Das Steinhuder Meer (Kali)

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Im Vorlassbestand Peter Handkes am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek finden sich Materialien, die die reale Landschaft zeigen, von der sich der Autor zu seiner »Vorwintergeschichte« Kali (2007) inspirieren ließ. Darunter die Kopie einer Broschüre zum einhundertjährigen Jubiläum des Schachtes Sigmundshall aus dem Jahr 1998, der heute eine Niederlassung des börsennotierten Konzerns K+S (Kali und Salz) ist. Das Werk Sigmundshall liegt nahe des Ortes Bokeloh am Rande des Steinhuder Meeres (der größten Binnenwasserfläche Deutschlands) nordwestlich von Hannover. Nicht Salz wird hier abgebaut, sondern Kali und Magnesium, das hauptsächlich in der Verwendung von Düngern und in der Produktion von Farben Anwendung findet. Dominierend in der Landschaft ist (ganz wie in Handkes Buch) eine schneeweiße Abraumhalde, die von der lokalen Bevölkerung als »Kalimandscharo« bezeichnet wird. In der angesprochenen Broschüre ist dieser Berg in seiner Zusammensetzung, Ausdehnung und Form beschrieben – ein Text, in den hinein Handke zahlreiche Anstreichungen gemacht hat.

Auch eine Farbabbildung des Abraumberges (ausgeschnitten aus einer Quelle, die sich bislang nicht eruieren ließ) liegt den Vorlassmaterialen bei (Abb. 1). Die Beschreibung, die Handke von dem Berg gibt, kommt diesem Bild sehr nahe: »Endlich kommt wieder der Salzrücken in den Blick. Fast reinweiß, obwohl inzwischen nah, steigt er mächtig aus dem Flachland, und wirkt dabei ganz und gar nicht aufgehäuft, vielmehr von oben, aus dem Luftraum, herabgerieselt, und nicht erst im letzten Jahrhundert, sondern?: in unvordenklichen Zeiten.« (KEV 76)

Fotos, die Handke vermutlich selbst gemacht hat (Abb. 2, 3, 4), zeigen Steganlagen am Steinhuder Meer, Arbeiterhäuser in Bokeloh (im Text ist davon die Rede, dass diese »kargen Bauten« »beinah herrschaftliche Gärten« haben – vgl. dazu Abb. 5 aus der Broschüre) sowie ein Schiff, das als unmittelbare Vorlage für jenes gedient haben könnte, mit dem die Musikerin zum Salzberg kommt. In vielen Details des Buches (darunter die Wege, die die Musikerin dort nimmt, und die Schächte, die sie dort – vergittert und unvergittert – findet) hat sich Handke von seiner Vorlage leiten lassen. Das Innencover der Broschüre zeigt den Salzberg und seine Umgebung von oben (Abb. 6), im Text finden sich zahlreiche Abbildungen von Gerätschaften, darunter auch der in Kali als »besonders gewaltig« (KEV 117) beschriebene »Grubenlüfter« (Abb. 7). Auch Bildvorlagen für die »kathedralenweite Aushöhlung der Werkstatt«, die Handke beschreibt, indem er in sie die Jausentische der Bergarbeiter hineinverlegt (vgl. KEV 119), die »Untergrundbahn« und den zentralen »Schaltraum« (beides KEV 120) finden sich in der Broschüre, wobei Handke die Schaltzentrale, die eigentlich oberirdisch gelegen ist, nach unten verlegt und sie als »die Kanzel eines Raumschiffes« (ebd.) beschreibt (Abb. 8-10).

Bedeutsam sind die kammerartigen Aushöhlungen im Salz, in die hinein Handke die beiden Liebenden stellt. Eine entsprechende Abbildung hat der Autor aus der Broschüre herausgeschnitten (Abb. 11). Auch auf anderen Bildern ist zu sehen, dass diese Räume geradezu aus dem Kalisalz herausgeschnitten sind. Ein Foto der Broschüre zeigt, wie die Arbeiter beim Teufen (d.h. in die Tiefe gehen – ein Wort, das Handke in der Broschüre mehrmals dick unterstreicht) den sogenannten Gipshut erreichen (Abb. 12). Der Salzherr in Kali erklärt, was es mit ihm auf sich hat: Der Gipshut schließt den Salzstock nach oben hin ab und garantiert erst so dessen Vorhandensein. Wäre von oben Wasser eingedrungen, würden die Salzflöze schon lange ausgewaschen und die Stollen eingestürzt sein (vgl. KEV 124). Gleich im Anschluss an diese geologisch und tektonisch völlig korrekte Erklärung, sie sich so auch in der Broschüre findet, hebt der Leiter des Bergwerkes von den Realien ab und kommt auf einen Mythos zu sprechen, der sich unten in der Tiefe findet und den ganzen Text von Kali grundiert. Der Bau des unterirdischen Werkes stelle so etwas wie einen verkehrten Turmbau von Babel (vgl. KEV 124) dar. Damit ist Handke bei sich selbst und beim Schreiben angekommen. (kk)

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