Die linkshändige Frau

Notizbuch, 56 Seiten, ??.11.1975 bis ??.01.1976

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Das Notizbuch mit dem Projekttitel »Die linkshändige Frau«, das Peter Handke nachträglich auf November 1975 bis Jänner 1976 datierte, enthält erste Skizzen zu vier Strophen Gedichts Das Ende des Flanierens, die er zum Teil im Folgenotizbuch (ÖLA SPH/LW/W9) wieder aufnahm und weiterentwickelte. Das Gedicht erschien mit 18 Strophen am 5. März 1976 in Die Zeit und wurde im selben Jahr in der gleichen Fassung als exklusiver Einzeldruck mit Linolschnitten in dem kleinen österreichischen Verlag Davidpresse von Hermann Gail als publiziert. Die Skizzen wurden im Gedicht in eine andere chronologische Reihenfolge gebracht und die einzelnen Strophen zum Teil aus mehreren Einträgen montiert. Ob Handke zum Zeitpunkt des Notierens bereits dran dachte, ein Gedicht zu schreiben, geht aus den Skizzen nicht hervor, aber er probierte zumindest beim Entwurf zur Strophe 17 eine andere Variante aus, was auf die Absicht, ein Gedicht zu schreiben, schließen lässt.

Strophe 9

Der Entwurf zur Strophe neun, die im Erstdruck beginnt: »Betrunken um Mitternacht: [/] In der Cafétoilette [/] vor dem Abfluß im Boden stehend [/] pißt du plötzlich gegen ein gotisches Kirchenfenster« (DEFa) lautet: »pissen im Pissoir gegen ein [/] Kirchenfenster (der Abfluß) [/] plötzlich sieht er eine vorbeiziehende [/] Leuchtschrift mit den letzten Nach- [/] richten: die überirdische Métro gegen [/] Mitternacht vor der Station [/] (Sèvres-Lecourbe)« (S. 27). Die im Entwurf namentlich genannte Métrostation ist neben einer Erwähnung des Boulevard Montmorency die einzige Ortsangabe im Notizbuch; sie wurde nicht in das Gedicht übernommen. Aus der »Leuchtschrift mit den letzten Nachrichten wurde eine »bewegliche Leuchtschrift mit den [/] Tagesnachrichten deiner Feinde« (DEFa).

Strophe 13

Aus den beiden an unterschiedlichen Stellen im Notizbuch eingetragenen Skizzen: »mit geschlossenen Augen sitzt [/] die Frau in der Metro, als ob [/] sie auf den Tod wartet« (S. 17) und »Die Kassiererin, die den Plastiksack [/] ihm zuwirft, hinter sich, ohne sich umzu- [/] schauen: mit einer seltsamen Genugtuung [/] empfängt er diese verächtliche Geste [/] im schäbigen Warenhaus« (S. 31) setzt sich im Erstdruck die 13. Strophe des Gedichts zusammen: »Im Métrowagen sitzt auf einem Klappsitz [/]eine Frau mit geschlossenen Augen [/] als ob sie da auf den Tod warte [/] Daß die Kassiererin im Supermarkt ihr [/] den Plastiksack hinwerfen wird [/] ohne sich nach ihr umzudrehen [/] wird sie erzittern erzittern lassen [/] vor still triumphaler Genugtuung« (DEFa).

Strophe 16

Die Vorlage zur 16. Strophe im Erstdruck dürfte um den 30. November 1975 entstanden sein, der folgende Notizbucheintrag wurde zumindest mit diesem Datum versehen. Die Skizze lautet: »Die Lebensaugenblicke, die vor [/] einem wegspringen wie Katzen zwischen Gräbern großer Friedhöfe [/] Katzen, die vor einem weg- [/] springen zwischen den Gräbern [/] großer Friedhöfe wie Lebensaugen- [/] blicke« (S. 26). Handke änderte bei seiner Überarbeitung die Reihenfolge von »Katzen« und »Lebensaugenblicken« und versah die Strophe mit einer Zeitangabe und einer Lokalisierung. Sie beginnt im Erstdruck: »Cimetière Montparnasse: [/] Am Nachmittag [/] und die Katzen springen zwischen den Gräbern wie Lebensaugenblicke [/] Lebensaugenblicke springen wie Katzen« (DEFa) Die in der Ausarbeitung zugefügte Lokalisierung »Cimetière Montparnasse« (DEFa) findet sich nicht im Notizbuch.

Strophe 17

In den Entwürfen zur Strophe 17 des Erstdrucks mit dem Anfang: »Zufrieden mit einer Arbeit [/] gehst du ins Café [/] […]« (DEFa) probierte Handke zwei Varianten. Er notierte zuerst: »Es war ein Spätnachmittag im November Oktober [/] Ich hatte eine Arbeit fertig und [/] ging ins Café [/] Ich war zufrieden [/] Es wurde dämmerte draußen und [/] Ich stand an der Musikbox und [/] an der Theke stand eine Frau mit [/] weißen Stiefeln [/] und ich dachte: Jetzt müßte das [/]Gedicht eigentlich weitergehen« (S. 19f.). Drei Seiten weiter veränderte er die Strophe zu: »Es war \{sonntäglich}/ Ein Sonntagnachmittag [/] Ich war Zufrieden mit dem, [/] was ich getan hatte [/] und ging \ich/ in ein Café [/] wo es dann Abend wurde [/] Ich stand an der Musikbox, [/] und an der Theke stand eine [/] Frau in weißen Stiefeln [/] und ich dachte: [/] Eigentlich müßte dein das Gedicht [/] jetzt weitergehen« (S. 22). Für den Erstdruck verwendete Handke die Du-Form »gehst du« oder »Du stehst« (DEFa). (kp)

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorlage): 

Die Linkshänderin [S. I]; Die linkshändige Frau [S. I]

Beteiligte Personen:  Amina Handke
Entstehungsdatum (laut Vorlage):  Nov 75-Jan 76; 21.11.1975 [S. 24]; 30.11.75 [S. 26]
Datum normiert:  ??.11.1975 bis ??.01.1976
Entstehungsorte (laut Vorlage): 

Bd. Montmorency [Paris, S. 19]; Sèvres-Lecourbe [Métrostation in Paris, S. 27]

Materialart und Besitz

Besitz:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

1 türkises Notizbuch, I, 56 Seiten unpag., I*; von Handke auf vorderen Umschlag geklebter Papierstreifen mit Datierung »Nov 75-Jan 76«

Format:  9,6 x 14,7 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, rot), Fineliner (schwarz), Bleistift

Nachweisbare Lektüren

  • über Franz Kafka (S. 20)
  • Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen (Zitat: S. 27)
  • Lili Brik über Wladimir Majakowski (Zitat: S. 29)
  • Unbekannte Quelle des Zitats: »J’attends d’un homme qu’il m’aime pour ce que je suis et pour ce que je deviendrai. J’attends qu’il me rendre forte, pas qu’il m’affaiblisse. […]« (S. 7)
  • Unbekannte Quelle des Zitats: »das Bewußtsein der Toten rollt mit den Kieseln im Bach« (S. 17) 
  • Die unbekannte Geliebte (S. 31; evt. ist Vincente Minnellis Film Der unbekannte Geliebte gemeint)

Filme:

  • Vergleich der Filmästhetik von Jean-Luc Godard und François Truffaut mit Szenennotizen zu den Filmen L'Histoire d'Adèle H. (Truffaut) und Numéro Deux (Godard) (S. 42-47; vgl. Peter Handkes Aufsatz: »Mr. Curtiz lebt nicht mehr hier«, in: Spiegel, 27.10.1975; auch in: DEF 83ff.)
  • über Filme von Louis Malle und Claude Lelouch (S. 45)
  • Erwähnung von Jean Renoir: La Régle du jeu im Vergleich zu Jean-Luc Godard: Numéro deux (S. 52)

Musik:

  • Gustav Mahler, als Filmmusik (S. 45)
  • Paul Simon: Duncan (S. 56)

Malerei:

  • Barnett Newman (S. 4)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

mehrere Kinderzeichnungen von Amina Handke: ein Boot und ein Fisch  mit einer Sprechblase im Wasser (S. 32), Fische und eine Ente im Wasser mit Sprechblasen ohne Inhalt (S. 33); weitere kleinere Zeichnungen (S. 38, 40, 41, 54, 55)

Sprache:  Deutsch, Französisch
Bemerkungen: 

 

  • enthält Eintragungen fremder Hand (S. 12) und kleine Geschichten von Amina Handke (S. 36, 37, 38, 39, 53)
  • Seite 35 ist leer
  • viele Einträge in Stenografiekürzeln (z.B.: S. 5, 8, 9, 13, 45-48, 51, 52)
  • ganze Passagen (v.a. Zitate) sind in französischer Sprache (z.B: S. 7, 30, 46, 48, 50)
  • im Original wurden von Peter Handke vier Blätter bis auf einen schmalen Streifen herausgerissen, die für das Digitalisat nicht mitgescannt wurden; das Original umfasst somit genaugenommen 64 Seiten