Hier strahlen die Dinge erst auf, bevor sie geschehen.
Ein gutes Seufzen ist auch der Blick in die Landschaft. Das Aufatmen beginnt in der Ebene im Süden der Stadt. Eine von Dunst helle Weite verliert sich über der eigentlichen Stadtfläche, die aus dem Norden her eingefaßt wird von auslaufenden Bergzügen wie von einer großen grünen Beruhigung. Dann streicht das Ausatmen über das Verkehrsrauschen der Stadt zurück und wieder in die Ebene hinaus, und es zerfliegt in dem Begleitwind an der Autobahnböschung. Dieses Seufzen ist der Ton einer freundlichen Bedrückung, wie von einem übergewichtigen Liebhaber, und der Rauch über der Stadt erscheint als das graue Haar einer Schönheit und die Bläue darüber als eine unmerkliche Umarmung.
EINER WIE ICH, der in der Stadt aufgewachsen ist, kennt also die stillen Müdigkeiten des Wesens, die einen hier gelassen machen. Etwas Rundliches ist an jeder Rasanz. Den Bahnhofgürtel entlang steht eine Serie von Verkehrsampeln, die so weich blinken wie nirgendwo sonst in Europa.
Aus den Tiefen der Mentalität wirkt ein Magnetismus der Nachlässigkeit in die Grazer Menschen hinein, an dem die selbe freundliche Größe ist wie an den langwelligen Kammlinien der Berge am Rand der Stadt.

Andeutungen

ICH HABE NACHGEDACHT, ob ein ernster Antrag gestellt werden muß, den Fluß durch Graz nicht mehr Mur zu nennen, sondern Ach, die Ausrufung. Aber der Antrag ist lächerlich, so lange nur ein Funkeln auf den Wellen der Mur liegt für die Dichter und für die abendlichen Liebespaare, und darunter rutscht ein totes schwarzes Gewässer weg in den Süden, Leser. Blicke nun exemplarisch auf das Industriegut Buchseite vor Dir und stelle die Verbindung dazu her, daß die Mur auf dem Weg durch die Stadt bereits mehr Schmutzfracht führt als Wasser, den letzten Nebensatz noch einmal zu lesen, und daß in den Papierfabriken vor der Stadt, wie in allen Papierfabriken, 400 Liter Wasser aufgewendet werden, um ein Kilogramm Papier herzustellen, da kann man halt nichts machen.
Nun habe ich aber als Schriftsteller ganz ausdrücklich anfällig für Sehnsucht zu sein, und jedesmal, wenn mir wieder einer erzählt, er habe noch als Kind in der Mur gebadet und am Ufer gepicknickt oder geangelt, dann wird die Sehnsucht, dieses Flußbaden und dieses Ufer wieder zurück zu bekommen, so ungestüm, daß ich als Schlegel für den heiligen Zorn, in dem die Sehnsucht dann tätig wird, das beliebte Ausflugsziel Mariatroster Kirche ausreiße in meiner Vorstellung, um damit, als ein Sehnsuchtszornesriese, Papierfabrik für Papierfabrik zu zerschmettern, zurückzuzerstören, und dann das Ende der Vorstellung, auch wegen des Papiers, nicht mehr aufzuschreiben, sondern am Kaiser-Josef-Kai ein Geschäft aufzumachen für Murwasserbademoden und darin neben der modernen elektronischen Registrierkasse zu stehen und den Kunden Geschichten zu erzählen, die leisen Revolten.

WISSEN SIE, GNÄFRAU, auch der Kölner Dichter Brinkmann hat in seinem Meisterwerk "Rom. Blicke." die Mur erwähnt, übrigens ein Buch voll großer Genauigkeit und Verachtung. Er hat sie in einer trüben Stunde aus einem zum Kai gelegenen Zimmer im Hotel Weizer gesehen: Muuhr, würden die Einheimischen den Flußnamen aussprechen.
Wissen Sie, so tot dieser Brinkmann auch sein mag in der Zwischenzeit, jung gestorben, so sehr muß man da widersprechen, denn die Schreibweise ist ganz ungenau. Man müßte schreiben: Muua, mehr wie ein Gähnen, Sie stimmen mir zu.

ODER ICH ERZÄHLE von meiner Freundin Beverly in New York.
Sie saß auf der Fensterbank, es regnete dünn, und die Feuertreppe vor dem Fenster roch nach nassem Rost. In dem Zimmer hinter ihr leuchtete und flackerte es blau von einem Fernseher. Sie hatte Music Television Manhattan eingestellt, 24 Stunden moderner Pop, und dazu Filmsequenzen als führe man mit fünfhundert Stundenkilometern durch die Spielzeugabteilung eines japanischen Großkaufhauses, schnittiger, heiterer Elektroniksound dazu, und cuts on the beat.
Glaser kam mit dem Freund aus Graz, den er vom Flughafen abgeholt hatte, hereingestürmt. Der Freund jodelte hysterisch: es hörte sich an, als habe er gegen die Waschmaschine getreten.
Eine hübsche Frau in einem roten Dress aus Fallschirmseide eilte zwischen ihnen hindurch in die Wohnung.
Hello, sagte Beverly, du bist Rudi. Welcome. Du hast einen feinen Anzug an.
Salonsteirer, Rudi faßte sich an die Revers.
Saloonstyler, Beverly nickte. Sie lachte und ging Gläser holen.
In der Küche hastete die Frau mit dem roten Dress immer zwischen der Badezimmertür und dem Fenster zur Straße hin und her.
Du bist die Freundin von Rudi?
Ich bin die durchgehende Handlung, sagte die Frau im Vorbeilaufen, ohne Beverly dabei anzusehen.
Great, sagte Beverly. Trinkst du Melange mit Tequila?

RUDI HATTE MITGEBRACHT, worum Glaser in einem transkontinentalen Telefongespräch gebeten hatte: Eine Flasche mit schwarzem Kürbiskernöl, eine Grazer Tageszeitung und eine Kastanie in der grünen stacheligen Fruchtschale.
Sterne der Heimat, sagte Glaser und roch an den Strahlen der Kastanie.
Er nahm die Zeitung zur Hand und fühlte sich in zahllos ineinanderfliegenden Erinnerungen an zahllosen verschiedenen Tagen in immer ein und derselben seichten Versunkenheit in einem Café: sitzen und Zeitung lesen. Er schlug die Seiten mit dem Kleinanzeigen-Arbeitsmarkt auf und lachte wieder über den Rubrikentitel "Offene Stellen weiblich".
Der alte katholische Sexappeal, sagte er und strich zärtlich über das Blatt.
Draußen in der 44. Straße wurden nach und nach die Reklame Neons eingeschaltet. Eine Treppe aus roten Leuchtbalken glühte in Minutenabständen an der gegenüberliegenden Hauswand hoch. Du bist ein sentimentaler Affe, sagte Rudi umgänglich.
Glaser war begeistert. Er war auf das Innigste angerührt von jeder Waschpulverreklame, von jedem Wurstpreis in der Zeitung, als gäbe es im Herzen von Graz einen wunderbaren Supermarkt, in dem ihn seine Eltern einst gekauft hatten, und nach dem er sich nun heimwehkrank sehnte.
Ich bin eine Peter-Rosegger-Maschine, sagte er erhitzt vor Glück, und sie stießen mit dem schnapsscharfen Kaffee an, den Beverly nach Glasers Anleitung zubereitet hatte.
Kommst du auch aus einer märchenhaften Stadt mit ein paar Maschinenfabriken?, Rudi wandte sich an Beverly.
Ich bin aus Rome, Georgia, sagte Beverly. Rome, Georgia ist die Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Coca-Cola in der Welt.
Rudi hatte sich an das Fenster gestellt und er beobachtete durch die offene Tür die Frau in dem roten Dress in der Küche.
Gibt keine Skyline in Graz, sagte er. Keine Stadt für King Kong. Der würde da einen Bandscheibenschaden kriegen. Er könnte sich nur auf den Schloßberg draufsetzen und sich das Augartenbad mit Kaffee anfüllen lassen und es gemütlich austrinken.

JA, KINO, sagte Glaser. Deswegen mußte ich weggehen aus Graz. Das Großstadtleuchten in den Filmen hat mich in die Welt hinausgelockt.
Es ist in Graz wunderbare Gelegenheit, zu flanieren, zu gehen, ein Gänger zu werden wie ich. Durch Hügel aus Herbstlaub zu waten, unter den Gaslaternen an den Wegen im Stadtpark, und in der Innenstadt die Lichter aus den Auslagen und die Leuchtschriften von den Fassaden mit den Augen auszutrinken, immer im Gefühl einer glimmenden Unzufriedenheit, daß die Lichter der Stadt nicht in der vollkommenen großstädtischen Pracht leuchten über einem Boulevard. Immer zu gehen, bis man eine ganz selbstbewußte Ziellosigkeit erreicht hat, das geht.
Es gibt nur zwei, drei Stellen, an denen das nächtliche Graz eines jener großstädtischen Bilder abgibt, in denen ich als in einem raumtiefen mythischen Kinobild auflebe, als wäre der Ort einer Sehnsucht gefunden.
Eine Stelle ist die Straßenkreuzung von Gürtel und Kärntnerstraße, beides Durchfahrtstraßen die so stark befahren sind, daß der Straßenbelag an der Gehsteigkante zu einer kleinen Welle aufgeschoben ist. Nachts leuchtet über der Kreuzung oranges Licht von Jodidlampen, das unirdisch hell von den Buchstaben und Kilometersummen auf den straßenbreiten blauen Wegweisertafeln widerleuchtet, und man sieht von der Kreuzung aus den monolithischen flachen Block des Interkauf-Zentrums, vor dem dünne Stahlseile im Wind an den Fahnenmasten scheppern. Schön ist die trostlose und unbarmherzige Strenge solcher Architekturen, flankiert von langen Plakatwänden und leeren Grundstücken, auf denen zerbrochene Weinflaschen glitzern.
Es ist also in Graz wunderbare Gelegenheit zu gehen, am süßen Mörtelgeruch der alten Häuser entlang im Sommer, oder während einem die Schatten der schmiedeeisernen Zaunspeere vor dem Elisabethinerkrankenhaus über das Hemd streifen, nichts in den Händen zu tragen, nur zu gehen, durch einen feinen Schneefall die mondglänzenden Straßenbahnschienen in der Annenstraße entlang, oder an einem Spätnachmittag in der Josef-Hubergasse im März einem staubschwebenden und schwer gelben Spätnachmittagslicht zu begegnen, immer zu gehen, bis man endlich in aller Beschaulichkeit halb wahnsinnig geworden ist vor Sehnsucht nach wilden, rasenden, turbulenten und gluthell erleuchteten großen Städten, und alle anheimelnden Grazer Gasthausgärten und behaglichen alten Bürgerhäuser, und auch die Nachtclubs, als würde langsam die Luft aus ihnen entweichen, schrumplig und reizlos und langweilig geworden sind. Dann geht man weg oder man wird wie ein leerer Briefkasten.

ES IST ZEIT, sagte die Frau in dem roten Dress am nächsten Tag. Rudi hatte die Wohnung übernommen, und Glaser und Beverly machten sich auf den Weg zum Flughafen.
Während die Stewardessen die Sicherheitsroutinen ansagten und das monotone Fauchen der Triebwerke einsetzte, beugte Beverly sich zu Glaser, der neben dem Fenster saß, und küßte ihn scharf. Sie hatte, um ihm eine Freude zu machen, eine Strähne in den steirischen Landesfarben in ihr blondes Haar gefärbt, grünweiß.
New York verschwand, der Ozean kam, und Glaser erläuterte ihr die erotischen Allegorien der Grazer Innenstadtstraßen, während an die Passagiere Getränke verteilt werden, die Achse Sackstraße-Herrengasse, keusch abgeschlossen von der Mariensäule am Eisernen Tor, die Pomeranzen-, Jungfern- und Frauengasse, die von der Herrengasse - die im übrigen eine breite und zentrale Straße ist - einmünden in die engen Quartiere der Altstadt. Beverly hörte ihm zu mit einem Schülerinnengesicht und brachte durch den Strohhalm den Orangensaft in ihrem Becher heftig zum Brodeln.
Aber, sagte Glaser gestrenge, und er hatte einen Moment lang den Eindruck, daß die rechte Tragfläche Feuer gefangen habe, aber ich will dir auch die Wurmbrandgasse zeigen, damit nicht alles verklärt wird. Und auf einem kleinen Rasen vor dem Landesmuseum steht ein alter Schmiedehammer aus langem Holz und Eisenreifen, aus der Vergangenheit der erzreichen obersteirischen Regionen, der Schwanzhammer heißt.
Beverly guckte unverschämt.
Die Frau in dem roten Dress, die auf der anderen Seite in ihrer Reihe Platz gefunden hatte, rang die Hände, weil nichts passierte.

DIE MASCHINE FLOG eine Schleife zum Landeanflug auf den Amsterdamer Flughafen und Glaser dachte nach, ob es Liebe war.
Ist es eine Liebe zu Graz? Jedesmal, wenn er nach Monaten oder einem Jahr wieder ankam, war er wild gerührt vor Wiedersehensfreude und jede Einzelheit schien umarmenswert, jedes schwarze Nummernschild an einem Auto mit einem G vor der Zahl, jede Straßenbahnhaltestelle, jeder unebene Asphaltflicken auf einer Straße, als leuchte daraus das Eigenste der Stadt hervor. Und wie fabelhaft und durchdringend war das Ankommen, wenn er den städtischen Dialekt im Taxifunk hören konnte.
Wenn er wieder in der Stadt stand, gab es jedesmal das Gefühl, vom Mars gekommen zu sein, so unvorstellbar wurde mit einem Mal jede andere Umgebung.
Das zweite Gefühl war, siegreich zurück gekommen zu sein; obwohl nichts gewonnen war als ein Abstand.
Die eigentliche Tiefe erreichte das Ankommen dann im Kreis der Freunde und der Verwandtschaft, in den eingeborenen Verhältnissen, die wie ein tropisches Biotop wimmeln von geteilten Erinnerungen und gemeinsamen Geschichten, Affären, Kindern und Toten. Soweit zurückgekommen nach Graz, in den ersten Stunden, die er wieder in der Stadt verbrachte, stiegen ihm die Tränen in die Augen angesichts der Glasfront eines Zigarettenautomaten am Hauptplatz, in der sich eine verlorene Liebesgeschichte spiegelte, und er wollte in Jubel ausbrechen, da der Klimavorhang am Haupteingang des Kast[n]er & Öhler-Kaufhauses unverändert aus dem Bodengitter blies und sich ein Bettler darin vor der kalten Herbstluft wärmte.

BEREITS IM ÖSTERREICHISCHEN LUFTRAUM, dachte Glaser, daß ein Flugzeug sich in der Nähe von Graz ganz natürlich in einen Flugsaurier verwandeln müsse, zumindest aber in eine Art aluminiumglänzenden Nachen, der aus den Zeitläufen hinausgetrieben würde. Wie bei vorangegangenen Flugreisen war er ungehalten darüber, daß die Landschaften nicht beschriftet waren. Beverly fühlte, wie er sich unruhig in seinem Sitz bewegte und wild wurde von den namenlosen Gebirgszügen und Tälern, die sie überflogen.
Flugzeuge und Autobahnen und Fernseher sind Dinge, sagte Glaser, die nur davon ablenken sollen, wie famos und milde abgelegen Graz von den schnellen, aufrauschenden internationalen Zeitströmungen liegt, trotz großer Festivals wie dem steirischen herbst. Es wird immer wieder versucht, diese nette Abseitigkeit zu vertuschen, die ja wahrhaftig kein Mangel ist, sondern ein Lächeln in der Landschaft, ein Ort, an dem die Kunst des Müßiggangs noch gepflegt wird, wenn man nicht gerade entflammt ist an der lodernden Nervosität von Metropolen.
ES IST GANZ UNMÖGLICH, sagte er, sich Graz in der gemäßen Weise zu nähern, wenn man mit dem Flugzeug ankommt.
Berlin, Paris, Moskau sind Städte, die ich mit dem Flugzeug erreiche. In Athen etwa muß man mit dem Auto eintreffen, nachts, in Wien auch, um das Lichtermeer zu sehen von dem Autobahnzubringer aus. Wobei wir heute eine Ausnahme machen werden, in Wien landen und dort in den Zug umsteigen.
Du mußt jetzt aufhören zu reden, sagte Beverly, wir gehen runter.

IN EINEM WEITEN BOGEN führt die Bahnstrecke durch das nördliche Vorfeld und in eine Verengung des Murtales vor der Stadt hinein, in der gerade eine Schar Häuser, die Weinzödl heißen, der Fluß, die Pyhrn-Autobahn und die ein paar Meter erhöhte Bahntrasse nebeneinander liegen.
Beverly zog das Fenster auf und ihr Haar flog im Fahrtwind.
Glaser war es, als röche er die Stadt in dem Aroma der Bahnschwellen und dem süßen Gestank von Ablaugen, die es aus dem Fluß herantrug. Er zeigte die Felswand unter dem Jungfernsprung hoch, dahinter stünde die Burgruine Gösting.
Jungfernsprung, sagte Beverly. I must not jump. Glaser biß ihr vor Aufregung über die bevorstehende Ankunft in die rechte Schulter, zeigte ihr die Aral-Tankstelle an der Wienerstraße, die parallel zur Bahn in die Stadt hinein verlief, und erzählte von einem Mopedunfall, den er davor einmal erlebt hatte.

IN DER BAHNHOFSHALLE spähte er wie ein Quarterback umher, ob sie vielleicht durch Zufall jemandem, den er kannte, über den Weg liefen. Die Frau in dem roten Dress kümmerte sich inzwischen um ihr Gepäck. Glaser fühlte sich, als wäre er aus einer helleren, schärferen Zukunft in eine behaglich angegilbte und ein wenig abgenutzte Gegenwart gereist.
Sie gingen.
Er befand sich in dem Stadtbild, das er schon in zahllosen Begehungen erkundet und durchdrungen hatte, wohl. Beschwingten Schrittes versuchte er Beverly auseinanderzusetzen, worin die subtilen Heiterkeiten etwa eines Bergnamens wie "Plabutsch" für jemanden liegen, der sowohl Grazer ist, als auch zwanzig Jahre lang Micky Maus gelesen hat.
Beverly roch an der Auslagenscheibe eines Fachgeschäfts für Modelleisenbahnen.

ABENDS SCHIMMERTEN die Keglerpokale in den Wirtshäusern. Die Straßenbahn kam nicht. Sie ist grün und weiß. Stahlarbeiter saßen beim Gulasch, am müden Rand der Alpen.
In der Stadt: Zigarettenstummel (Smart Export), Fachgeschäfte (Don Claudio, Ehehygiene), Spiegelungen, Liebesgeschichten, Staub und Kastanienalleen. Nichts los. Hundert Kilometer zum Meer, vielleicht zweihundert. Die Luft trägt jedenfalls nicht so weit, daß man eine Schiffssirene aus Dubrovnik hören könnte.
Mit Beverly am Fluß sitzen und an das Meer denken. Mit Beverly in das Café Nordstern gehen, dann in eines der anderen, renovierten Cafés in der Innenstadt mit ihrer dezenten Puffatmosphäre und den viel zu kleinen, dunklen Mustern auf der Möbelbespannung, auf den Tischen Plastikfeuerzeuge in den Landesfarben. Dann Wurstsemmeln, rote Futterautomaten im Stadtpark und eisblaues Licht aus den Operationssälen in den oberen Geschossen des Vorklinikums. Die Fußmassagemaschine vor dem Schloßbergrestaurant, und die eiskalten Wasserbecken über der Rosarium-Tiefgarage und das Glück im Vorbeigehen, das Glück einer Heimat.
Auch hier tragen manche Mädchen Nylonstrümpfe, dozierte Glaser, und der eine oder andere Bauernsohn spielt Fenderpiano. Unsere Fernsehabende sind genauso weltweit wie anderswo, und wenn man schon am Vormittag zu viel Enzian oder Pfefferonischnaps getrunken hat, glitzert ein goldenes Naturschnitzerl weitab am Horizont.
Nachts lauerten Parkettböden, Coca-Cola und eine zarte, einschläfernde und seltsam freundliche einheimische Tristesse am Rand der Orgasmen. Dann spiegelte sich der Steirische Panther im knallroten Nagellack von Beverly, und schnelle, weite Musik schlug zusammen über ihren Körpern wie eine unsichtbare Falle.

Aus: GRAZ von innen. Grazer Autoren über ihre Stadt. Graz: Droschl 1985, S. 92-100. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.


last update 01.08.2013