Entstehungskontext
Den ersten Hinweis auf die Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung liefert ein Brief Peter Handkes an Henning Falkenstein Anfang 1973, in dem er einen Vorausblick auf seine nächsten geplanten Projekte gibt: »Ich arbeite im Moment an einem Theaterstück: "Die Unvernünftigen sterben aus"; dann will ich eine Erzählung schreiben "Die Stunde der wahren Empfindung"; dann einen Roman "Im tiefen Österreich".« (Falkenstein 1979, S. 89) Die Erzählung ist sein erster längerer Prosatext nach Wunschloses Unglück. Das im Brief an Falkenstein ebenfalls angekündigte Stück Die Unvernünftigen sterben aus hatte Handke noch 1973 plangemäß fertiggestellt, ebenso sein Drehbuch Falsche Bewegung, das als Buch im Juni 1975 erschien.
Entstehungsort und Umfeld
Der Handlungs- und Entstehungsort der Erzählung ist das Quartier Auteuil im 16. Pariser Arrondissement Passy, wo Handke von Dezember 1973 bis 1976 zusammen mit seiner Tochter lebte. Die Ankunft dort wurde später in der Kindergeschichte beschrieben: »Dezembertag der Ankunft in der düsteren Mietswohnung, aufgehellt von dem blinkenden, mit Bachgeräuschen dahinfließenden Wasser draußen im Rinnstein [...]« (Kg 75). Einige Stationen der angrenzenden (heute ehemaligen) Bahnlinie Petite Ceinture werden in der Stunde der wahren Empfindung erwähnt, z.B.: »Laß uns lieber die Eisenbahngleise entlang hinauf nach Passy gehen. Ich möchte jetzt gehen, nur geradeausgehen« (DSE 102). Sowohl der Protagonist der Erzählung, Gregor Keuschnig, als auch die weitere Figurenkonstellation weisen Anspielungen und Ähnlichkeiten zu Handkes persönlichem Umfeld auf: Wie auch Keuschnig war der mit Handke befreundete Walter Greinert Pressereferent der österreichischen Botschaft in Paris; ein mögliches Figurenvorbild war vielleicht auch Hans Brunmayr (laut Alfred Kolleritsch: »der dicke Brunmayr«), der Leiter des österreichischen Kulturinstituts, bei dem Handke »[e]inmal [...] mit einigen würdigen Dichtern [...] zum Essen eingeladen« war (Handke / Kolleritsch 2008, S. 68 und S. 71). Zuletzt spielt Handke auch auf sich selbst an, als »österreichische[r] Schriftsteller, der gerade in Paris wohnte« (DSE 34).
Literarische Bezüge
Der Erzählung werden Bezüge zu Handkes eigener Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Franz Kafkas Die Verwandlung und Jean-Paul Sartres Der Ekel attestiert, wenngleich Handke selbst die Unterschiede vor allem zu Letzterem betont (Nägele / Voris 1978, S. 62-63; Arnold 1976, S. 28). Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels weist Hans Höller als Zitatvorlage für die im Text vorkommende zentrale Stelle »Was Namen als BEGRIFFE nicht vermögen, leisten sie als IDEEN« (Höller 2007, S. 73) nach.
Schreibbeginn und erste Textfassung
Seinem Verleger Siegfried Unseld kündigte Handke bereits am 31. Jänner 1974 den absehbaren Beginn seiner Arbeit an Die Stunde der wahren Empfindung an, zusammen mit dem Vorsatz: »Ich möchte versuchen, jeden Tag zu arbeiten.« (Handke / Unseld 2012, S. 242) Unseld reagierte am 5. Februar mit großer Zustimmung zur Titelgebung (Handke / Unseld 2012, S. 243). Doch obwohl Handke auch seinem Freund Alfred Kolleritsch am 7. März 1974 – ohne noch einen konkreten Titel zu nennen – in einem Brief mitteilte, schon »in der nächsten Woche eine lange Geschichte« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 71) anfangen zu wollen, verschob sich der Schreibbeginn um mehrere Monate. Handkes Lektor für Die Stunde der wahren Empfindung war mit großer Wahrscheinlichkeit Thomas Beckermann, den er bereits vor Schreibbeginn, im Mai 1974, im Verlag besuchte (Handke / Kolleritsch 2008, S. 76), allerdings ist aus dem Entstehungszeitraum keine Lektoratskorrespondenz erhalten. Siegfried Unseld war, wie seinem Reisebericht Berlin, 6.-8. Juni 1974 zu entnehmen ist, darüber informiert, dass Handke »an seiner Erzählung [sitzt]« (Handke / Unseld 2012, S. 260), was bereits ein Hinweis auf das Sammeln von Notizen vor der Niederschrift der ersten Textfassung sein könnte. Bestärkt wird diese Annahme durch die Mitteilung, dass er sich noch »mit Herumfahren im Bus, Gehen, Sitzen und vor allem Schauen« auf »eine lange Geschichte« vorbereite, »die "Die Stunde der wahren Empfindung" heißen« solle, wie aus einem Brief vom 11. Juli an Hermann Lenz hervorgeht. Die mit großer Sichereit auf diese Weise entstandenen Notizbuchaufzeichnungen sind bislang nicht dokumentiert, allerdings erwähnt Handke das Notieren als Grundlage für die Erzählung im Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: »Daß ich hier [...] in "Die Stunde der wahren Empfindung", viele Notizen verwendet habe, liegt eben daran, daß es für diesen Helden keine Ganzheit, keine Einheit, keine Harmonie gibt. [...] und vor allem nimmt die Hauptfigur Keuschnig die Welt [...] nur noch als eine unordentliche Welt von Einzelheiten wahr. Deshalb waren in diesem Falle Notizen wichtig« (Arnold 1976, S. 25).
An Hermann Lenz schrieb er, dass seine Tochter ab 13. Juli für sechs Wochen verreisen würde, wodurch er sich Zeit für die Niederschrift der Erstfassung versprach (Handke / Lenz 2006, S. 50-51). Am 17. Juli erschien im Suhrkamp Verlag der Sammelband Als das Wünschen noch geholfen hat, den Handke in der ersten Jahreshälfte 1974 zusammengestellt hatte, und ein Monat darauf, am 17. August, sandte er ein erneutes »Lebenszeichen« an Hermann Lenz, demzufolge er »fürchterlich [schreibe], gestern zehn Stunden, aber langsam steigt ein Licht auf in den Zeilen [...] Heute bin ich wenigstens einmal mit meinen vorgenommenen 60 Zeilen schon nach 6 1/2 Stunden fertig [...]« (Handke / Lenz 2006, S. 52-53). Am 23. August berichtete er auch an Kolleritsch, dass er »seit 33 Tagen täglich« schreibe und dann »erst ab 20.9. weitertun« könne (Handke / Kolleritsch 2008, S. 77) – diese Angeben weisen auf einen Schreibbeginn am 21. oder 22. Juli 1974 hin. In einem ebenfalls am 23. August verfassten Brief an Siegfried Unseld erwähnt er, »in einer Woche Amina abholen« zu müssen und »erst am 18.9. weiterschreiben« zu können (Handke / Unseld 2012, S. 264). Die Schreibpause bis zum 20. September ist anhand der Datierung des Typoskripts belegt. Am 25. September gab er Lenz gegenüber an, noch »eine Woche« bis zur Fertigstellung zu brauchen (Handke / Lenz, S. 56), obwohl dieses Datum bereits den Abschluss der ersten Textfassung kennzeichnet.
Bleistiftmanuskript und Zeichnung
Für den 50. Geburtstag von Siegfried Unseld am 28. September 1974 fertigte Handke am 27. August eine detailreiche, kolorierte Zeichnung als Beitrag zu einer Geschenksmappe der Suhrkamp-Autoren an, die verschiedene Motive (z.B. die Fassade der österreichischen Botschaft oder die später in einem Notizbuch zur Linkshändigen Frau erwähnte »Epson Tavern«) zeigt und den Beginn der Erzählung in Handschrift enthält. Mit dieser Zeichnung nahm Handke das Erscheinungsbild seiner Notizbuchzeichnungen Ende der 1970er-Jahre und der Bleistiftmanuskripte Ende der 1980er-Jahre vorweg (Handke / Unseld 2012, Abb. 7).
Zweite Textfassung
Die Abschrift der ersten Textfassung zu einer korrigierten zweiten Textfassung stellte Handke im Oktober 1974 her. Aus einem Brief an Alfred Kolleritsch geht hervor, dass er um den 22. Oktober mit der Abschrift seines Manuskripts (gemeint ist die überarbeitete Erstfassung) beschäftigt war und »außer Rückenschmerzen eigentlich wenig Gefühle dabei« habe: »Die Sehnsucht vom "Kurzen Brief..." [sei] nicht mehr zu wiederholen.« (Handke / Kolleritsch 2008, S. 78) Ähnliches schreibt er am selben Tag an Hermann Lenz: »Ich geize mit der Zeit im Moment, um meine Geschichte endlich fertig abzutippen [...]« (Handke / Lenz 2007, S. 60). Eine genaue Datierung der zweiten Textfassung ist allerdings aufgrund fehlender Zugänglichkeit der Materialien und der nicht vorhandenen Lektoratskorrespondenz nicht rekonstruierbar.
Druckfahnenkorrektur und Umschlaggestaltung
Die Herstellung und die Korrektur der Druckfahnen, die vermutlich zwischen Oktober und Dezember 1974 stattgefunden hat, ist weder durch Materialien noch durch Korrespondenz belegt. Peter Handke besuchte seinen Verleger Siegfried Unseld am 3. Jänner 1975 in Frankfurt zur Besprechung der Umschlaggestaltung von Die Stunde der wahren Empfindung. Dabei fiel die Entscheidung auf ein eigenes Foto (getrocknete Blätter auf Papier) anstatt einer Zeichnung von Peter Pongratz. Handke hatte selbst verschiedene Varianten des Coverfotos hergestellt (siehe Abbildungen). Am 5. Jänner 1975 sandte Peter Handke aus Stuttgart, er besuchte dort Hermann Lenz, seine letzten Korrekturen (»Ich habe vorgestern und gestern korrigiert«) zurück. Er wünschte sich für den Umschlag eine schlankere Schrift, eine Vergrößerung des abgebildeten Fotos sowie eine inhaltliche Verbesserung am Klappentext. Berücksichtigt wurde nur noch die Korrektur des Klappentexts, eine nochmalige Änderung der Umschlaggestaltung lehnte Unseld am 10. Jänner ab (Handke / Unseld, S. 268-270).
Erstausgabe und Reaktionen
Über Unselds Mitteilung, dass bereits 5000 Stück vorbestellt seien, gab Handke sich am 21. Februar »[r]ichtig enttäuscht« (Handke / Unseld 2012, S. 274). Auch über die aus seiner Sicht mangelnde Anteilnahme Unselds am Werk klagte Handke: »[...] als ich das Manuskript Dir zukommen liess, hast Du Dich nicht, wie bis dahin immer, nach der Lektüre vor mir geäussert. Ich sage offen, dass ich unruhig war [...] Du sagtest einem Autor, der ja immerhin schon einigermassen gelesen wird, als zweiten Satz: "Dieses Buch wird seine Leser finden." [...] Nun nehme ich an, dass dieses Buch Dich nicht interessiert.« (Handke / Unseld 2012, S. 275) Den Vorwürfen Handkes entgegnete Siegfried Unseld am 3. März mit einer Erläuterung des Verbreitungs- und Werbekonzeptes und Handke gab sich am 7. März wieder besänftigt (Handke / Unseld 2012, S. 277-281). Das Buch erschien im Suhrkamp Verlag am 12. März 1975 zum relativ niedrigen Verkaufspreis von 19,80 DM, den Handke sich am 23. Jänner ausdrücklich erbeten hatte (Handke / Unseld 2012, S. 271).
Am 30. März reagierte Hermann Lenz mit einem Brief positiv auf den Text, während am 24. April Handke eine etwas mürrische und erklärende Replik an Alfred Kolleritsch sandte, der in einem – nicht dokumentierten – Brief wohl ebenfalls in unzufriedenstellender Weise über die Erzählung geschrieben hatte (Handke / Kolleritsch 2008, S. 84-85). Am 30. April teilte er Lenz mit, dass das Buch Platz Nr. 7 auf der Spiegel-Bestsellerliste erreicht habe (es blieb in der Liste bis zum 14. Juli) (Handke / Lenz 2007, S. 74). Am selben Tag kündigte Unseld bereits den Druck der zweiten Auflage an (Handke / Unseld 2012, S. 287).
Verfilmung
Unter der Regie von Didier Goldschmidt wurde Die Stunde der wahren Empfindung mit dem französischen Titel Ville étrangère verfilmt und im Mai 1988 beim Internationalen Filmfestival in Cannes uraufgeführt. (ck)
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Taschenkalender 1972
Notizbuch, 344 Seiten, ohne Datum [??.??.1972 bis ??.??.1973] -
Die Stunde der wahren Empfindung (Textfassung 1)
Typoskript 1-zeilig, 45 Blatt, [20.07.1974 bis] 25.09.1974 -
Die Stunde der wahren Empfindung (Textfassung 2)
Typoskript 2-zeilig, Kopie, 145 Blatt, ohne Datum [??.09.1974 bis ??.10.1974]